11.08.2006

Ohnmacht und Eskalation

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Ohnmacht und Eskalation

Krieg im Libanon, Krieg in Gaza: Israel verletzt das Völkerrecht und produziert die nächste Generation seiner Feinde von Alain Gresh

Im Irak sind Anfang Juli an einem Tag dutzende Menschen von schiitischen Milizionären ermordet worden, nur weil sie Sunniten waren. Nach UNO-Angaben wurden allein im Mai und Juni fast 6 000 Iraker Opfer der Gewalt.

Im Süden von Afghanistan starben hunderte Zivilisten bei der jüngsten Offensive der von den USA geführten Koalitionsstreitkräfte. Und inzwischen kommt es auch am Hindukusch immer häufiger zu Selbstmordattentaten – diese Form von Anschlägen ist für Afghanistan etwas ganz Neues.

Im Gaza-Streifen leiden 1,5 Millionen Palästinenser gleich doppelt: unter der Offensive der israelische Armee und unter der Entscheidung der USA und der Europäischen Union, alle direkte Hilfe zu stoppen. Und die militärische Eskalation im Libanon, wo die Israelis unterschiedslos Straßen und Brücken wie auch Stadtteile und Dörfer bombardieren, während der Norden Israels durch die Raketen der Hisbollah gelähmt wird, könnte in einen regionalen Konflikt auch mit Syrien und dem Iran münden. Zugleich bleibt die Krise um das iranische Atomprogramm ungelöst, und Teheran droht mit dem Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag.

So viele Krisen zur gleichen Zeit hat es im Nahen Osten seit langem nicht mehr gegeben – und das drei Jahre, nachdem George W. Bush das Ende der Hauptkampfhandlungen im Irak verkündet hatte. Jeder dieser Konflikte hat seine eigene innere Logik, doch alle sind durch tausend Fäden miteinander verknüpft. Das erschwert die Lösung jedes einzelnen Konflikts und droht überdies die gesamte Region ins Chaos zu stürzen.

Aber wer hat mit der aktuellen Eskalation des Konflikts begonnen? Für viele Kommentatoren ist die Sache klar: Schließlich will die Hisbollah Israel vernichten und „den Westen insgesamt destabilisieren“, um eine „weltweite islamistische Diktatur zu errichten“.1

Solche Analysen entsprechen der Einschätzung der Neokonservativen in den USA, für die ein neuer Weltkrieg begonnen hat. Michael Ledeen vom konservativen American Enterprise Institute formuliert es so: „Dies ist ein Krieg, der von Gaza nach Israel und weiter über Libanon und Syrien bis in den Irak hinüberreicht. Dabei kämpft die Hamas in Gaza mit anderen Mitteln als die Hisbollah in Syrien und im Libanon und die verschiedenen ‚Aufständischen‘ im Irak. Aber alle Fäden laufen bei der ‚Mullahkratie‘ im Iran zusammen, deren faschistischer und revolutionärer Staat uns vor 27 Jahren den Krieg erklärt hat. Und dafür muss er jetzt bezahlen.“2

Der neokonservative Chefideologe William Kristol verkündet: „It’s our war.“3 Und zum „Lager der Guten“ bei der Abwehr dieses „umfassenden Angriffs auf die westliche Welt“ gehört natürlich die israelische Regierung.

Wer also ist schuld an diesem Konflikt? Am 12. Juli 2006 tötete die Hisbollah bei einem Überfall auf eine israelische Patrouille sechs Soldaten und nahm zwei weitere gefangen. Aber vergessen wir nicht, was dem vorausgegangen ist: Im Gebiet um die Shebaa-Farmen, das aus libanesischer Sicht als von Israel besetztes Staatsgebiet gilt, kommt es regelmäßig zu Zusammenstößen; israelische Kampfflugzeuge verletzen ständig den libanesischen Luftraum; am 26. Mai ermordeten die Israelis im Libanon einen Führer des islamischen Dschihad; die libanesischen Aktivisten Nassim Nisr und Yahya Skaf sitzen seit 1982 in israelischer Haft, Samir al-Qantar sogar seit 1978.

Wenn die grenzüberschreitende Aktion der Hisbollah gegen das internationale Recht verstieß, wie wäre dann die israelische Reaktion zu bewerten, also die gezielten Angriffe auf Dörfer und Städte und die Infrastruktur, die mehr als 600 000 Menschen zu Flüchtlingen gemacht haben? Nach dem Völkerrecht, auf das sich die „internationale Gemeinschaft“ pathetisch beruft, heißt so etwas „Kriegsverbrechen“. Denn das Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“ wurde im Zusatzprotokoll I zu den Genfer Konventionen von 1977 eindeutig definiert: Nicht erlaubt ist „ein Angriff, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“.4 Die Befreiung zweier israelischer Soldaten kann Tod und Zerstörung im Libanon auf keinen Fall rechtfertigen. Es sei denn, das Leben eines Arabers soll mehr wert sein als das Leben eines Israelis.

