13.04.2007

Wahrheitsfindung im Libanon

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Wahrheitsfindung im Libanon

Welches Recht gilt bei der Suche nach den Mördern Rafik Hariris? von Géraud de Geouffre de La Pradelle, Antoine Korkmaz und Rafaëlle Maison

Auf das Sprengstoffattentat, dem am 14. Februar 2005 der frühere libanesische Ministerpräsident Rafik Hariri und 22 weitere Menschen zum Opfer fielen, reagierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im April 2005 mit der Berufung einer internationalen Sonderermittlungskommission (IIIS). Das Untersuchungsverfahren könnte zur Einrichtung eines UNO-Sondertribunals mit außergewöhnlichen Vollmachten führen. Dies wäre nichts Außergewöhnliches – die UNO hat im früheren Jugoslawien, in Ruanda oder Sierra Leone bereits solche Tribunale geschaffen.1

Das Besondere am Fall Libanon ist – juristisch betrachtet – allerdings das Fehlen eines internationalen Verbrechens, das es zu ahnden gilt. Und einige Merkwürdigkeiten in der Untersuchung lassen befürchten, dass die ohnehin noch kaum gefestigte internationale Justiz hier missbraucht werden soll.

Im März 2006 schlug der UNO-Sicherheitsrat die Einsetzung eines internationalen Gerichtshofs vor. Die Regierung Libanons unter Fuad Siniora segnete dies im November ab, gegen den Willen der von Hisbollah und Amal gestellten Minister, die daraufhin das Kabinett verließen. Diese politische Krise harrt bis heute ihrer Lösung.

Dass der UNO-Sicherheitsrat ein politisches Gremium ist, wird niemand leugnen, die Charta der Vereinten Nationen weist ihm diesen Charakter ja zu. Er verfügt bei seinen Entscheidungen über einen großen Ermessensspielraum. Allerdings erscheint es äußerst bedenklich, wenn im Libanon die vermeintliche Verteidigung des Rechts mit schweren Verletzungen der Grundrechte einhergeht.

Nach dem Attentat auf Hariri hatte die Regierung in Beirut selbst den Sicherheitsrat um Unterstützung ersucht. Der setzte mit der Resolution 1595 vom 7. April 2005 die internationale Untersuchungskommission unter Leitung des deutschen Staatsanwalts Detlev Mehlis ein. Die sollte die örtlichen Behörden bei der Ermittlung und Ergreifung der Mörder Hariris unterstützen, allerdings forderte die Resolution zugleich die „strikte Achtung der Souveränität … und politischen Unabhängigkeit Libanons unter der alleinigen und ausschließlichen Hoheitsgewalt der Regierung Libanons“. In dem Text hieß es aber auch, dass „das libanesische Untersuchungsverfahren schwere Mängel aufweist und ein zufriedenstellendes und glaubhaftes Ergebnis weder erreichen konnte noch wollte“.

In einer Vereinbarung vom 3. Juli 2005 einigten sich Beirut und die UN auf die „Modalitäten der Zusammenarbeit“. Die internationale Kommission erhielt eine Art Oberhoheit über die lokalen Behörden, die ihr zuarbeiten sollten. Sie wurde damit zu einem Organ der strafrechtlichen Ermittlung – allerdings ohne die erforderlichen Rechtsgarantien. Die libanesischen Behörden werden dabei nicht selbst aktiv, sie beschränken sich darauf, die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen. Dafür wurde ihnen, so der Text der Resolution 1636 vom 19. Oktober 2005, für die „uneingeschränkte Zusammenarbeit“ gedankt, aber auch „für die mutigen Entscheidungen, die sie … bereits getroffen haben, insbesondere die Verhaftung und Anklage ehemaliger libanesischer Sicherheitsbeamter, die der Beteiligung an dieser terroristischen Handlung verdächtig sind“.

Resolution 1636 enthielt aber auch eine Neuerung: Ausgehend von der Feststellung, „dass diese terroristische Handlung und ihre Auswirkungen eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellen“, erklärt der Sicherheitsrat erstmals, er werde „nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen“ tätig, in dem auch mögliche militärische Schritte vorgesehen sind. Im ersten Kommissionsbericht hätten „konvergierende Beweise auf die Beteiligung sowohl libanesischer als auch syrischer Amtsträger“ am Attentat auf Hariri hingewiesen. Einen am 10. Dezember 2005 vorgelegten zweiten Bericht würdigte der Sicherheitsrat in der Resolution 1644.

