Kapitalismus für Anfänger
Wie Südkorea die Flüchtlinge aus dem Norden empfängt von Martine Bulard
Wir können Ihnen die Adresse nicht geben, sie ist geheim. Aber am Busbahnhof in Anseong wird Sie ein Taxi abholen. Falls Sie mit dem Auto kommen, was besser wäre, wird man Ihnen den Weg zeigen.“ Vom Zentrum Seouls aus bräuchte man etwas mehr als eine Stunde, fügt die Stimme hinzu. Wir fahren also im Auto nach Hanawon, dem Auffanglager für Flüchtlinge aus Nordkorea. Aber die Autobahn ist stärker als unsere alte Karre. Sie bleibt liegen, es riecht nach verbranntem Gummi. Nach erfolglosen Versuchen, ein Taxi zu bekommen, lässt uns die Lagerverwaltung abholen.
Froh, der gnadenlosen Sonne zu entkommen, steigen wir in einen klimatisierten Wagen mit Vierradantrieb. Frau Shin Sun Hee, eine junge elegante Dame, beweist Mitgefühl: Sie hat uns eine Flasche Wasser mitgebracht. Und sie nutzt die Gelegenheit, um uns an einige Verhaltensregeln zu erinnern: Ja, nach der allgemeinen Vorstellung auf Englisch dürften wir Fragen stellen. Nein, mit den Flüchtlingen dürften wir nicht sprechen. „Darauf habe ich Sie übrigens schon hingewiesen.“ Mit aggressivem Unterton: Sie kenne die Journalisten! Schließlich und überhaupt, keine Fotos, weder von den Leuten noch von den Örtlichkeiten.
Mit diesen Empfehlungen sind wir nach der Fahrt über Dörfer, Wald und Reisfelder auch schon angelangt. Doppelte Schranke, die Pässe am Eingang abgegeben, befinden wir uns in dieser seltsamen Schule, in der die Migranten aus Nordkorea freien Markt und Wettbewerb auf südkoreanische Art lernen. In den Backsteingebäude sind eine Schule für Erwachsene und eine andere für Kinder sowie Schlafräume untergebracht.
Die Umgebung ist idyllisch, Rasen und Blümchen, trotzdem hat man den Eindruck eines sehr großen Internats. Es ist adrett und sauber, aber völlig abgeschlossen. Das Gefühl wird verstärkt durch die Einheitskleidung für Frauen wie Männer, marineblau mit neongelben Aufschlägen, nur die Kinder brauchen keine Uniform – und durch die Gitterzäune mit Stacheldraht oben drauf. „Der ist zum Schutz gegen die Schleuser“, kommentiert Frau Shin unsere Blicke, die etwas zu lange am Zaun haften. Die fordern nach dem Grenzübertritt ihren Lohn ein, wenn es sein muss, mit Gewalt.
Herr Seung Hun Jung, der Lagerdirektor, empfängt uns mit großer Liebenswürdigkeit. Frau Shins Absätze klacken auf dem Pflaster. Auf geht’s zur Powerpoint-Präsentation. Dokumente werden uns keine ausgehändigt, das Programm wie der Ort sind topsecret. Wir dürfen Notizen machen, nichts weiter.
Die Einwanderer aus dem Norden werden hier „Überläufer“ genannt – der Name klingt nach Kaltem Krieg. Bevor sie Bürger von Südkorea werden können, müssen sie drei Monate an diesem Ort verbringen und dürfen keine Besuche empfangen, nicht einmal, wenn sie Familie im Land haben. Sie haben auch nicht das Recht, das Lager zu verlassen, es sein denn als (überwachte) Gruppe. Lediglich Anrufe von Telefonzellen sind gestattet. Mobiltelefone gibt es selbstverständlich nicht.
