13.09.2013

Mitten in Dhaka

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Mitten in Dhaka

Beobachtungen im größten Armenviertel von Bangladesch von Elisa T. Bertuzzo

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Man muss den Ort wechseln, am besten mehrmals, um über Karail Basti zu schreiben. Man muss die Vertrautheit des Schreibtisches verlassen, die Selbstverständlichkeit der eigenen Routinen vermissen. Wer nicht dort ist, nicht tagtäglich über seine katcha rasta geht – die Fußwege, die nach und nach in Gemeinschaftsarbeit gepflastert und in die Topografie eingekerbt werden –, tut sich schwer mit dem Schreiben über das „Wohnen im Slum“. Denn ein Problem des Berichtens über Städte liegt im „Pop-Faktor“ der Städte selbst, weshalb die Fiktionalisierung des Städtischen, die in Romanen, Filmen und Comics wohl erlaubt und gewollt ist, immer häufiger auch in die analytische Betrachtung städtischer Phänomene einfließt.

Dieser Hang zur Fiktionalisierung entsteht zum einen durch den Publikationsdruck, der jede Recherche beeinträchtigt, zum anderen durch die in Zeiten von smart cities, shadow cities, open cities und allerlei modischen Urbanismen verbreitete Tendenz, räumliche Prozesse ahistorisch und somit auch apolitisch zu behandeln. Im anderen Extrem lauert eine übertriebene Verwissenschaftlichung, die lebendigen und offenen sozialen Prozessen ihre Netzwerktheorien und Informalitätskonzepte überstülpt. Beides hat negative Auswirkungen: Einerseits werden Städte und ihre Herausforderungen – eher pittoresk dargestellt denn kritisch analysiert – segmentiert verstanden; andererseits kommt der gelebte Alltag der Bevölkerung zum Verstummen, wenn er, losgelöst von seinen materiellen Bedingungen und lokalen Gegebenheiten, in abstrakte Denkgebäude gepresst wird. So oder so bleibt das auf der Strecke, was Forschung doch anstreben sollte: eine Verbesserung der Lebensverhältnisse aufgrund neu gewonnener Erkenntnisse oder wenigstens Verständnis für die Komplexität des Sozialen.

In der Landessprache Bangladeschs, Bengali, bedeutet Basti (ausgesprochen bosti) Siedlung, doch allgemein werden Orte wie Karail als Slums1 bezeichnet und so direkt mit Armut, degradierter Umwelt und prekären Lebensbedingungen gleichgesetzt. Nachdem mehrere andere Basti geräumt wurden, stellt Karail mit seinen 190 000 Quadratmetern die größte Armensiedlung in Dhakas Innenstadt dar. Es ist auch eine der ältesten: Die langsame Besetzung der Halbinsel am Banani Lake begann vor gut zwanzig Jahren, inzwischen sind die Kinder der ersten „Siedler“ erwachsen und wohnen immer noch hier.

Als ich mir dort 2009 zum ersten Mal ein Zimmer nahm, suchte ich nach Antworten auf kleine und große Fragen. Wie hatten die in Karail Basti lebenden ländlichen Migranten diesen Parallelkosmos mitten in der Stadt aufgebaut? Wie kam es, dass die Siedlung ohne jegliche stadtplanerische Intervention nicht nur mit Wasser und Strom versorgt, sondern auch von eigenen Straßenfegern in Ordnung gehalten wurde? Wie weit reicht die Selbstversorgung? Wo liegen die Potenziale, aber auch die Grenzen einer solchen „informellen“ Siedlungsentwicklung?

Karail Basti ist ein Liebling des Fach- und Pop-Publikums: Mal taucht es als „case study“ eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts2 auf, mal als „arrival city“ in Doug Saunders’ gleichnamigem Bestseller; mal bildet es die Kulisse bunter Youtube-Videos, die Touristen und Aktivisten ins Netz stellen, mal ist es das Aktionsfeld von Architekturstudierenden aus aller Welt. Dabei sammelt sich widersprüchliches Halbwissen an, das sich auf die Angaben lokaler NGOs und Forschungsinstitute stützt; so sollen beispielsweise in Karail je nach Quelle mal 20 000, mal 150 000 Menschen leben.3 An dramatischen Formulierungen wird nicht gespart: Man liest von „mega challenge“, von „dense and noisy squalor“, gar von einer „platform of hope“. Das eigentliche Drama findet indessen täglich statt: In den vergangenen Jahren sind mehrmals Teile Karails von offiziell beauftragten Räumkommandos zerstört und von den Bewohnern mühsam wiederaufgebaut worden.4

