11.09.2014

Ein mysteriöser Flugzeugabsturz vor 34 Jahren

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Ein mysteriöser Flugzeugabsturz vor 34 Jahren

von Andrea Purgatori

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Am 27. Juni 1980 startet die DC-9 der italienischen Fluggesellschaft Itavia mit 113 Minuten Verspätung um 20.08 Uhr in Bologna. An Bord sind 4 Besatzungsmitglieder und 77 Fluggäste, darunter 13 Kinder. Nachdem das Flugzeug die Apenninen überflogen hat, folgt es dem Luftkorridor Ambra 13 über dem Tyrrhenischen Meer. Das Ziel ist Palermo. Die Sicht ist klar, die Kommunikation zwischen Cockpit und Boden völlig normal. Um 20.59 Uhr hört man auf dem Stimmenrekorder den Flugkapitän etwas zu seinem Kopiloten sagen. Es ist nur ein Wortfetzen: „Gua…“ Vielleicht: „Guarda!“ Sieh mal! Niemand wird es je wissen. Die Stimme reißt ab, das Radarsignal verschwindet vom Himmel über Ustica, einer kleinen Insel 60 Kilometer vor Sizilien. Die DC-9 zerbricht in drei Teile und stürzt ins 3 700 Meter tiefe Meer.

Was folgte, war ein Pokerspiel, dessen Karten von Regierungen, Militär und Geheimdiensten aus vier Ländern manipuliert wurden: Italien, Frankreich, USA und Libyen. Die langwierige Partie hatte ein einziges Ziel: die Wahrheit über die Explosion eines Linienflugzeugs und den Tod der 81 Passagiere zu verbergen. Das ist das Geheimnis des „Massakers von Ustica“, wie man es in Italien nennt.

Erst 2013 hat der Oberste Kassationsgerichtshof in Rom entschieden, dass die Explosion von einer Luft-Luft-Rakete verursacht worden sein muss. Nach Ansicht der Richter sollte sie damals höchstwahrscheinlich den libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi treffen. Doch die Herkunft des Jagdflugzeugs ist bis heute ungeklärt. Und verurteilt wurde bisher nur der italienische Staat – zu einer Entschädigungszahlung von 100 Millionen Euro an die Familien der Opfer. Er habe seinen Luftraum nicht verteidigt. Das war seine Schuld.

Während der jahrzehntelangen Spurensuche waren Dutzende Rechtshilfeersuchen Italiens an die anderen in den Vorfall verwickelten Länder unbeantwortet geblieben und hatten immer wieder neue Zweifel genährt. Erst vor wenigen Monaten erklärte Belgien, man werde aus Gründen der nationalen Sicherheit keine Angaben zu der Tragödie von Ustica machen – an jenem Abend standen belgische Jagdflugzeuge auf der französischen Militärbasis Solenzara auf Korsika. Die römischen Untersuchungsrichter Maria Monteleone und Erminio Amelio haben allein 15 französische Militärs identifiziert, die damals in Solenzara stationiert waren. Nachdem Paris lange Zeit behauptet hatte, diese Leute nicht ausfindig machen zu können, haben Frankreichs Behörden vor Kurzem schließlich einer Befragung zugestimmt.

Im April dieses Jahres fanden die ersten Anhörungen statt. Dabei gaben die inzwischen pensionierten Offiziere zum ersten Mal seit 34 Jahren zu, dass die Flugtätigkeit auf der Militärbasis Solenzara am Abend des 27. Juni 1980 nicht schon um 17 Uhr, sondern erst mitten in der Nacht eingestellt wurde. Das hatte das französische Verteidigungsministerium bis dato kategorisch ausgeschlossen. Doch nun haben sich die französischen Ermittler bereit erklärt, mit ihren italienischen Kollegen zusammenzuarbeiten.

Die neue Offenheit der französischen Behörden und die Entscheidung von Matteo Renzi vom 22. April 2014, alle Akten über Attentate seit den 1970er Jahren freizugeben, könnten eine Wende für die Aufklärung des Flugzeugabsturzes von Ustica bedeuten. Es war ein kriegerischer Angriff mitten im Frieden, aber während einer Phase starker politischer und militärischer Spannungen.

