15.09.2006

Polens Populisten

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Polens Populisten

von Klaus Bachmann

Ein Staatspräsident, der stolz darauf ist, nie in Deutschland gewesen zu sein, der sich durch eine missglückte Satire1 so beleidigt fühlt, dass er ein Gipfeltreffen absagt, der den Europäischen Verfassungsvertrag für „tot“ erklärt, aber dennoch darauf beharrt, kein Euroskeptiker zu sein. Ein Premierminister, der deutsch-polnische Verständigung als Geheimdienstintrige abwertet, aber natürlich nicht als deutschfeindlich gelten will. Schließlich eine Koalition, die Homosexuelle verunglimpft, ihr Premierminister aber in Brüssel erklärt, Homosexuelle würden in Polen nicht diskriminiert. Beweis: Sie nähmen selbst höchste Regierungsposten ein.

Für ausländische Beobachter sind sowohl die derzeitige polnische Regierungskoalition als auch ihre Politik und die Stimmung im Lande ein großes Rätsel. Man erkennt das schon an den Etiketten, die zurzeit in ausländischen Medien im Umlauf sind: reaktionär, ultrakonservativ, nationalistisch, populistisch, nationalkonservativ. Keine Schublade passt: „Recht und Gerechtigkeit“, die größte Regierungspartei, würde gern als Partei der Mitte oder als konservativ gelten – doch kann man es konservativ nennen, wenn eine „moralische Revolution“, die Gründung einer „Vierten Republik“ (mit neuer Verfassung) und mit Hilfe der Öffnung kommunistischer polnischer Stasiakten ein massiver Elitenwechsel angestrebt wird? Kann jemand konservativ sein, der mit sozialromantischen Werbespots, Autarkieslogans und der Verstaatlichung von Banken den Exkommunisten die Wähler abspenstig macht?

Eine durch und durch proeuropäische Bevölkerung wählt mehrheitlich Parteien, die der EU skeptisch oder sogar feindlich gegenüberstehen. Steckt hinter dem Wahlerfolg von Parteien wie „Recht und Gerechtigkeit“ und ihren radikalen Koalitionspartnern, der fundamentalkatholischen „Liga der polnischen Familien“ und der Partei der „Selbstverteidigung“, eine Abwendung vom prowestlichen, proeuropäischen, marktwirtschaftlichen und demokratischen Grundkonsens, der sich nach 1989 parteiübergreifend herausgebildet hat? Um diese Fragen zu beantworten, ein kleiner Ausflug in die europäische Nachkriegsgeschichte.

In den Siebzigerjahren machte Westeuropa einen heftigen Wertewandel und eine ebenso heftige gesellschaftliche Individualisierung durch. Traditionelle bürgerliche Werte wie Vaterland, Familie, die Zugehörigkeit zu geschlossenen sozialen Gruppen, Unterordnungsbereitschaft und Fleiß, die sich in Kriegs- und Nachkriegszeiten bewährt hatten, wurden verdrängt durch neue Orientierungen, die der wirtschaftlichen Entwicklung angemessener waren: Kreativität, Kritikfähigkeit, der Hang zur Selbstverwirklichung. Im Mittelpunkt des Interesses standen nicht mehr Gruppenbedürfnisse, sondern die Wünsche, Träume und Ziele des Individuums. Homosexuelle mussten sich nicht mehr den demografischen Interessen der Mehrheit unterordnen, Rechte waren nicht länger durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe gegeben, sondern aus der Einzigartigkeit eines jeden Menschen erklärt: Frauenemanzipation und Schutz der Kinder, wo früher der Zusammenhalt der Familie an erster Stelle gestanden hatte; Menschenrechte und das Recht auf Anderssein in einer multikulturellen Gesellschaft, wo früher Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Familie oder einer ethnischen Minderheit Rechte bestimmt hatten.