Die in Wissenschaft und Medien dargebotenen Einblicke, ob (schau-)lustig oder mitfühlend, ob pathetisch oder sachlich-informativ, sind jedoch Momentaufnahmen, die das „Slumwesen“ von außen beurteilen. Slums werden nicht als soziale Räume betrachtet, die aufgrund bestimmter Produktions- und Konsumbedingungen entstehen – und somit als weltweite Manifestation einer grundsätzlich falschen Ressourcenverteilung –, sondern lediglich als physische Räume, die es „aufzuwerten“ gelte.5 Eine solche Sicht verwandelt die historisch erklärbaren Armensiedlungen in unvermeidbare „Phänomene“, die man höchstens reglementieren und besser verwalten kann. Hinter dieser verbreiteten Haltung verbirgt sich nichts anderes als die Scheu, extreme Zustände und Vorkommnisse als solche zu beschreiben; sie grenzt an Zynismus, wenn sie die eigentlichen (Hinter-)Gründe von ökologischen Katastrophen, Epidemien oder sozialen Unruhen verschweigt.

Die Netzwerke von Karail Basti

Lange fiel mir das Schreiben über Karail schwer. Auf der einen Seite konnte ich aufgrund der wiederholten Besuche unmöglich „endgültige“ Aussagen über eine Siedlung treffen, über die alle Bescheid zu wissen schienen. Auf der anderen Seite mündete mein eigenes sprunghaftes Eintauchen in die Welt von Karail jedes Mal lediglich in einen neuen Zwischenstand, aus dem sich der Verlauf der sozialen Veränderungen dort kaum ablesen ließ. Heute werde ich mit dem Problem besser fertig, und zwar durch eine diachronische Art des Schreibens.

Bin ich nicht in Karail Basti, wo ein Stromausfall oder die Kinder aus der Nachbarschaft jederzeit den angefangenen Satz unterbrechen können, so weiß ich mein Schreiben selbst künstlich zu durchbrechen. Immer wieder Abstand nehmen, bloß nicht ins Theoretisieren und Definieren verfallen. Losziehen, raus aus dem Büro. Berlin, Oranienplatz. Die Unbequemlichkeit des Ohne-festes-Zuhause-Seins erneut spüren. Verlustängste an sich heranlassen: Die Angst, den Faden zu verlieren oder das kleine Zimmer mit den Wellblechwänden bei der Rückkehr nicht mehr wiederzufinden. Das leichte Tuch über die Schulter werfen – dieselbe Bewegung, mit der die Frauen ihre lange orna6 umlegen. Schließlich tauche ich dank des Körpergedächtnisses wieder in Karail ein.

Zum Beispiel in das morgendliche Warten auf die Wasserjungs. Es ist 2009, sechs Uhr morgens. Wenn alle aufstehen und das Frühstück vorbereitet wird, sind die Plastikkanister meistens so gut wie leer. Also trinkt man zu dem scharfen Masala aus Kartoffeln und Gemüse kaum etwas – und die Männer bestellen sich später in einer Bude am Straßenrand ein Glas Tee. Vor allem in den heißen Sommermonaten ist noch nicht mal Wasser für den Abwasch übrig, dann stapelt sich auf dem Boden vor der Hütte das benutzte Geschirr. Die Frage, ob und wann und wie viel Wasser zur Verfügung steht, bestimmt den Alltag der Frauen in Karail Basti – vom Abspülen bis zum Gießen der Gemüse- und Gewürzpflanzen, vom Duschen bis zum Waschen der kleineren Kinder. Deswegen ist die Zeit vor der Wasserlieferung, erst recht wenn sie verspätet kommt, zugleich von Ungeduld und einer ebenso willkommenen wie seltenen Untätigkeit geprägt. Nachbarinnen besuchen einander oder tauschen sich in den Gängen zwischen den Hütten aus. Sie reden über die Kinder, über Geburten und Todesfälle, über die steigenden Lebensmittelpreise und die Verwandten im Dorf. Oft schweigen sie auch. Alle teilen die gleiche Infrastruktur: Abgesehen von den Kochstellen und Nasszellen auch die Wasserversorgung, für die jedoch individuell am Ende des Monats pauschal bezahlt wird.