Ob die israelische Offensive ihre Ziele erreicht, ist keinesfalls sicher. Die Hisbollah ist die stärkste Partei im Libanon und in der schiitischen Bevölkerung, der größten Gemeinschaft des Landes, fest verankert. Ihr hohes Prestige rührt von der Befreiung des Südlibanon im Jahr 2000 her. Im Parlament ist sie mit zwölf Abgeordneten vertreten, und sie pflegt gute Beziehungen zu anderen politischen Kräften des Landes: zur christlichen Freien Patriotischen Bewegung von Exgeneral Michel Aoun, aber auch zu einflussreichen sunnitischen Persönlichkeiten wie Ussama Saad und Omar Karamé sowie zum Maronitenführer Suleiman Frangie. Die Hisbollah nur für eine Marionette Syriens oder des Iran zu halten ist angesichts dessen absurd.

Anthony H. Cordesman vom Center for Strategic and International Studies in Washington, sicher kein Freund der Islamisten, empfiehlt deshalb, „sich an die Fakten zu halten, wenn es um die Rolle Irans in der gegenwärtigen Krise geht. Manche Kräfte – auch Vertreter der israelischen Regierung und Armee – nutzen die Libanonkrise, um neue Argumente für einen Angriff gegen den Iran zu finden.“ Aus begrenzten Fakten und Verdachtsmomenten werde so eine Verschwörungstheorie gebastelt: „Auch die US-Geheimdienste haben keine Beweise, dass der Iran die Hisbollah lenkt oder kontrolliert– man weiß nur, dass Teheran ein entscheidender Geld- und Waffenlieferant ist.“5

Inzwischen geht die israelische Besatzung des Gaza-Streifens, des Westjordanlands, Ostjerusalems und der Golanhöhen ins vierzigste Jahr. Und die Lage in Palästina wird immer schlimmer – trotz unzähliger Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats. Und obwohl die Roadmap, der Friedensplan des „Quartetts“ von USA, EU, UNO und Russland, einen unabhängigen Palästinenserstaat bis Ende 2005 vorsah.

2005 war ein Jahr ohne Fortschritte. Israel hatte stets behauptet, Jassir Arafat sei das entscheidende „Friedenshindernis“, aber sein Tod und die Übernahme seiner Ämter durch Mahmud Abbas hinderten Ariel Scharon nicht daran, seine Politik der „unilateralen“ Maßnahmen fortzusetzen. Der einseitig von Israel vollzogene Rückzug aus dem Gaza-Streifen im Sommer 2005 bedeutete den Todesstoß für den Oslo-Friedensprozess oder was davon noch übrig war: Das Prinzip, den Frieden durch bilaterale Verhandlungen zu erreichen, wurde damit obsolet. Den Palästinensern im Gaza-Streifen brachte der israelische Rückzug keine Vorteile – eher das Gegenteil.

Während die Kolonisierung des Westjordanlands weiterging und noch vertieft wurde (siehe den Beitrag auf Seite 1) ging im Januar 2006 die Hamas als Sieger aus den palästinensischen Parlamentswahlen hervor. Die Palästinenser wurden für dieses „falsche Votum“ abgestraft. Die Europäische Union beschloss, alle Direkthilfen für die Autonomiebehörde vorerst einzustellen – was die Auflösung der palästinensischen Institutionen beschleunigte und zur weiteren Verschlechterung der Lebensbedingungen beitrug.

In diesem Kontext sind die Raketen zu sehen, die aus dem Gaza-Streifen auf Sderot abgefeuert wurden. Gideon Levy von der israelischen Tageszeitung Ha’aretz stellt die Frage, was passiert wäre, wenn keine Kassam-Raketen geflogen wären: „Hätte man mit der gewählten palästinensischen Regierung Verhandlungen begonnen? Unfug. Wären die Bewohner von Gaza ruhig geblieben, wie Israel gehofft hat, wären sie von der Tagesordnung verschwunden, bei uns wie in der übrigen Welt. Niemand hätte die Menschen in Gaza noch zur Kenntnis genommen, wenn sie nicht mit Gewalt reagiert hätten.“6