Die neue Entwicklung führte zur Politisierung der Gesellschaft, zum Erblühen der Civil Society und partizipativer Demokratie, aber sie hatte auch negative Folgen: Der Verlust sozialer Bindungen (an Kirchen, Gewerkschaften, Familien), die höhere Mobilität und das Aufheben der Trennung von Berufs- und Privatleben ließen die Menschen vereinsamen, setzten sie größerem Stress aus und verunsicherten sie.

Die Kaczynski-Zwillinge glauben, was sie sagen

Individualisierung und Wertewandel schlugen sich, ebenso wie die Gegenreaktion darauf, im Parteiensystem nieder: Die Grünen wurden in den Achtzigerjahren in Westeuropa zur Avantgarde des Wertewandels. Die populistischen Parteien, deren Anfänge in den gleichen Zeitraum fallen, scharten all jene hinter sich, denen der Wandel zu schnell und zu weit ging. Wo die einen antiautoritäre, individualistische, zivile und pazifistische Werte hochhielten, boten die Populisten kollektive Identitäten, bedienten sich einer oft geradezu militaristischen Rhetorik, gaben sich autoritär. Die einen propagierten Multikulturalismus und Offenheit, die anderen nationale Einheit und Fremdenfeindlichkeit.

In Polen, wo damals kommunistische Diktatur, Plan und Mangelwirtschaft herrschten, fand zwar eine gesellschaftliche, aber keine politische Individualisierung statt. Der Kampf um mehr Freiheit stützte sich auf nationale Slogans. Und neue Parteien konnten ohnehin nicht entstehen. Alles änderte sich Mitte der Neunzigerjahre: Wirtschaftsreform, steigender Wohlstand, Öffnung nach Westen und schließlich die Integration in die EU und der Boom an ausländischen Investitionen sorgten für einen Individualisierungsschub, der die Menschen zutiefst verunsicherte. Eine besondere Rolle spielten dabei die vier Reformen der Regierung Jerzy Buzek zwischen 1997 und 2001: Dezentralisierung, Bildungsreform, Einführung von Krankenkassen und kapitalgestützten Lebensversicherungen veränderten das Alltagsleben der Bürger. Ab 1998 kann man deshalb in den Umfragen ein Absacken der Stimmung beobachten: Das Misstrauen gegenüber den Behörden und anderen Menschen, gegenüber allen wichtigen Nachbarn Polens steigt, ebenso das Gefühl, von den Parteien nicht mehr repräsentiert zu werden.

Diesen Trend nutzte der Justizminister der Minderheitsregierung Buzek, Lech Kaczynski, indem er eine Kampagne gegen Kriminalität und Korruption, die klassischen Themen westeuropäischer populistischer Parteien, initiierte. Und wie sie konstruierte Kaczynski auch sein Feindbild: Da, wo Jean-Marie Le Pen, Filip Dewinter, Pim Fortuyn und Jörg Haider Einwanderer zur Bedrohung erklären, vor der sie ihre Gesellschaft zu schützen versprechen, erklärten Kaczynski und seine Partei PiS Deutsche, Russen und diejenigen, die ihnen in Polen angeblich in die Hände arbeiten, zu Feinden.

Das ist bei den Brüdern Kaczynski mehr als nur Propaganda und Demagogie. Beide waren in der demokratischen Opposition gegen das kommunistische System aktiv, sind enorm ambitioniert, konnten aber vor 2005 nie den erhofften Wahlerfolg verbuchen. Von Beginn der Transformation an gerierten sie sich deshalb als Außenseiter, die gegen die Verschwörung der Eliten, gegen den angeblichen Geheimbund aus ehemaligen Kommunisten und ehemaligen linksliberalen Solidarnosc-Intellektuellen anstürmen, aber von „dem System“ ausmanövriert werden. Beide fühlen sich als Opfer von Intrigen, haben ein hermetisches, von Verschwörungstheorien dominiertes Weltbild, sind misstrauisch und halten Politik für ein Nullsummenspiel, bei dem es nur um Interessen geht und der Stärkere sich durchsetzt. Zugleich sind sie beseelt vom Drang, zur intellektuellen Elite ihres Landes – die ihnen bisher die kalte Schulter zeigte – zu gehören, was sowohl ihre intellektuellenfeindliche Demagogie als auch das scheinbare Paradox erklärt, dass beide einen Doktortitel haben.