Endlich kommen die Jungs. Sie schließen einen herumliegenden Gartenschlauch, die gemeinsame „Wasserleitung“, an einen anderen Schlauch an, der von weither zu kommen scheint. Das Wasser fließt. Frauen und Mädchen speichern ihre Ration für den Tag, Kanister um Kanister. Es geht geordnet zu, das ganze Verfahren dauert nicht länger als fünfzehn Minuten: Auf mehr haben sie keinen Anspruch, mehr Kanister könnten sie auch in ihren kleinen Häusern gar nicht unterbringen. Danach beginnen die Hausarbeiten. Als Erstes wird das Wasser abgekocht, damit es gefahrlos getrunken werden kann.

Im Jahr 2013 gehört das Warten und das Anlegen von Wasservorräten der Vergangenheit an. Karail feiert den wohl größten Erfolg in seiner mehr als zwanzigjährigen Geschichte: Die Siedlung hat nach jahrelangen hartnäckigen Verhandlungen nun endlich eine offizielle Wasserversorgung.7 Die Wasserbehörde8 hat schließlich eingesehen, dass es ihre Aufgabe ist, Wasser an alle Bewohner Dhakas zu liefern, unabhängig von Einkommen und Adresse – und unabhängig davon, dass Basti als „illegal“ gelten. Vor dieser Entscheidung waren in Karail die meisten Haushalte von inoffiziellen Versorgern abhängig, die in Absprache mit den Verwaltern benachbarter Wohngebäude oder sogar Angestellten der Wasserbehörde – gegen Bezahlung, versteht sich – das reguläre Netz anzapften und den Basti-Bewohnern überteuertes Wasser anboten.9 Das hat jetzt ein Ende, die Familien müssen sich morgens keine Gedanken mehr über das Wasser machen.

Der Strom allerdings wird nach wie vor „inoffiziell“ über ein dichtes Kabelnetz geleitet. In jeder Hütte hängt eine Glühbirne an der Decke, in den meisten außerdem ein Ventilator für die heißen Sommer und die stickigen Monsunmonate; einige haben einen Fernseher. Irgendwo erkennt das geübte Auge einen Zähler, den die Stromversorger, die selbst auch in Karail wohnen, monatlich kontrollieren.

Nach einer Weile weiß man, dass das Vorhandensein eines Stromzählers zwischen benachbarten Hütten ein Indiz dafür ist, dass deren Bewohner denselben Vermieter haben. Dieser bekommt zwar von den Stromversorgern eine Monatsabrechnung, die sich nach dem Gesamtverbrauch richtet, doch von seinen Mietern verlangt er für jede einzelne Stromquelle, ob Glühbirne, Ventilator oder Fernseher, einen Pauschalbetrag.

Strom ist nicht nur für die privaten Haushalte unverzichtbar, sondern auch für die knapp 1 300 Läden in Karail10 wie Lebensmittelgeschäfte, Schneidereien, Recycling- und Eisenwerkstätten, Teebuden und improvisierte Videoshops. Doch weder die Bewohner noch die Händler können sich darauf verlassen, dass der Strom auch tatsächlich fließt. Da der Bedarf im Industrie- und Dienstleistungssektor die Kapazitäten der städtischen Stromversorgung bei Weitem übersteigt, sind Stromausfälle in Dhakas Wohngebieten an der Tagesordnung; am längsten und häufigsten kommen sie in den Basti vor. Dagegen haben sich die Händler abgesichert, die im überdachten Teil des Bou Bazar („Markt der Braut“) wie auf Dhakas besten Großmärkten Gemüse, Fisch und Fleisch feilbieten: Sie beziehen ihren Strom aus verschiedenen Netzen der umgebenden Ortschaften Mohammadpur, Gulshan und Banani. So gibt es, wann immer eines davon ausfällt, sofort Ersatz.

Bin ich indessen in Karail Basti, finde mich im labyrinthischen Straßensystem wieder zurecht und habe mit Bekannten und Freunden die wichtigsten Neuigkeiten ausgetauscht, dann tritt der gelebte und nicht mehr nur der erinnerte Alltag in den Vordergrund. Bei Gesprächen und Begehungen wird vor allem der Fortschritt verschiedener kollektiv vorangetriebener „Projekte“ diskutiert.