2 000 bis 3 000 Personen durchlaufen jährlich diese Station, doch zuvor werden sie einer dreiwöchigen Befragung durch den Geheimdienst (NIS) unterzogen; um sicherzustellen, dass kein Spion unter ihnen ist und dass wirklich alle aus der Demokratischen Volksrepublik Korea stammen. Manche Sino-Koreaner nutzen die Gelegenheit und versuchen, China zu verlassen, erläutert Herr Seung. Sie werden umgehend zurückgeschickt. 2012 lebten offiziell 25 000 Menschen aus Nordkorea im Süden.
Sieben von zehn „Überläufern“ sind Frauen, manche mit Kindern, denn für sie ist es „viel leichter, der Überwachung zu entgehen. Die Männer sind häufig an das Büro oder die Fabrik gebunden, ihre Bewegungen werden mehr kontrolliert“, erklärt der Direktor. Die Frauen jedenfalls wagen den Sprung; sie werden unterstützt von klandestinen religiösen Gruppen, NGOs oder von Schleusern, die entsprechend bezahlt werden. Die Grenze zwischen den beiden Landesteilen zu überqueren, kommt nicht infrage: Der vier Kilometer breite Landstreifen, der die Halbinsel unterteilt, die absurderweise so genannte Demilitarisierte Zone, beherbergt eine Unzahl nord- und südkoreanischer Soldaten, außerdem US-amerikanisches Militär. Am einfachsten ist es, den Tumen, den Grenzfluss zwischen Nordkorea und China, zu überqueren.1 Manche Flüchtlinge bleiben in den grenznahen Dörfern; andere fahren quer durch China nach Laos oder Thailand und versuchen so nach Südkorea zu gelangen. Der Fluchtweg ist unsicher und gefährlich. In den letzten zwei Jahren hat sich die Zahl der Flüchtlinge beinahe halbiert. Das liegt an der stärkeren Grenzkontrolle durch die chinesischen Behörden und, was weit weniger ins Gewicht fällt, den verbesserten Lebensumständen der Einwohner von Pjöngjang.
In der ersten Etappe des Aufenthalts werden die Neuankömmlinge psychologischen Tests unterzogen und „gesundheitlich und psychologisch aufgebaut“. Die allermeisten kommen über China, wo sie „unter fürchterlichen Bedingungen lebten“, wie Frau Seung sagt. Manche Frauen sind vergewaltigt worden, auch wenn wenige darüber sprechen. Auch die Befragungen durch den Geheimdienst nach der Ankunft sind offenkundig kein Vergnügen, und selbst der Schulleiter der Kinder, ein linientreuer und prinzipienfester Mann, zählt sie zu den Traumatisierungen, die seine kleinen Schützlinge erfahren haben. Psychiater, Zahnärzte, Ärzte stehen in modernen Praxen bereit. Das Elend des Exils wird hier zumindest zum Teil wiedergutgemacht.
Danach wendet man sich ernsthaften Dingen zu: Dem Erlernen der Werte der Republik Korea (Südkorea) in 24 Stunden. Es gilt die Köpfe „neu zu formatieren“. Das Programm: Kapitalismus, Unternehmertum, Staatsbürgerschaft. Den Anfang machen die Tugenden der Marktwirtschaft, etwa 10 Stunden werden dafür veranschlagt. „Wir erörtern sowohl Grundfragen als auch praktische Aspekte“, sagt der Direktor. Auf die Frage, welche Punkte genau unterrichtet werden, fasst er leicht gereizt zusammen: „Wir müssen unternehmerische Kultur vermitteln, die Rolle des privaten Unternehmertums verständlich machen, die Bedeutung finanzieller Dinge. So was eben.“
Investition, Profit, Geldanlagen, Arbeitslosigkeit, Bedeutung der Jaebeol?2 Unseren Bitten nach Präzisierung weicht der Direktor aus und versichert, es sei ohnehin „nicht sicher, ob sie [die Schüler] die theoretischen Grundlagen, die gelehrt werden, tatsächlich verstehen“. Und „für die, die aus China kommen und sich dort mehrere Monate oder sogar mehrere Jahre aufgehalten haben, sind Privatwirtschaft und Wettbewerb nichts Neues mehr“. Zudem haben auch viele von denen, die direkt von jenseits der Grenze kommen, zu Hause eine florierende Schattenwirtschaft erlebt. Trotzdem ist der Unterricht seit 1999, seit der Eröffnung der ersten Schule, offenbar unverändert geblieben. Die Lehrer gehen mit den Schülern auf den Markt, damit sie lernen, wie man einkauft, eine Kreditkarte benutzt und mit seinem Geld auskommt.