Am Abend des Absturzes waren auf den Radarschirmen im Kontrollraum am Flughafen Rom-Ciampino, wo damals ausschließlich Militärangehörige saßen, Spuren mehrerer Jagdflugzeuge über Ustica zu erkennen. Sie kamen vom Meer und flogen wieder zurück aufs Meer, als wäre dort irgendwo ein Flugzeugträger. Die Männer im Kontrollraum vermuteten eine Beteiligung der VI. US-Flotte und fragten in der US-Botschaft nach. Inzwischen hatte Sismi-Chef Santovito seinem französischen Amtskollegen Alexandre de Marenches, Direktor des Auslandsnachrichten- und Spionageabwehrdienstes SDECE, ein Eiltelex geschickt: „Was habt ihr getan?“ Es war später ebenso unauffindbar wie die Antwort. Erwähnt hat dieses Telex zumindest Francesco Pazienza, Santovitos rechte Hand, dessen Aussage bei den Gerichtsakten liegt.

Am Morgen des 28. Juni waren die Karten verteilt, das Lügenpoker konnte beginnen. Die US-Botschaft erklärte, sie interessiere sich nicht direkt für den Zwischenfall, obwohl sie in der Nacht ein Telegramm des stellvertretenden Außenministers Warren Christopher erhalten hatte. Darin bat Christopher um die Bestätigung dafür, dass auch US-Bürger an Bord der Unglücksmaschine gewesen waren. Die italienische Luftwaffe sprach von einem mutmaßlichen technischen Schaden, setzte aber gleichzeitig die Suche nach den Radaraufnahmen vom Himmel über Ustica fort. Und Oberst Gaddafi wies seine Botschaft in Italien an, einen Nachruf auf die Opfer der Katastrophe zu veröffentlichen.

Rund ums Mittelmeer war die Atmosphäre in jenem Sommer sehr aufgeheizt. Der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat hatte mit dem Camp-David-Abkommen 1977 und der Anerkennung Israels eine historische Wende vollzogen und sich aus der sowjetischen Einflusssphäre gelöst – was Moskau ihm ebenso wenig verzieh wie Gaddafi. Der libysche Staatsführer galt als der schlimmste Feind des Westens. In der Liste der „Schurken“ nahm er den ersten Platz ein, auf dem ihm später erst Saddam Hussein, dann Osama bin Laden folgen sollte.

Gaddafi verfügte über ein furchteinflößendes Arsenal. Mit seinen Erdöleinnahmen hatte er von den Sowjets MiG-Jagdbomber und Scud-Raketen gekauft. Im Bewusstsein seiner Schlüsselrolle in einem weit größeren Konflikt goss er eifrig Öl ins Feuer. So kam er im Frühjahr 1980 dem Präsidenten des Tschad Goukouni Oueddei militärisch zu Hilfe, dessen Konkurrent Hissène Habré von Paris unterstützt wurde. Oueddei hatte Gaddafi im Gegenzug versprochen, sein Land mit Libyen zu vereinen. Aus wiederholten Scharmützeln mit den französischen Spezialeinheiten wurde ein nicht erklärter blutiger Krieg. Schließlich befürchtete Frankreichs Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing nicht nur, dass ihm die Kontrolle über die Uranlagerstätten des Tschad entgleiten würde, sondern auch, dass er wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl im Mai 1981 das Gesicht verlieren könnte.

In seinem Buch über den Abschuss der Passagiermaschine schreibt Untersuchungsrichter Rosario Priore, der zehn Jahre in dem Fall ermittelt hat: „Giscard d’Estaing und François Mitterand waren so verschlossen wie Austern. Sie beharrten auf ihrer Politik der absoluten Wahrung von Staatsgeheimnissen und nahmen keinerlei Rücksicht auf die beteiligten Regierungen. Ich habe wertvolle Erkenntnisse aus einem langen Ge–spräch2 mit de Marenches […] Er sagte mir, dass die Ermittlungen in Frankreich ohnehin keine Ergebnisse gebracht hätten, denn wenn die Geheimdienste tatsächlich einen Anschlag auf Gaddafi durchgeführt hätten, dann hätten sie sicher keinerlei Spuren hinterlassen. Er hat aber betont, den libyschen Staatschef unschädlich zu machen sei seiner Meinung nach die Pflicht mehrerer Regierungen.“3