Nach heftigen internen Auseinandersetzungen unterzeichneten am 27. Juni 2006 alle palästinensischen Organisationen (mit Ausnahme des Islamischen Dschihad) eine Erklärung, die eine politische Lösung – die Gründung eines Palästinenserstaats an der Seite Israels – und die Begrenzung des bewaffneten Widerstands auf die besetzten Gebiete als gemeinsames Ziel formulierte. Damit war der Weg frei für die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit und die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen. Doch als am nächsten Tag ein israelischer Soldat von einem Hamas-Kommando aus Gaza entführt wurde, nutzte Israel dies als Vorwand, die Armee wieder in den Gaza-Streifen zu schicken. Tatsächlich wollte man die Hamas „vernichten“.7

Auch die israelischen Operationen im Gaza-Streifen – Bomben auf Elektrizitätswerke und Ministerien, Verhaftung von politischen Führern, Zerstörung von Häusern, Verwendung von Zivilisten als „menschliche Schutzschilde“8 – erfüllen den Tatbestand von Kriegsverbrechen. Die Regierung der Schweiz, Depositarmacht der internationalen Menschenrechtskonventionen, stellte am 4. Juli fest: „Es steht außer Frage, dass Israel die vom Völkerrecht vorgeschriebenen Vorkehrungen zum Schutz der Zivilbevölkerung und der Infrastruktur missachtet hat.“

Krieg gegen die Palästinenser, Krieg gegen den Libanon – diese beide Offensiven machen die Strategie Israels deutlich: das Durchsetzen einer „Lösung“, die allein den eigenen Interessen entspricht. Aber Israel hat seit langem nicht mehr so einhellige Unterstützung aus dem Westen erfahren wie zu Beginn des aktuellen Konflikts, als nur der Vatikan deutliche Kritik übte.

Für die arabische Welt ist dieser Krieg ein weiterer Beleg der eigenen Ohnmacht. Die arabischen Verbündeten der USA konnten in Washington keinerlei Druck ausüben. Am Ende waren sie sogar bereit, die Hamas und die Hisbollah zu verurteilen, womit das israelische Intervention gerechtfertigt wurde. Als der saudische Außenminister Saud al-Faisal alle nichtarabischen Mächte aufforderte, sich nicht in den Konflikt einzumischen, meinte er natürlich vor allem den Iran – nicht etwa die USA.

Abd al-Wahab Badrakhan bringt es in der panarabische Tageszeitung al-Hayat auf den Punkt: „Allen Arabern vom Golf bis zum Mittelmeer ist eines klar: Der Frieden ist tot, und wir sind unzählige Male betrogen worden.“ Wie man aus dieser verzweifelten Lage herauskommen könne, wisse niemand. Denn jetzt hätten diejenigen das letzte Wort, „in deren Augen wir ‚Terroristen‘ oder ‚Hasardeure‘ sind.“9

Die Hamas entstand 1987 im Gaza-Streifen während der ersten Intifada – sie war ein Ergebnis von 20 Jahren israelischer Besetzung. Die Hisbollah entstand aus dem Widerstand gegen die israelische Besatzung im Südlibanon nach der Invasion von 1982. Man muss sich fragen, welche neue Widerstandsorganisation aus der gegenwärtigen Katastrophe im Libanon hervorgeht.

Fußnoten: 1 So Gérard Dupuy, „G 8 hors jeu“, Libération, 17. Juli 2006. 2 National Review Online, 13. Juli 2006. Michael Ledeen war in den Iran-Contra-Skandal von 1987 verwickelt und fädelte damals als Berater des Weißen Hauses Kontakte zu iranischen Politikern ein. 3 Weekly Standard, Washington, 24. Juli 2006. 4 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I, Art. 51, Abs. 5b, www.admin.ch/ch/d/sr/i5/0.518.521.de.pdf). 5 www.csis.org/media/csis/pubs/060715_hezbol lah.pdf. 6 Ha’aretz, 9. Juli 2006. 7 Von Februar 2005 bis 10. Juni 2006 hielt die Hamas eine Waffenruhe ein. Die wurde aufgekündigt, als die gezielten Tötungen durch Israel zunahmen; letzter Auslöser war die Ermordung einer palästinensischen Familie am Strand von Gaza am 10. Juni. 8 Siehe Bericht der israelischen Organisation B’Tselem: www.btselem.org/english/Human_Shields/20060720_Human_Shields_in_Beit_ Hanun.asp. 9 Al-Hayat (Beirut), 17. Juli 2006. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 11.08.2006, von Alain Gresh