Ein Tribunal auf zweifelhafter Basis

Nach der Ablösung des umstrittenen Chefermittlers Mehlis2 durch den belgischen Kriminologen Serge Brammertz im Januar 2006 traten die Ermittler zurückhaltender auf und vermieden in ihren Berichten provokante Thesen. Inzwischen hatte die Resolution 1644 erstmals die Idee eines internationalen Tribunals ins Spiel gebracht. Mitte März 2006 legte die Kommission ihren dritten Bericht vor. Der Sicherheitsrat reagierte mit der Resolution 1664 vom 29. März, in der der UNO-Generalsekretär ausdrücklich ersucht wird, „mit der Regierung Libanons ein Abkommen zur Einsetzung eines Gerichtshofs mit internationalem Charakter auszuhandeln, der auf den höchsten internationalen Normen der Strafjustiz beruht“. Wann dieser Gerichtshof seine Tätigkeit aufnehmen könne, werde vom Fortgang der Ermittlungen abhängen.

Damit hatte der Sicherheitsrat in schwerwiegender Form in die libanesische Politik eingegriffen. UNO-Generalsekretär Kofi Annan stellte am 10. November der libanesischen Regierung einen Vertragsentwurf zu, der die Besetzung des Tribunals mit einer Mehrheit internationaler und einer Minderheit libanesischer Rechter vorsieht. Als unabhängige Vertreter der Anklage sollen ein vom Generalsekretär ernannter Staatsanwalt und sein von Beirut ernannter Stellvertreter fungieren. Der Gerichtshof soll auch nicht nur für den Mord an Rafik Hariri zuständig sein, sondern auch für 14 weitere Attentate auf prominente Politiker und Journalisten, die seit dem 1. Oktober 2004 begangen wurden. In dem Entwurf heißt es abschließend: „Der Sondergerichtshof nimmt seine Arbeit zu einem Zeitpunkt auf, den der Generalsekretär in Abstimmung mit der Regierung bestimmt, wobei die Fortschritte in der Arbeit der internationalen Untersuchungskommission berücksichtigt werden.“

Bis es so weit ist, sind eine Reihe juristischer und praktischer Hürden zu überwinden. Zunächst scheint fraglich, ob die politische Entwicklung im Libanon überhaupt zulässt, dass der Vertrag das verfassungsgemäße Prozedere durchlaufen kann. Nachdem er vom Kabinett gebilligt wurde, müsste er im nächsten Schritt dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden, was Parlamentspräsident Nabih Berri zu verhindern sucht. Auch Staatspräsident Émile Lahoud, durch dessen Unterschrift der Vertrag erst rechtswirksam würde, lehnt den Plan ab.

Die speziellen Zuständigkeiten des internationalen Tribunals werfen aber auch vorweg eine grundsätzliche Frage auf. Bislang haben die UN-Sondertribunale stets mit dem Ziel eingesetzt, eine Strafverfolgung bei besonders schweren internationalen Verbrechen zu ermöglichen. Gemessen daran wäre der Sondergerichtshof für den Libanon ein Novum. Er wäre auch das erste Gericht dieser Art, das im Wesentlichen nationales Recht, nämlich das libanesische Strafrecht anzuwenden hätte, das freilich notdürftig nachgebessert wurde, indem der Vertrag die Todesstrafe ausschließt.

Mit dem Tribunal machen die Vereinten Nationen deutlich, wie sehr ihnen daran gelegten ist, dass die Attentate auf libanesische Persönlichkeiten aufgeklärt werden. Aber wie steht es um die mehr als 1 000 libanesischen und etwa 40 israelischen Zivilisten, die während des Libanonkrieges vom vergangenen Sommer ums Leben kamen? Die Toten und Verletzten, die Vertreibungen und Zerstörungen waren gleichfalls Folge schwerer Verstöße gegen die Genfer Konvention von 1949 und das Zusatzprotokoll von 1977 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte. Doch diese Verstöße wurden – im Gegensatz zum Mordfall Hariri – niemals in einer Resolution des Sicherheitsrats erwähnt oder als Kriegsverbrechen verurteilt. Hier ist ein bedauerlicher Verlust an Glaubwürdigkeit des humanitären Völkerrechts zu beklagen: Die internationale Gerichtsbarkeit erweckt den Anschein, politische Absichten zu verfolgen.