Daraus erklärt sich auch der Versuch, aus dem Mangel an außenpolitischer Erfahrung einen Trumpf zu machen: Man sei nicht durch Auslandskontakte verdorben, sondern denke eben ausschließlich in „polnischen Kategorien“, im Gegensatz zu den Intellektuellen und Politikern, die „den Deutschen aus der Hand fressen“.

Präsident Lech Kaczynski und Premierminister Jaroslaw Kaczynski glauben, was sie sagen, und sie handeln nach dem, was sie glauben. Wenn sie von einer Bedrohung durch Russland oder Deutschland sprechen, ist das mehr als nur Demagogie oder Wahlkampftaktik. Das bedeutet nicht, dass sich ihre Politik in allen Details daran ausrichtet.

Zum einen zeigt die Erfahrung in Westeuropa, dass populistische Parteien programmatisch ausgesprochen flexibel sind und meist bewusst auf die Ausarbeitung einer homogenen Ideologie verzichten – sie versuchen ja zumeist gerade, sich als „Ideologiefeinde“ oder „Anti-Parteien-Parteien“ darzustellen. Im politischen Diskurs treten sie als Verfechter eines nicht näher definierten Gemeinwohls, der Interessen „des kleinen Mannes“ und eines ominösen, diffusen „Volkes“ auf, das nie definiert wird, weil man so jederzeit beliebige politische Gegner als „Gegner des Volkes“ an den Pranger stellen kann. Das alles erfordert eine gehörige Dosis Pragmatismus.

Zum anderen sind auch populistische Parteien nicht in der Lage, die langfristigen Interessen eines Landes zu verändern – Polen bliebt auf Transfergelder der EU und gute Beziehungen zu seinen Nachbarn angewiesen, egal wer in Warschau regiert. Garanten der Westbindung Polens sind nicht nur die in den gemeinsamen Markt integrierte Wirtschaft, die inzwischen entstandenen zivilgesellschaftlichen Strukturen und die Bürger mit Auslandskontakten, sondern auch Wladimir Putin und seine Außenpolitik, die auch die heftigsten EU-Gegner überzeugen dürfte, dass Polens Heil nicht im Osten liegt.

Modernisierung und reaktionäre Rhetorik

Es gibt noch einen Grund, warum man die Entwicklung in Polen nicht als nationalistische Reaktion oder antieuropäische Revanche Ewiggestriger ansehen sollte. Populistische Parteien funktionieren häufig als Korrektiv demokratischer Prozesse und als Katalysatoren gesellschaftlicher Veränderungen. Weil sie nicht zum Establishment gehören und damit schlechteren Medienzugang haben, gerieren sie sich als Außenseiter und Herausforderer des Establishments. Dafür müssen sie sich auf Interessengruppen stützen, die sich ebenfalls als von diesem Establishment benachteiligt sehen. Sind sie einmal an der Macht, setzen sie meist Veränderungen durch, die den Zugang dieser Gruppen zu Macht, staatlichen Ressourcen, Medien oder sozialem Aufstieg verbessern. Die Gesellschaft wird dadurch sozial mobiler, alte Pfründen werden abgeschafft, mehr Chancengleichheit geschaffen, und Parteiensystem und Verwaltung werden „durchgelüftet“.

In Österreich führte die Koalition von ÖVP und FPÖ zu einer Schwächung des Kammersystems, das politische Entscheidungen parlamentarischer und öffentlicher Kontrolle entzog. In den Niederlanden führte die Koalition mit der Lijst Pim Fortuyn (LPF) zu einer Öffnung für die Interessen von Immobilienmaklern und kommerziellen Bauern, die sich von der bisherigen Politik benachteiligt fühlten. In Polen sind nun genossenschaftliche Kleinbanken, Handel und jene im Aufwind, die die zunftähnlichen Zulassungsregeln für Anwalts- und Notarkorporationen aufbrechen wollen. Ins Parlament und in die Verwaltung ziehen Vertreter sozialer Gruppen ein, die bisher wenig repräsentiert waren: weniger Intellektuelle, freie Berufe und Städter, mehr Bewohner des flachen Landes, Arbeitslose, ja sogar Kriminelle. Parlament, Regierung und Verwaltung werden so wohl nicht effektiver, aber repräsentativer.

