11.03.2011

Libyens Stammesgesellschaft

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Libyens Stammesgesellschaft

Am Abend des 15. Februar 2011 demonstrierten die Bürger der zweitgrößten libyschen Stadt Bengasi für die Freilassung von Fethi Tarbel, Sprecher der Familien von Gefangenen, die 1996 bei einem Feuergefecht im Gefängnis von Abu Salim in Tripolis gestorben waren. Tarbel, der verhaftet worden war, weil er „das Gerücht über einen Brand im Gefängnis verbreitet“ habe, kam tatsächlich frei, aber das beruhigte die Gemüter nicht. Aufrufe zu einem „Tag des Zorns“ am 17. Februar kursierten. Tatsächlich gingen tausende von Demonstranten auf die Straße.

Das Regime reagierte mit Verhaftungen, mit Waffengewalt und dem Einsatz von Flugzeugen. Rückhalt fand die Volksbewegung sogar in Teilen der Armee. Dass Soldaten sich den Regimegegnern anschlossen, hatte zwei Gründe: Zum einen missbilligten sie die Präsenz ausländischer Söldner in ihren eigenen Reihen, und zum anderen folgten sie einem Aufruf der libyschen Stämme.

Wie in allen Staaten Nordafrikas hatte die tribale Ordnung auch in Libyen eine entscheidende Rolle im Unabhängigkeitskampf gespielt – aber auch bei der Bewahrung der lokalen kulturellen Traditionen. „Unter der Herrschaft von Idris I. zwischen 1951 und 1969 hatten die Stämme keine politische Bedeutung mehr“, erinnert sich der libysche Schriftsteller Abd al-Moncif al-Buri. „Der König lehnte die Stammespolitik ab, und gesellschaftliche Forderungen akzeptierte er nur von Gewerkschaften und Interessenverbänden. Erst Gaddafi hat die Stämme wieder in die Politik integriert.“1

Der Historiker Pierre Vermeren verdeutlicht: „Natürlich wollte Gaddafi den Einfluss der Stämme zurückdrängen, um seine Position als oberster Führer aller Libyer zu stärken. Gleichzeitig aber hielt er am tribalen System fest, sowohl innerhalb des Regimes wie auch landesweit, während die Stämme in den anderen Maghrebstaaten ihre Bedeutung weitgehend verloren. Gaddafi selbst gehört dem Gaddafa-Stamm aus Syrte in Zentrallibyen an, der den König stürzte. Der seinerseits zum Clan der Senussi gehörte. Gaddafi hat das Stammessystem genutzt, denn es hat ihm die Kontrolle über die sechs Millionen Libyer erleichtert, die verstreut in einem Staatsgebiet von der dreifachen Größe Frankreichs leben.“

Nach dem Staatsstreich vom 1. September 1969, der ihn zum „Revolutionsführer“ machte, schmiedete Gaddafi Stammesbündnisse. „In die Revolutionskomitees berief er Stammesvertreter, die ihm besonders ergeben waren, auch wenn ihnen jede Kompetenz fehlte“, erklärt al-Buri. Gaddafi spielte die Stämme gegeneinander aus und nutzte dabei auch die Sprachgrenzen zwischen Arabisch, Tamazight und Tubu.

Rebellische Stämme wie die Tubu, deren Siedlungsgebiet sich auch auf die Nachbarstaaten Ägypten, Tschad und Niger erstreckt, wurden abgestraft. Issa Attubawi, Führer der libyschen „Tubu-Front für das Heil Libyens“, berichtet über Diskriminierungen: „Unsere Kinder durften nicht zur Schule gehen und wurden auch nicht in Krankenhäusern aufgenommen.“2

Einigen Stämmen machte Gaddafi Geldgeschenke, um sie als Gegengewicht zu den politischen Parteien, den Gewerkschaften und generell allen Kräften der Opposition einzusetzen. Gaddafi-treue Stämme schlugen die Studentenunruhen in den 1970er Jahren nieder. Gaddafis politische Vision war die Dschamahirija, eine Art direkte Massendemokratie ohne Staat, Regierung oder Parteien. Al-Buri ist überzeugt, dass „die Unterdrückung jeder Form freier Meinungsäußerung den politischen Einfluss der Stämme gestärkt hat – ihnen fiel die Rolle der Vermittler zwischen dem Regime und der unzufriedenen Bevölkerung zu“.

Ende Februar 2011 riefen verschiedene Stämme das Militär dazu auf, sich an die Seite des Volkes zu stellen. Der Ältestenrat der al-Zuaya, eines Stamms, dessen Siedlungsgebiet sich entlang der wichtigsten Ölvorkommen im Osten Libyens erstreckt, drohte damit, die Pipelines nach Europa zu schließen, falls die Repression anhalte. Und sogar die al-Warfalla, einer der größten Stämme Libyens und seit langem mit dem Regime verbündet, forderte Gaddafi nun auf, das Land zu verlassen. Es dauerte nicht lange und auch die Tuareg schlossen sich den Aufstand an.

Ein anonymer Informant versichert, dass es die Loyalität zu den Stämmen war, die das Militär dazu brachte, die Seiten zu wechseln: „Sie haben ihre Angehörigen und ihre Kinder sterben sehen.“ Auch das Nationalgefühl spielte eine Rolle: „Als die Offiziere sahen, wie ausländische Söldner auf Libyer schossen, beschlossen sie, den Demonstranten beizustehen.“ Ali Chibani

Fußnoten: 1 Abd al-Moncif al-Buri, „Le tribalisme, le régionalisme et l’avenir de l’exercice politique en Libye“, siehe die Website des Oppositionsbündnisses National Conference for the Libyan Opposition (NCLO): www.libya-nclo.com. 2 Etwa 18 Prozent der Libyer sind Angehörige der Tubu, des „Volks von Tibesti“, einer Bergregion in der Südsahara. Die drei Millionen Tubu leben im Tschad, im Niger, in Ägypten und Südlibyen.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Ali Chibani ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.03.2011, von Ali Chibani