Um von der Halbinsel aus die südlich verlaufende Hauptstraße und das östlich gelegene Wohn- und Businessviertel Gulshan besser erreichen zu können, haben die Bewohner zum Beispiel Anlegestellen für Kanuboote gebaut. Diese werden alljährlich vor dem Monsun mit gemeinschaftlichen Geldern wieder befestigt, damit sie dem Dauerregen und möglichen Überflutungen standhalten. Die Anlegestellen markieren den Start- und Endpunkt des Tages für Tausende, die morgens auf dem Weg zur Schule oder zu ihrer Arbeit in den Häusern der Mittelschicht, in den Bürogebäuden und in den Fabriken im Osten der Stadt das Basti verlassen, um abends oder nachts zurückzukehren. Auch haben ganze Nachbarschaften behelfsmäßige Abwasserkanäle angelegt, die im Zusammenhang mit der legalisierten Wasserversorgung nun ausgebaut werden sollen; nicht selten sind Toiletten und Nasszellen, sofern nicht von NGOs gesponsert, eine gemeinsame Investition benachbarter Familien, die sie auch instand halten.

Außerdem gibt es unzählige Spargruppen und shomiti („Komitees“), deren Absprachen, Entscheidungen und Abfindungen für Außenstehende schwer zu durchschauen sind. Viele Stadtmigranten bilden Spargruppen, weil die meisten weder genug Geld besitzen noch eine offizielle Adresse angeben können, um allein ein Bankkonto zu eröffnen. Indem sie ihre Ersparnisse zusammenlegen, kann eine ausreichende Summe aufgetrieben werden; und in einer Gruppe findet sich immer jemand, der über eine feste Anschrift im Dorf oder bei Verwandten in Dhaka verfügt.

Eine Besonderheit der Spargruppen in Karail ist, dass ihre Mitglieder aus derselben Region stammen müssen. Damit wird sichergestellt, dass keiner von ihnen das gemeinsame Konto missbrauchen kann: In der dorfgebundenen, auf lokalen Netzwerken und sozialer Kontrolle beruhenden Gesellschaft Bangladeschs würde jemand, der mit dem Geld abhaut, schnell gefunden werden.

Die „Komitees“ wiederum widmen sich verschiedensten Anliegen, von der Entwicklung der lokalen Basare über die Organisation von Kulturveranstaltungen bis hin zum Spendensammeln für die dreizehn Moscheen Karails; von der Anstellung von Straßenfegern bis zur Instandsetzung der Fußwege nach dem Monsun oder nach starken Stürmen und vorübergehenden Überschwemmungen.

Gewirr aus Schläuchen und Leitungen am Boden, dicke Kabelbündel am Himmel über den Wellblechdächern: In diesen Bildern materialisiert sich die Metapher eines Gewebes oder Netzes, die viele Aspekte des Alltags in Karail Basti beschreibt. Dessen Bewohner haben es im Laufe der Jahre vor dem Hintergrund einer doppelten Isolation entwickelt.

Erstens der geografischen: Der See bildet südlich und östlich eine natürliche Grenze; und ins benachbarte Banani-Gulshan, das städtische Gefüge im Norden und Westen, führen nur einzelne Übergänge. Die Mobilität blieb davon zwar unbeeinträchtigt, aber es kam zu einer starken Abgrenzung der Siedlung zu ihrer Umgebung, die nicht nur mit dem enormen Kontrast zwischen den Wellblechbaracken und den benachbarten Beton-und-Glas-Bauten zu tun hatte, sondern auch mit den eigenen Rhythmen, Regeln und Strukturen, die sich im Basti herausgebildet haben. Wer auf den beiden von Norden und Westen kommenden Hauptstraßen an der Siedlung vorbeifährt, fühlt sich mit einer unsichtbaren Grenze konfrontiert: Hier das heterogene, fragmentierte Dhaka, da der ebenso chaotische, aber durchorganisierte Kosmos von Karail.

Zweitens haben die Planungsbehörden das Basti jahrelang sich selbst überlassen. Maßnahmen zur Integration in das städtische Gesamtgefüge wurden nicht ergriffen, wobei auch die mehrfachen Versuche, Karail zu räumen, wirkungslos blieben. Angesichts der chronischen Vernachlässigung durch den Staat könnten die privaten sowie kollektiven Initiativen, die in Karail wenigstens eine Art Grundversorgung sicherstellen, als positiv bewertet werden. Doch es reicht immer nur für partielle und unterfinanzierte Notlösungen. In den meisten Fällen müssen sich jeweils sechs bis zehn Familien eine gemeinsame Kochstelle teilen, die an freiliegende Gasleitungen angeschlossen ist; vor den Nasszellen, die ebenfalls gemeinsam benutzt werden müssen, bilden sich morgens Schlangen. Die Abwasserkanäle sind nur flach ausgehoben und verlaufen unter freiem Himmel, entlang den Häusern.