Hinzu kommt, dass Populisten für ihre Kampagnen meist Themen aufgreifen, die von den etablierten Parteien vernachlässigt, von der Bevölkerung aber für wichtig und für zu Unrecht tabuisiert gehalten werden. Populisten sind Tabubrecher eigener Art – mit Hilfe des Tabubruchs erreichen sie, was andere durch gute, jahrzehntelang gewachsene Beziehungen besitzen: Teilhabe an öffentlichen Debatten. Da sie selbst aus dem Protest gegen Wertewandel und Individualisierung entstanden sind, achten Populisten allerdings darauf, nur individualistische, „moderne“ Tabus zu brechen: Sie machen die Frauenemanzipation lächerlich, ziehen über Homosexuelle her, verunglimpfen – wie Jean-Marie Le Pen – den Topos des Holocaust.

In Polen attackieren Populisten zurzeit die Symbolfigur Jacek Kuron, dem sie Verschwörungen mit dem kommunistischem Geheimdienst unterstellen, verunglimpfen Homosexuelle und distanzieren sich vom außenpolitischen Konsens der etablierten Parteien. Das Problem von PiS und ihrer Koalitionspartner besteht vor allem darin, dass sie faktische Modernisierung mit einer antimodernen, reaktionären Rhetorik verknüpfen. Sie streben eine höhere Beschäftigungsquote an, wollen aber die Frauen zu Hause am Herd halten. Sie machen Propaganda gegen die Europäische Union, brauchen aber deren Transferleistungen. Sie reißen Aufstiegsblockaden für junge Juristen ein, aber das gereicht in Polen jungen Frauen stärker zum Vorteil als Männern – denn sie liegen bei den Hochschulabschlüssen vorn.

Dankbarkeit können Populisten an der Macht vom Wähler aber kaum erwarten: Sind die Tabus alle gebrochen und die Aufstiegsblockaden abgetragen, fühlen sich die Wähler von den etablierten Parteien wieder besser vertreten. Das Vertrauen in die staatlichen Einrichtungen steigt, „die da oben“ scheinen nun plötzlich doch in der Lage, die Probleme der Bürger zu lösen. Damit entfallen die wichtigsten Gründe, für Populisten zu stimmen. Tatsächlich straften die Wähler schon nach kurzer Regierungszeit sowohl die niederländische LPF als auch die FPÖ an den Urnen ab. Bei den polnischen Wahlen von 2005 erzielten PiS, Selbstverteidigung und Liga der polnischen Familien zusammen eine satte Mehrheit im Parlament. Nach den Umfragen der letzten Zeit liegt PiS jetzt hinter der Bürgerplattform, ihre beiden kleineren Partner hätten größte Probleme, überhaupt wieder ins Parlament zu kommen. Das Vertrauen in die staatlichen Einrichtungen ist gestiegen, die Zahl derer, die sich von den Parteien im Parlament repräsentiert fühlen, steigt wieder.

Populistische Parteien in Westeuropa haben ein Janusgesicht, sie agitieren gegen eine Modernisierung, zu der sie selbst beitragen, und attackieren Demokratien, deren Integrationsfähigkeit sie damit erhöhen. Da macht Polen keine Ausnahme. Nur die Themen mögen manchen Beobachtern etwas ungewöhnlich erscheinen.

Fußnote:

1 „Polens neue Kartoffel“, taz vom 26. 6. 2006 © Le Monde diplomatique, Berlin Klaus Bachmann ist Politologe und Historiker, Lehrstuhlinhaber für Politische Wissenschaft am Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wroclaw, Polen.

Le Monde diplomatique vom 15.09.2006, von Klaus Bachmann