Und was tat Italien? War wie eine schöne Frau hin- und hergerissen zwischen dem amerikanischen Gatten und dem libyschen Liebhaber. Tripolis deckte 40 Prozent des italienischen Energiebedarfs, bestellte Waren für Milliarden Dollar und beschäftigte 25 000 italienische Arbeiter auf den Baustellen des Landes. Italien konnte es sich nicht leisten, Gaddafi zu verärgern, – und beugte sich seinem Diktat. Der italienische Geheimdienst Sismi rettete Gaddafi mindestens zweimal das Leben: beim Militärputsch in Tobruk im August 1980 und mit der Warnung vor dem Bombardement von Tripolis und Bengasi, das US-Präsident Ronald Reagan 1986 anordnete.

Statt sich zu bedanken, drohte Gaddafi dem italienischen Außenminister. Er verlangte Informationen über oppositionelle Flüchtlinge in Rom und Mailand, sonst werde er den Ölhahn zudrehen. Der Sismi gab sie ihm. Gaddafi besaß damals bereits 13 Prozent der Aktien von Fiat. Er erwarb Tausende Hektar Grund und Boden, Fabriken und Häuser in Italien. Und er schickte seine Killer los, um seine Gegner im Exil umzubringen.

Aber damit nicht genug. Oberst Gaddafi verlangte, dass seine MiGs nach der Reparatur im jugoslawischen Banja Luka durch Luftkorridore über dem Tyrrhenischen Meer anstelle der Adria zurückkehren sollten. Er wollte die Luftverteidigung der französischen Militärbasen auf Korsika testen und der VI. US-Flotte beweisen, dass er ihre Einheiten im Golf von Neapel ebenso überfliegen konnte wie den US-Militärflugplatz Sigonella auf Sizilien. Dazu musste die italienische Luftverteidigung beide Augen zudrücken. Auch das setzte er durch. Die Kontrolleure erhielten den mündlichen Befehl, alle Spuren vom Überflug „feindlicher“ libyscher Jagdflugzeuge zu beseitigen, um keinen Alarm des Nato-Verteidigungssystems auszulösen. Das war ein unzulässiger Trick und ein Verzicht auf das Prinzip der nationalen Souveränität. Vor allem war es jedoch eine Beleidigung für die beiden Verbündeten Italiens: Frankreich und USA.

Im März 1994 zerstörte ein unerklärlicher Brand im Archiv der Sismi-Basis in Verona, die für die Überwachung der V. Allied Tactical Air Force der Nato in Vicenza zuständig war, mehr als 2 000 Akten aus den Jahren 1975 bis 1989. Unter den Papieren, die das Feuer verschonte, fand Richter Priore als „streng vertraulich“ und „geheim“ eingestufte Dokumente, die in die Unterlagen der parlamentarischen Untersuchungskommission über den Flugzeugabsturz wanderten. Die vor dem 27. Juni 1980 verfassten Dokumente zeigen Frankreichs heftige Reaktionen auf die Verletzung der Nato-Abkommen: Die nächste MiG, die das Tyrrhenische Meer überfliege, werde abgeschossen, so die Drohung der Franzosen. Andere Dokumente, die aus der Zeit nach dem Absturz stammen, bezeichnen den Abschuss der DC-9 durch die Franzosen als Irrtum, erklären ihn aber mit dem angekündigten Szenario und sagen den Abschuss weiterer libyscher Flugzeuge voraus.

Ortswechsel. Am 18. Juli 1980 meldete das italienische Verteidigungsministerium den Absturz einer libyschen MiG im Sila-Gebirge in Kalabrien. Zwei Ärzte aus Crotone nahmen die Autopsie des Piloten vor, der eine Uniform und Stiefel der italienischen Luftwaffe trug. Er könnte einer der libyschen Piloten gewesen sein, die auf der italienischen Luftwaffenbasis Galatina in Apulien ausgebildet wurden. Die Autopsie fand auf dem Friedhof von Castelsilano im Beisein von hohen Offizieren und Geheimdienstagenten statt, die Fotos machten. Der Zustand der Leiche ließ keinen Zweifel zu: Dieser Mann war nicht am 18. Juli gestorben, sondern mindestens drei Wochen zuvor, und zwar ziemlich sicher am Abend des 27. Juni, dem Tag des Flugzeugabsturzes von Ustica.