Von Dhakas innerstädtischen Armensiedlungen haben laut UN-Habitat etwa 60 Prozent keine Abwasserkanäle und Entwässerungsanlagen, obwohl sie einer höheren Überschwemmungsgefahr ausgesetzt sind als die Behausungen auf „legalem“ Land. Da bildet Karail keine Ausnahme. Luft- und Wasserverschmutzung sind nicht die einzige zwangsläufige Folge: Im Banani Lake, der die ungefilterten Abwässer und einen Großteil des Mülls der Siedlung (sowie der umliegenden Wohnviertel) aufnimmt, verenden die Fische, stattdessen gedeihen Algen und Wasserpflanzen.

Diese ökologische Krise wird in den Medien immer häufiger thematisiert, wodurch sich der Druck auf die Behörden erhöht hat. Die City Corporation reagiert seit 2011 mit dem regelmäßigen Einsatz von Chemikalien, die den See reinigen sollen. Freilich handelt es sich dabei lediglich um lindernde Maßnahmen, die eher der kurzfristigen Verschönerung als dem Wohlergehen der Menschen dienen: Seit einigen Jahren brechen vermehrt Seuchen aus, die durch verunreinigtes Wasser übertragen werden, vor allem Typhus und Denguefieber. Und zwar nicht nur in den Basti.

Außerdem ist Eigeninitiative – das vergisst man gern im Diskurs über Informalität – immer mit viel höheren Kosten verbunden als eine funktionierende öffentliche Versorgung. In unzähligen Berichten wird positiv vermerkt, dass inzwischen 96 Prozent der Haushalte in Bangladeschs Armensiedlungen über Strom und fast ebenso viele über sauberes Trinkwasser verfügen. Dabei interessiert es kaum jemanden, wie und zu welchen Bedingungen diese Dienstleistungen in den Siedlungen bereitgestellt werden: Etwa dass der Strompreis bei jedem Weiterverkauf deutlich ansteigt.11 Die Basti-Bewohner müssen für Strom und Wasser viel mehr bezahlen als die anderen in Dhaka. Seit der Legalisierung der Wasserversorgung in Karail zum Beispiel ist die monatliche Rechnung nicht einmal mehr halb so hoch wie zu Zeiten der Selbstversorgung.

Das Recht der zuerst Gekommenen

Wer die Situation im Basti aus eigener Erfahrung kennt, weiß um die Unzulänglichkeiten einer improvisierten Infrastruktur und durchschaut den Mythos von der Informalität als „organisierender Logik“ der Urbanisierung. Außerdem gewährt die Erfahrung vor Ort einen Einblick in hierarchische Strukturen, die womöglich das größte Hindernis für emanzipatorische Prozesse sind. Denn alle leben zwar unter prekären Bedingungen, in einem ökologisch und hygienisch beeinträchtigten, „illegal“ entwickelten Teil Dhakas, in dem es zu häufigen Bauunfällen, Bränden und Überschwemmungen kommt; alle erzählen von Armut, Landverlust oder Hochwasserkatastrophen, vermissen ihr Heimatdorf und beklagen die Last der Migration und die enttäuschten Hoffnungen auf einen Neuanfang in der Großstadt. Aber es wäre unrealistisch zu erwarten, dass im Basti alle „gleich“ sind.

In Karail gibt es lokale Machthaber, die unter Berufung auf ein „Recht der zuerst Gekommenen“ für das Errichten von Hütten und Häusern eine Art Bodennutzungsgebühr verlangen – obwohl der Grund und Boden hier hauptsächlich dem Staat gehört. Dieses ungeschriebene Gesetz im Kopf, reden inzwischen viele von „ihrem“ Land, wenn sie von dem Grundstück sprechen, auf dem ihr Haus oder ihr Laden steht. Den Einwand, dass niemand öffentlichen Boden besitzen, kaufen oder verkaufen könne, ignorieren sie. Stattdessen erklären sie einem, wie der Markt funktioniert: In Krisenzeiten könne man von Leuten, die fürchten, vom Staat vertrieben zu werden, Land zu niedrigen Preisen erwerben und es später, wenn die Krise wieder vorbei ist, gewinnbringend weiterverkaufen. Gute Deals habe man zum Beispiel machen können, als die Telekommunikationsgesellschaft von Bangladesch kurz nach ihrer Privatisierung in ihrer T & T Colony (siehe Karte), die im Nordwesten an das Basti grenzt, Grundstücke räumen ließ. Bei dieser Art der Immobilienspekulation verlieren natürlich immer die ohnehin Benachteiligten – die Menschen, die keine Rückendeckung haben und kein Talent zum Broker.