Von Anfang an wurde das geplante Tribunal zum Streitobjekt zwischen den feindlichen Lagern des Landes. Für die Mehrheitsfraktion im Parlament und die von ihr gestützte Regierung unter Fuad Siniora steht außer Frage, dass allein ein internationales Tribunal die Feststellung treffen könnte, Agenten Syriens im libanesischen Staatsapparat seien am Anschlag auf Hariri beteiligt gewesen.3 Von einer öffentlichen Verurteilung Syriens als Auftraggeber verbrecherischer Handlungen erhoffen sie sich die Schwächung der Vormachtstellung des Nachbarlandes im Libanon – und darin werden sie ganz offensichtlich von Frankreich, den USA und einflussreichen arabischen Staaten wie Saudi-Arabien bestärkt.

Man darf sich nicht wundern, wenn die Führung in Damaskus hier einen Angriff auf Syrien sieht und sich der libanesischen Opposition – vor allem der Hisbollah und der „Freien Patriotischen Bewegung“ des Generals Michel Aoun – bedient, um ihre Ablehnung des Vorhabens deutlich zu machen. Ein internationales Tribunal ist in den Augen der Opposition nur ein Teil dieser Strategie, um die Interventionsmöglichkeiten des Westens endlos zu erweitern. Der Regierung halten sie vor, mit diesen Mächten gemeinsame Sache zu machen und damit ihre Legitimation verloren zu haben. Deshalb fordern sie ihren Rücktritt.

Es war also von Anfang an so, dass die einen in diesem Tribunal die Chance sahen, die Ermordung ihrer politischer Führer zu vergelten und zugleich gegen das syrische Regime Front zu machen, während die anderen in ihm ein Instrument der USA, Frankreichs und Israels erblickten. In der libanesischen Gesellschaft taugten diese Zerrbilder zur Mobilisierung der verfeindeten Lager, die zu bewaffneten Auseinandersetzungen und zur politischen Lähmung des Landes führte. In diese Schaukämpfe wurde nun die internationale Strafjustiz hineingezogen.

Überdies sind bei den Ermittlungen im Namen eines umstrittenen internationalen Sondergerichtshofs, der erst noch zu bilden wäre, bereits Personen verhaftet worden, denen ihre Rechte verweigert werden. Das gilt für jene vier libanesischen Generäle, die von offizieller Seite beschuldigt werden, Urheber des Anschlags vom 14. Februar 2005 zu sein. Diese Vorwürfe übernahm der UN-Sicherheitsrat in die Resolution 1636 vom 31. Oktober 2005, die darauf zielte, die syrische Regierung zur Zusammenarbeit mit der internationalen Untersuchungskommission zu zwingen. Die Untersuchungsgefangenen befinden sich bis heute in einer rechtlosen Lage, die mit elementaren Grundsätzen der UN-Charta nicht vereinbar ist.

Ein Geheimdienstchef, der seine Unschuld beteuert

So wird dem früheren libanesischen Geheimdienstchef General Jamil al-Sayed der Zugang zu einem unparteiischen Richter verweigert – eine Situation, in die er, wie seine Mithäftlinge, auch durch eine Reihe von Fehlern der internationalen Kommission geraten ist. Zwar erklärte General al-Sayed, er habe von der Vorbereitung und Ausführung des Attentats vom 14. Februar 2005 keine Kenntnis gehabt. Dennoch drängte man ihn, „glaubhafte“ Angaben über Hintermänner der Tat, im Grunde also Falschaussagen, zu machen. Der Kommission liegen Beweise für diese Aufforderungen vor, die freundlich formuliert waren, solange der General sich noch in Freiheit befand, nach seiner Verhaftung aber unter Drohungen wiederholt wurden.