Die Untersuchungskommission unter der Leitung des späteren Oberkommandierenden der Luftwaffe kam zu dem Ergebnis, dass der Pilot nach dem Start in Bengasi an einem Herzinfarkt gestorben sei. Dann sei die MiG auf Autopilot bis Kalabrien geflogen und abgestürzt, als das Benzin verbraucht war. Das klingt eher unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass am 18. Juli im Ionischen Meer die Verteidigungsübung „Demon Jam“ stattfand, an der Dutzende Nato-Schiffe und -Flugzeuge beteiligt waren.

Inzwischen ist der medizinische Bericht, der für den Tod des Piloten ein früheres Datum angab, verschwunden. Auch die Körperproben, die der Leiche „im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung“ entnommen und nach Rom geschickt worden waren, sind dort nie angekommen.

Das war aber noch nicht alles. Der Rumpf der MiG war von Löchern übersät, wie von Projektilen aus Flugzeugkanonen. Ein Unteroffizier bemerkte sie, aber seine Vorgesetzten kümmerten sich nicht darum. Als Priore davon erfuhr und nachfragte, rechtfertigte sich die Luftwaffe mit der Erklärung, die Kugeln seien später abgeschossen worden, um die Widerstandsfähigkeit des Blechs der MiG zu testen. Dabei hatten mehrere Zeugen an verschiedenen Orten in Kalabrien am 27. Juni ein Jagdflugzeug gesehen, das von Flugzeugen verfolgt wurde, die mit Kanonenkugeln schossen, als wären ihre Luft-Luft-Raketen schon verbraucht. Der Chef der CIA-Zentrale in Italien, Duane Clarridge, hatte erklärt, er habe die MiG vier Tage vor ihrer offiziellen Entdeckung inspiziert – das geht auch aus einer Notiz vom 14. Juli 1980 im Kalender des Generals hervor, der den Luftwaffen-Geheimdienst leitete. Allerdings hat Clarridge seine Aussage während des Prozesses widerrufen.

Die wahrscheinlichste Hypothese ist, dass die MiG allein oder mit einer anderen Maschine in den Luftkampf verwickelt war und versucht hatte, zum Flughafen Crotone zu entkommen. Die Ermittlungen von Richter Priore ergaben, dass der Carabinieri-Hauptmann Vincenzo Inzolia in der Nacht des Absturzes dort eine Notauftankung vorbereitet hatte, die vermutlich für die libysche MiG vorgesehen war.

Wenden wir uns einem weiteren Kapitel verhinderter Ermittlungen zu, den Radaraufnahmen, Transkriptionen und Dienstanweisungen mit den Namen der Fluglotsen, die am Abend des 27. Juni 1980 vor den Monitoren saßen. Sie sind allesamt verschwunden, und es gibt nur wenige Dokumente und Zeugenaussagen, um zu rekonstruieren, was am Himmel über Ustica damals wirklich geschehen ist. Allerdings führten bereits im November 1980 die Radaraufnahmen des Flughafens Rom-Ciampino zu einer erstaunlichen Enthüllung. John Macidull, Ermittler der US-Behörde für zivile Luftfahrt (FAA), gab gegenüber den italienischen Untersuchungsrichtern an, dass zwei Signale, die kurz vor dem Absturz in unmittelbarer Nähe der DC-9 aufgefangen wurden, von einem Militärflugzeug stammten. Macidull wusste, wovon er sprach: Er war früher selbst Jagdflieger und wurde 1986 mit den Ermittlungen zur Explosion der Raumfähre Challenger beauftragt. John Transue, Militärberater im Pentagon, der als Experte hinzugezogen worden war, konnte das nur bestätigen. Die Auswertungen der Radaraufnahmen, erklärte er im Juli 1982 in der BBC-Fernsehsendung „Panorama“, ergäben ein klassisches Angriffsmanöver; die DC-9 sei zweifellos von einer Luft-Luft-Rakete eines Jagdflugzeugs abgeschossen worden.