Ihnen müsse beigebracht werden, so der Direktor, „wie man sich in einem Unternehmen verhält“, sie müssen einen Begriff von der Organisation der Arbeit bekommen: „Sie wissen nicht, wie man eine bessere Arbeit sucht.“ Einige Nordkoreaner behaupten, man habe ihnen geraten, nicht an Demonstrationen teilzunehmen. Herr Seung beteuert, dass „im Unterricht über Arbeitsrecht genauso gesprochen wird wie über die Rolle der Gewerkschaften“. Und am Ende fasst er zusammen: „Man lehrt sie den Kapitalismus.“
Der Unterricht beinhaltet auch die „wahre Geschichte der Koreanischen Halbinsel“, die der anderen „wahren Geschichte der Koreanischen Halbinsel“, der nach Kim Il Sung, durchaus ebenbürtig ist: Dort die Bösen, hier die Guten. „Wir zeigen ihnen, was Demokratie ist. Wir sagen ihnen: ‚Sie befinden sich jetzt in Südkorea, Sie müssen die Rechtmäßigkeit des Staats Südkorea anerkennen.‘ Denn sie haben in der Überzeugung gelebt, wir seien nicht die wahre koreanische Nation.“
Sind die Köpfe erst einmal zurechtgerückt, wendet man sich praktischen Vorbereitungen auf das Berufsleben zu: Unterricht im Gebrauch von elektrischen Maschinen und in Schweißtechniken für die Männer. Die Frauen lernen Büroarbeit, Schneidern und Kochen. Diese Aufteilung wird völlig selbstverständlich vorgenommen. Auf jeden Fall, sagt Mikyong, Reinigungskraft in einem großen Hotel von Seoul: „Wir Nordkoreaner kriegen nur Arbeit, die die Einheimischen ablehnen.“ Es ist 3-d-Arbeit: „dirty, difficult, dangerous“. Mikyong hält sich noch für privilegiert: „Der Arbeitstag ist lang, aber es ist ungefährlich.“ An Hanawon hat sie keine schlechten Erinnerungen. Als sie vor fünf Jahren dort eintraf, war sie „am Ende, abgemagert und ausgelaugt“. Aber heute noch klingen ihr „das Wecken um 6 Uhr 30 und der Morgenappell wie bei der Armee“ in den Ohren.
In Hanawon zeigt uns Frau Shin pflichtbewusst die Räumlichkeiten, die zu dieser Stunde leer sind: der Computerraum, die Klassenzimmer und der Gebetsraum für die Protestanten, in dem jeden Samstag Gottesdienst gehalten wird. Noch jetzt im Mai prangt dort ein üppig dekorierter Weihnachtsbaum vor naiv gepinselten religiösen Sprüchen. Die Hälfte der Insassen komme zum Gottesdienst, und „viele erfahren hier erst, was Religion überhaupt ist“, erklärt Frau Shin. Wenn die Flüchtlinge Hanawon verlassen, werden sie oft von christlichen NGOs betreut und von den in Südkorea einflussreichen Kirchen untergebracht. Auf der anderen Seite des Gangs liegt der Saal mit einem buddhistischen Altar: „Der Ausgewogenheit wegen, aber er wird viel weniger besucht.“
Doch die Schule dient nicht nur der Säuberung des Geistes und dem Eintrichtern von Neuem, sie bietet auch konkrete Hilfe: Man kann den Führerschein machen und erhält das Geld für die Kaution auf eine (angesichts der bewilligten Summe sehr kleine) Wohnung, dazu 7 Millionen Won (knapp 5 000 Euro), von denen 4 Millionen sofort ausgehändigt werden, der Rest drei Monate später. Diese Summe ist nicht unbedeutend. Laut Frau Shin kommt es häufig vor, dass die Schleuser, die den Flüchtlingen geholfen haben, dieses Geld sofort nach deren Entlassung an sich nehmen.