General al-Sayed war am 30. August 2005 unter dem Verdacht verhaftet worden, er sei „direkt an der Planung und Ausführung des terroristischen Anschlags vom 14. Februar 2005 beteiligt“ gewesen. Rechtliche Grundlage der Verhaftung war zunächst nur ein von der Kommission erteilter „Haussuchungsbefehl“; erst drei Tage später, nach einer rein formalen Anhörung durch einen libanesischen Untersuchungsrichter, wurde die Verhaftung legalisiert. Später widersetzte sich die Kommission sogar der Freilassung von al-Sayed, obwohl sie weder ermächtigt ist, Verhaftungen vorzunehmen noch den Zeitpunkt einer Haftentlassung zu bestimmen.

Leider entspricht dieser Machtmissbrauch der ganzen Handlungslogik des Sicherheitsrats. Weder General al-Sayed noch den anderen Verhafteten wurden die Informationen zugänglich gemacht, die den libanesischen Behörden von der Kommission zugingen, und keiner wurde mit konkreten Tatvorwürfen konfrontiert. Sie wurden teils ohne ihre Anwälte, teils auch in deren Anwesenheit verhört, in keinem Fall aber durften sie unter vier Augen mit ihrem Rechtsbeistand sprechen. Al-Sayed forderte immer wieder erfolglos, den Personen gegenübergestellt zu werden, die in den Berichten der Kommission als „Zeugen“ fungierten. Nur einmal kam es zu einer Gegenüberstellung – mit einem Maskierten.

Seit Mehlis abgezogen wurde, ist es nicht mehr zu solchen Verfehlungen gekommen. Alles in allem scheint die Untersuchung inzwischen korrekt geführt zu werden. Die Kommission hat seither aber auch kein Interesse an einer Vernehmung des Generals al-Sayed gezeigt. Die „Beweise“ und „Zeugenaussagen“, die in den ersten beiden Kommissionsberichten gegen die Generäle aufgeführt wurden, wurden noch einmal überprüft – und haben sich als haltlos erwiesen.

In den nachfolgenden vier Berichten kommen die Verdachtsmomente, auf die sich der Sicherheitsrat zunächst berufen hatte, nicht mehr vor. Aber General al-Sayed und die anderen Verhafteten erhielten keine Chance, gegen die Übergriffe, denen sie ausgesetzt waren, rechtlich vorzugehen. Offiziell obliegt es der libanesischen Justiz, die Grundrechte zu wahren. Doch die Instanzen, die jeder Empfehlung der Mehlis-Kommission nachkamen, wollen jetzt keine Verantwortung für das Schicksal der Häftlinge übernehmen. Und eine Berufungsinstanz gibt es nicht.

Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass alle Akteure mit ihrer Haltung zur Frage des Tribunals darauf aus sind, ein rechtsstaatliches Verfahren – ob auf nationaler oder internationaler Ebene – unbedingt zu verhindern. Dazu hat allerdings der Sicherheitsrat mit seiner Resolution 1595 systematisch beigetragen. Damit ist die absurde Situation entstanden, dass mit der Planung eines internationalen Sondergerichtshofs ein rechtloser Zustand festgeschrieben wird.

Fußnoten:

1 Diese Tribunale haben nichts mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu tun. 2 Zu den besten kritischen Bewertungen des Berichts gehört der Artikel von Sami Moubayed, „The ball is now in Syria’s court“ (Asia Times Online, 25. Oktober 2005); siehe auch: Robert Parry, „The dangerously incomplete Hariri report“ (consor tiumnews.com, 23. Oktober 2005). 3 Siehe Georges Corm, „Libanon – neues Spielfeld für Agitatoren“, Le Monde diplomatique, April 2005, sowie Alain Gresh, „Syrische Karambolagen“, Le Monde diplomatique, Dezember 2005.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Géraud de Geouffre de La Pradelle ist emeritierter Professor der Universität Paris X – Nanterre. Antoine Korkmaz ist Rechtsanwalt beim Cour de Paris. Rafaëlle Maison ist Professorin an der Universität der Picardie.

Le Monde diplomatique vom 13.04.2007, von Géraud de Geouffre de La Pradelle und Antoine Korkmaz / Rafaëlle Maison