Danach folgte eine Wende in den Ermittlungen hin zu der Hypothese, die DC-9 sei versehentlich abgeschossen worden – eine unbequeme und schwer zu erklärende Wahrheit. Welcher Nation gehörte das Jagdflugzeug, das die Rakete abgeschossen hatte? Und warum hatte es geschossen? Die USA als erste Verdächtige versicherten, sie hätten nichts zu verbergen. Als sie jedoch die Flugbewegungen auf dem Flugzeugträger „Saratoga“ erklären sollten, verwickelten sie sich in zahlreiche Widersprüche. Nach Angaben des Pentagon befand sich der Flugzeugträger auf Reede vor Neapel, der Radar sei ausgeschaltet gewesen, um die Frequenzen des italienischen Fernsehens nicht zu stören. Ein US-Flugzeugträger mit ausgeschaltetem Radar, ausgerechnet an dem Tag?

Dann hieß es, die Aufnahmen des Ersatzradars seien einem Kommandanten der VI. US-Flotte ausgehändigt worden, der am Morgen des 28. Juni an Bord kam. Seither sind sie unauffindbar, ebenso wie das Original des Bordbuchs. Dafür gibt es eine saubere Abschrift ohne besondere Vermerke. Schwer zu glauben, dass die VI. US-Flotte vom Geschehen im über ihr liegenden Himmel über Ustica nichts gemerkt haben soll. Insofern wäre eine indirekte Verwicklung der USA zu vermuten, zumindest mit der Absicht, Frankreich zu decken.

Damit sind wir beim zweiten Verdächtigen. Frankreich erklärte kurz und knapp, man habe keine Schiffe im Absturzgebiet gehabt. Nach Auskunft des Verteidigungsministeriums lag der Flugzeugträger „Clemenceau“ vor Toulon und der Kreuzer „Foch“ im Hafen vor Anker. Auch seien keine französischen Flugzeuge am Himmel über Ustica gewesen. Und die Jagdflugzeuge der Solenzara-Basis auf Korsika hätten ihre Flüge um 17 Uhr beendet.

Das Transkript der Radaraufzeichnungen von Poggio Ballone an der toskanischen Küste, nahe Grosseto, blieb von der systematischen Vernichtung der Beweise verschont. Hier sind die Spuren von Jagdflugzeugen deutlich zu erkennen, die bis lange nach Mitternacht in Solenzara gestartet sind. Zwei flogen sogar kurz vor dem Absturz in Richtung Süden zum Tyrrhenischen Meer. Warum diese Lüge? Die beiden wachhabenden Offiziere an der Radarstation von Poggio Ballone hätten darauf vielleicht eine Antwort geben können. Aber als der Richter sie verhören wollte, war es zu spät. Der Kommandant der Basis, der am 27. Juni Dienst hatte, starb am 9. Mai 1981 mit 38 Jahren an einem Herzinfarkt. Und der Unteroffizier, der damals vor dem Monitor gesessen hatte, erhängte sich am 30. März 1987 an einem Baum. Am Tag nach dem Absturz hatte er seiner Frau und seiner Schwester gesagt, in der Nacht zuvor sei Italien „haarscharf an einem Krieg vorbeigeschrammt“.

Wichtige Zeugen konnten nicht mehr aussagen

Selbstmorde, Herzversagen, Unfälle. Es gibt fast zwanzig verdächtige Todesfälle, die auf den Absturz folgten. Die merkwürdigsten hängen mit dem Radar von Poggio Ballone und der Basis in Grosseto zusammen. So fanden die Richter heraus, dass der Mann am Radar, der sich später ergehängt hat, einmal sehr aufgeregt von einer Fortbildung in Frankreich heimgekehrt war: Er war überzeugt gewesen, vom französischen Auslandsgeheimdienst verfolgt worden zu sein.

Die Richter erfuhren auch, dass die DC-9 in der Nacht des 27. Juni von einem Jagdflugzeug der Basis in Grosseto gesichtet wurde, in dem zwei erfahrene Piloten saßen: Ivo Nutarelli und Mario Naldini. Nach verschiedenen offiziellen Nato-Berichten, in denen die Radartranskripte ausgewertet wurden (das erste wurde Richter Priore am 2. Oktober 1997 durch den juristischen Berater der Nato, Baldwin De Vidts, übergeben), hatten die beiden italienischen Piloten auf ihrem Rückflug zur Basis höchste Alarmstufe signalisiert, wie es das Handbuch der Allianz vorsieht: Dreiecksflug über der Basis und Funkknopf dreimal drücken, ohne zu sprechen (ein sogenannter Squawk-Code). Aber auch diese beiden kann man nicht mehr fragen. Naturelli und Naldini starben 1988 in Ramstein bei einer Kollision während einer Flugschau der italienischen Kunstflugstaffel Frecce Tricolori.