Einmal draußen, lernen die Flüchtlinge schnell, wie der Kapitalismus in der Praxis funktioniert. Bei den Subunternehmen von Subunternehmen verrichten sie die schmutzigen Jobs, sie arbeiten auf Baustellen, in Chemiefabriken oder im Service bei der Halbleiterindustrie oder in der Automobilbranche. Wie Ang Jong Seung, den ich bei Kim Young Chun kennengelernt habe. Der eine arbeitet bei einem Subunternehmer für Kia, der Autositze herstellt. Der andere ist leitender Angestellter einer Softwarefirma, deren Namen er verschweigt. Sie hätten wohl nichts miteinander zu tun, wäre da nicht Hanawon gewesen.
Seit den zwölf Jahren, die sie in Seoul leben, sehen sie sich zwei- oder dreimal im Jahr. Das Gesicht von Ang Jong Seung ist von Müdigkeit gezeichnet, während Kim Young Chun die Uniform des perfekten südkoreanischen Angestellten trägt: gut sitzender, marineblauer Anzug, weißes Hemd, Krawatte. „Jong Seung hat mir geholfen, als wir ankamen“, erzählt er mit einem Lächeln. „Ich war enttäuscht. Die Schule behandelte uns wie Zurückgebliebene. Das, was man uns beigebracht hat, war Ideologie.“ Danach musste man sich irgendwie durchschlagen. „Sie hätten besser daran getan, unsere Fähigkeiten zu evaluieren und uns Orientierungshilfen zu geben.“ Ang Jong Seung teilt diese Auffassung nicht: In Hanawon hat er seinen Führerschein gemacht. Zwar besitzt er kein Auto („ich verdiene nicht genug“), aber er findet das gut.
Keiner von beiden erinnert sich gern an die Vergangenheit. Nicht an das Leben in der Demokratischen Volksrepublik Korea, wo sie ihre Familie zurückgelassen haben. Nicht an die leidvollen ersten Schritte in der Republik Korea. Herr Kim, dessen Ingenieursdiplom nicht anerkannt wurde, musste wieder studieren, arbeiten und nochmals arbeiten. Beide stimmen darin überein, dass hier in Südkorea das Leben sehr hart ist, härter, als sie es sich vorgestellt hätten. Solidarität, die es jenseits des 38. Breitengrads gab, sei nicht vorhanden. Und die „südkoreanischen Brüder“ behandelten sie mit Verachtung, wenn nicht sogar Misstrauen, insbesondere dann, wenn es Zwischenfälle mit Pjöngjang gibt.
Manche kehren sogar zurück. So wie der Fischer, der sich mit dem Boot seines Arbeitgebers wieder in den Norden geschlagen hat, seine Geschichte wurde ausführlich kommentiert. Das ist die große Ausnahme, aber vor einem Jahrzehnt war dergleichen noch nicht einmal vorstellbar. „Die Politik gegenüber den Überläufern muss sich mehr auf die Bedürfnisse der Nordkoreaner einstellen“, schreibt die Korean Times.3 Am selben Tag, an dem der Artikel erscheint, empfängt uns der Sprecher des Vereinigungsministeriums, Kim Hyung Suk: „Man wird mir ja nicht weismachen wollen, dass man dort unten besser lebt!“ Dort unten, das ist für ihn das „Reich des Bösen“, mit dem man in Dialog treten kann, aber eben nur bedingt.
Ang Jong Seung und Kim Young Chun bedauern ihren Weggang nicht. Aber sagen, sie seien enttäuscht von ihrer Aufnahme hier: „Wir werden immer Überläufer bleiben.“
Aus dem Französischen von Dirk Höfer