Entscheidend für die Raumaufteilung in Karail ist noch eine andere Form der „Investition in Wohneigentum“. Früher baute sich jeder Neuankömmling seine eigene Hütte, die nach und nach um einen Innenhof mit gemeinsam genutzten Waschräumen und Kochstellen erweitert wurde. Das entstehende Hütten-Cluster ähnelte der klassischen Struktur bengalischer Bauernhöfe, in denen verwandte Haushalte als „joint family“ leben. Auf diese Weise wurde genug Platz für die schnell wachsende Großfamilie oder für weitere vom Land zugewanderte Angehörige geschaffen.

Heute hingegen beschlagnahmen einzelne Personen Teilgebiete, auf denen sie längliche Wellblechbaracken errichten lassen. Pro Baracke entstehen vier bis sieben Zimmer von sechs bis neun Quadratmetern, die dann an bis zu siebenköpfige Familien vermietet werden. Diese lang gestreckten Baracken haben in den letzten Jahren das Stadtgefüge und die Raumerfahrung von Karail verändert. Wer, Wächter und Hausmeister hinter sich lassend, von einem der noch unbewohnten Luxusapartments in den nahen Wohntürmen einen Blick nach unten wirft, denkt spontan an das geometrische Muster einer Kaserne. Unten, auf Straßenebene, bekommen die Basti-Bewohner die Befremdlichkeit des neuen Gefüges zu spüren: Die schmalen, von fensterlosen Wellblechfronten gesäumten Wege bilden einen schmerzhaften Kontrast zu den belebten Geschäftsstraßen der Siedlung. Seit 2012 entstehen außerdem immer mehr zweistöckige Bauten. Professionelle Zimmerleute fertigen ganze Häuserreihen und gar Laubenganghäuser auf Stelzen an und dehnen so Karail bis in die Wasserfläche aus.

Diese Entwicklungen stehen im Zusammenhang mit der seit den 1990er Jahren deutlich gestiegenen Bevölkerungsdichte in Karail. Sie gewährleisten zwar eine äußerst effiziente Raumnutzung; lebenswert machen sie den Raum aber keinesfalls. Sie zeugen vielmehr von ungleichen Machtverhältnissen: davon, dass die reicheren beziehungsweise mächtigen Bewohner mit Unterstützung lokaler Politiker gemeinschaftlichen Raum vereinnahmen, Bewohner vertreiben oder ihnen durch neue Häuserreihen (auf Stelzen) die Nähe zum Wasser nehmen können, um vermietbaren Wohnraum zu errichten.12 Hinzu kommt, dass die räumliche Ausdehnung des Basti auf den See und die ausbeuterischen Verhältnisse, die diese vorantreiben, inzwischen öffentliche Aufmerksamkeit erregt haben und den Leuten, die „Slums“ als Orte der Kriminalität und Illegalität verurteilen, weitere Argumente für die Räumung liefern.

Was sagt nun das Ganze über die „informelle“ Selbstversorgung? Erstens: Im Hinblick auf das erprobte Versorgungssystem für Wasser und Strom, auf die Bodenspekulation oder auf den an Massenproduktion orientierten Wohnungsmarkt kann von improvisierten oder ungeklärten Verhältnissen nicht die Rede sein. Hier sind im Gegenteil Taktik und Kalkül am Werk, und zwar auf eine so offensichtliche und allgemein akzeptierte Weise, dass niemand mehr die Ursachen infrage stellt. Man hält sich einfach an überkommene Normen wie Gehorsam und Abhängigkeit von Protektoren; für Selbstorganisation (von Emanzipation ganz zu schweigen) bleibt da wenig Raum.