Auch das Wrack der DC-9 hätte wertvolle Hinweise liefern können. Der Untersuchungsrichter, der die Bergung anordnete, bekam damals vom italienischen Justizministerium die Auskunft, dass die dafür nötigen 6 Milliarden Lire nicht zur Verfügung stünden. Schließlich trieb Ministerpräsident Bettino Craxi 1986 das Geld auf. Kurz zuvor hatte er eine Auseinandersetzung mit Staatspräsident Francesco Cossiga gehabt, der nach einer Begegnung mit den Angehörigen der Flugzeugopfer auf einmal die rückhaltlose Aufklärung des Absturzes verlangte. Craxi hatte ihm entgegnet, wenn hier jemand die Wahrheit kenne, könne das nur Cossiga selbst sein, der zum Zeitpunkt des Geschehens nämlich Ministerpräsident gewesen war.

Bis zur Bergung des Wracks vergingen sechs Jahre

Mit der Bergung wurde das französische Unternehmen Ifremer beauftragt, das aber nur einen Teil des Flugzeugs nach oben brachte. Der neue Sismi-Chef, Admiral Fulvio Martini, wies das Verteidigungsministerium auf „Verbindungen zwischen Ifremer und dem französischen Geheimdienst“ hin, die jedoch vom Chef des Unternehmens, Pierre Papon, vor der Untersuchungskommission voller Herablassung bestritten wurden. Papon verstieg sich sogar zu der Äußerung, „die Ehrenhaftigkeit von Ifremer in Zweifel zu ziehen heißt, an der Ehrenhaftigkeit der französischen Regierung zu zweifeln“.

So gingen weitere zehn Jahre ins Land, bis bei einer zweiten Bergungsaktion die komplette DC-9 in einem Hangar rekonstruiert werden konnte. Aber die Mühe war vergeblich, die Experten uneins. Die einen tendierten zu der Annahme, dass eine Rakete den Absturz verursacht hatte, die anderen hielten es für wahrscheinlicher, dass jemand eine Bombe in der Flugzeugtoilette deponiert hatte. Nachdem Richter Priore herausgefunden hatte, dass sich zwei Verfechter dieser Hypothese mit hohen Luftwaffenoffizieren abgesprochen hatten, erklärte er die beiden für befangen.

Die Sache mit der Bombe ließ sich sowieso nicht aufrechterhalten. In den Überresten der Toiletten, deren Waschbecken und Ablagen unbeschädigt waren, wurden keinerlei Sprengstoffspuren gefunden. Außerdem war die DC-9 mit mehr als zweistündiger Verspätung gestartet, ein Zeitzünder hätte sie also schon zerstört, als sie in Bologna noch auf der Startbahn stand. Die beiden Generäle wurden wegen Vernichtung von Beweisen angeklagt.

Inzwischen sind wir im Jahr 2007. Am 10. Januar wurden die in erster Instanz verurteilten Angeklagten vom Berufungsgericht freigesprochen. Im Saal wurde das Urteil mit donnerndem Applaus aufgenommen. Aber die Erleichterung der Generäle währte nur kurz. Es war am 25. Juni 2007, als der frühere italienische Staatspräsident Cossiga im Rundfunk eine aufsehenerregende Erklärung abgab: „Die Franzosen wussten, dass Gaddafi auf dieser Strecke vorbeifliegen sollte. Dieser entging dem Attentat, weil General Santovito, Chef des italienischen Geheimdienstes Sismi,4 ihn, kurz nachdem Gaddafi gestartet war, über die Absichten der Franzosen informiert hatte. Gaddafi machte daraufhin kehrt. Die Franzosen sahen ein Flugzeug, das hinter der DC-9 herflog, um dem Radar zu entgehen. Sie haben von einem Jagdflugzeug des Flugzeugträgers ‚Clemenceau‘ eine Rakete abgeschossen.“