Zweitens: Der ungerecht hohe Preis, den finanziell schwache Haushalte für die Grundversorgung bezahlen müssen, kann eine Verbesserung ihrer ohnehin schweren Lebensbedingungen nur behindern. Drittens: Belange, die große Startinvestitionen oder kontinuierliche Wartung und Pflege erfordern, wie etwa Kanalisation, Müllabfuhr, Straßenbeleuchtung und -pflasterung, können „informell“ gar nicht angegangen werden.

Der kanadische Journalist Doug Saunders hat sich von den Tausenden Menschen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben tagtäglich in Dhaka und anderen Großstädten des globalen Südens ankommen, zu einem optimistischen Buch inspirieren lassen. In „Arrival City“ beschreibt er Orte wie Karail als dynamische Ankunfts- und Übergangsstationen für jene aktiven und motivierten Einwanderer, auf die die Städte für ihr eigenes ökonomisches Wachstum angewiesen sind. Aber seine These, dass sich die Zukunft der Städte an ihrer Fähigkeit entscheiden wird, gute „Ankunftsbedingungen“ (wie Wohnraum, Wasser- und Energieversorgung) für die Zuwanderer zu schaffen, führt in die Irre. Denn der Mythos von der informellen Ökonomie, die nur der punktuellen Unterstützung durch den Staat bedürfe, erweist sich bei näherem Hinsehen als neoliberal gefärbte und entwicklungspolitisch kontraproduktive Hülle, die entschlossenen Schritten zur ländlichen und städtischen Armutsbekämpfung nur im Wege steht. Um diesen Kampf geht es, nach wie vor – und nicht um die „Beseitigung von Slums“.

Fußnoten: 1 Siehe Elisa T. Bertuzzo, „Field work in Karail Bosti, Dhaka: Approaching informality #1“: dwm-blog.habitat-forum-berlin.de/2011/03/27/informality/. 2 Siehe unter anderem dfg-science-tv.de/en/projects/the-city-of-5-million/2008-06-17. 3 Eine von Karail-Bewohnern und dem Habitat Forum Berlin (HFB) durchgeführte Langzeitstudie beziffert die Bewohner des eigentlichen Basti auf höchstens 60 000. 4 Syed Zain Al-Mahmood „Dhaka slum dwellers live under threat of eviction“, The Guardian, 11. April 2012. 5 Das sogenannte Upgrading von Slums ist ein ökonomisch wichtiger Faktor der Entwicklungszusammenarbeit. Die von Weltbank und UN-Habitat gegründete „Cities Alliance“ mobilisierte seit 2000 etwa 82 Millionen Dollar: www.citiesalliance.org/sites/citiesalliance.org/files/Anual_Reports/6-Financials.pdf. 6 Breiter Schal, meist aus Baumwolle, den Frauen über die Brust legen oder auch als Kopfbedeckung verwenden. 7 „Dhaka’s biggest slum to finally get legal water supply“, The Daily Star, 27. Februar 2013. 8 Dhaka Water Supply and Sewarage Authority (DWASA). Die Installationen von Wassertanks und Pumpen für acht bis zehn Familien werden von Bewohnern Karails mit Unterstützung der NGO Dushtha Shasthya Kendra (DSK) ausgeführt: www.dskbangladesh.org/shiree/shiree_more.php?kbr=karail. 9 Siehe auch Shahadat Hossain, „Contested Water Supply: Claim Making and the Politics of Regulation in Dhaka, Bangladesh“, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2013. 10 Zahlen nach der HFB-Studie, siehe Anm. 3 11 Ende 2012 verkauften lokale Anbieter den abgezapften Strom, für den sie 5 Taka pro Einheit an den Stromlieferer bezahlten, zu einem Aufpreis von 33 Prozent weiter (HFB-Studie, Anm. 3). 12 Dies wurde während des ersten Aufenthalts direkt nach der Nationalwahl 2008 besonders deutlich. Die Mitglieder der an die Macht gekommenen Partei ersetzten viele alten Bauherren beziehungsweise Vermieter, oft mit Gewalt, und ließen direkt am Wasser ganze Reihen neuer Behausungen errichten.

Elisa T. Bertuzzo leitet an der TU Berlin das Projekt „Archives of Movement“ und forscht im Rahmen des Habitat Forums Berlin zusammen mit Günter Nest über Karail Basti.

Dieser Artikel ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung von: „Bis das Wasser kommt“ in der Zeitschrift Bauwelt, 48/2011.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.09.2013, von Elisa T. Bertuzzo