Schiffskapitän Jean Laforcade, damals Kommandant des Flugzeugträgers „Clemenceau“, hätte zu Cossigas Enthüllungen Stellung nehmen können. Aber die französischen Behörden zogen es vor zu schweigen und zu lügen. Davon zeugt auch die Behauptung, die Basis Solenzara habe den Flugbetrieb am Tag des Unglücks um 17 Uhr beendet. Nicht nur die Radarstationen offenbarten, dass noch sieben Stunden später Jagdflugzeuge unterwegs waren. Es gibt auch eindeutige Zeugenaussagen, darunter die des Carabinieri-Generals Antonio Bozzo, der zufällig in einem Hotel nahe der Startbahn von Solenzara mit seiner Frau, seinem Bruder und seiner Schwägerin Urlaub machte und dessen Schlaf in jener Nacht des 27. Juni 1980 von startenden und landenden Jagdflugzeugen gestört wurde. Diese Flugzeuge tauchen auch in einem Nato-Bericht aus dem Jahr 19974 auf. Darin werden sie zwar nicht identifiziert, unter dem Vorwand, Frankreich sei nicht in die Militärstrukturen der Nato integriert gewesen, aber ihre Flugspuren gleichen denen des Radars von Poggio Ballone.

Der Nato-Bericht trägt zum Verständnis dieser Katastrophe entscheidend bei. Demnach waren ein unbekannter Flugzeugträger (ein französischer oder ein US-amerikanischer, andere gibt es in dem Seegebiet nicht) sowie elf Militärflugzeuge, darunter ein US-Awacs-Radarsystem, das über der Insel Elba flog und sicher alles gesehen hat, zum Zeitpunkt des Absturzes in der Gegend unterwegs. Man kann wahrlich nicht behaupten, dass der Himmel leer war. Die Vermutung der italienischen Richter ist, dass sich am 27. Juni 1980 eine libysche MiG – oder zwei, wie Gaddafi behauptet, der sich als das 82. Opfer des Attentats betrachtete – aus Jugoslawien kommend an die DC-9 „drangehängt“ hatte und in deren Radarschatten flog, wahrscheinlich um einen libyschen Funktionär zu abzuschirmen, der das Gebiet in seinem eigenen Flugzeug überflog. Die italienische F104 bemerkte den Eindringling, gab Alarm – und löste damit alles Folgende aus, auch den Angriff der französischen Jagdflugzeuge, die von der „Clemenceau“ oder in Solenzara gestartet sein müssen.

Die beteiligten Staaten hüllen sich bis heute in Schweigen: Italien, weil es die Verletzung seines Luftraums zugelassen hat; die USA als interessierter Zeuge, wenn nicht sogar Komplize; Libyen als Auslöser des Zwischenfalls und Frankreich, weil es den Tod von 81 unschuldigen Insassen eines Linienflugs auf dem Gewissen hat. Mit der Militäroperation, die 2011 zu Gaddafis Tod führte, hat Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy schließlich die Rechnung mit dem Oberst beglichen.

Fußnoten: 1 Die Begegnung fand am Rand des Verhörs von de Marenches durch Richter Priore wegen des Attentats auf Papst Johannes Paul II. im Mai 1981 statt. 2 Siehe Giovanni Fasanella und Roasario Priore, „Intrigo internazionale“, Mailand (Chiare Lettere) 2010. 3 Für die Überprüfung des Radarmaterials sehen die Regeln der Nato vor, dass jedes Mitgliedsland seine Zustimmung gibt. Es war also eine politisch-diplomatische Vermittlung nötig, die Jahre dauerte und erst dank Javier Solana, Nato-Generalsekretär von 1995 bis 1999, gelöst wurde. 4 Servizio informazioni e sicurezza militare (Sismi), später Agenzia informazioni e sicurezza esterna (Aise). Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Andrea Purgatori war Reporter beim Corriere della Sera und arbeitet für die Huffington Post. Er hat mehrere Reportagen, ein Buch und einen Film über die Katastrophe von Ustica gemacht.

Le Monde diplomatique vom 11.09.2014, von Andrea Purgatori