10.08.2007

Indien 1857: Wie Karl Marx es sah

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Indien 1857: Wie Karl Marx es sah

London, 30. Juni 1857

Das römische divide et impera war die Grundregel, mit der Großbritannien es hundertfünfzig Jahre lang zuwege brachte, die Macht über sein indisches Reich aufrechtzuerhalten. Die Feindschaft unter den verschiedenen Völkerschaften, Stämmen, Kasten, Bekenntnissen und Herrschaftsgebieten, deren Gesamtheit jene geographische Einheit bildet, die man Indien nennt, blieb stets die Existenzgrundlage der britischen Herrschaft.

In späterer Zeit haben die Bedingungen dieser Herrschaft allerdings eine Änderung erfahren. Mit der Eroberung von Sindh und des Pandschabs hatte das englisch-indische Reich nicht nur seine natürlichen Grenzen erreicht, sondern es hatte auch die letzten Reste der unabhängigen indischen Staaten niedergetreten.

Alle kriegerischen einheimischen Stämme waren unterworfen, alle ernsthaften inneren Konflikte waren beendet, und die kürzliche Einverleibung Audhs hat zur Genüge bewiesen, daß die Überbleibsel der sogenannten unabhängigen indischen Fürstentümer nur geduldet existieren. Hieraus ergab sich eine große Veränderung in der Position der Ostindischen Kompanie. Sie griff jetzt nicht mehr einen Teil Indiens mit Hilfe eines anderen Teils an, sondern stand an der Spitze des Landes, und ganz Indien lag zu ihren Füßen. Nicht länger erobernd, war sie der Eroberer geworden.

Die ihr zur Verfügung stehenden Armeen sollten nicht mehr ihren Herrschaftsbereich ausdehnen, sondern nur behaupten. Aus Soldaten waren sie zu Polizisten geworden; 200 Millionen Eingeborene werden von einer Eingeborenenarmee von 200 000 Mann, deren Offiziere Engländer sind, gezügelt, während diese Eingeborenenarmee ihrerseits von einer englischen Armee in Schach gehalten wird, die nur 40 000 Mann zählt.

Auf den ersten Blick ist zu erkennen, daß der Gehorsam des indischen Volkes auf der Treue der Eingeborenenarmee beruht, mit deren Aufstellung die britischen Machthaber gleichzeitig das erste allgemeine Widerstandszentrum schufen, ein Zentrum, wie es das indische Volk nie zuvor besessen hatte.

London, 4. September 1857

Die von den revoltierenden Sepoys in Indien begangenen Gewalttätigkeiten sind in der Tat entsetzlich, scheußlich, unbeschreiblich – so, wie man sie nur in Insurrektionskriegen, in Kriegen von Völkerstämmen und Geschlechtern und vor allem in Religionskriegen anzutreffen erwartet, mit einem Wort, solche Gewalttätigkeiten, wie sie den Beifall des respektablen Englands zu finden pflegten, wenn sie von den Männern der Vendée an den „Blauen“, von den spanischen Guerillas an den ungläubigen Franzosen, von den Serben an ihren deutschen und ungarischen Nachbarn, von den Kroaten an den Wiener Aufständischen, von Cavignacs Garde mobile oder von Bonapartes Dezemberleuten an den Söhnen und Töchtern des proletarischen Frankreichs verübt wurden.1

Wie schändlich das Vorgehen der Sepoys auch immer sein mag, es ist nur in konzentrierter Form der Reflex von Englands eigenem Vorgehen in Indien nicht nur während der Gründung seines östlichen Reiches, sondern sogar während der letzten zehn Jahre einer lang bestehenden Herrschaft. Um diese Herrschaft zu charakterisieren, genügt die Feststellung, daß die Folter einen organischen Bestandteil ihrer Finanzpolitik bildete. In der Geschichte der Menschheit gibt es so etwas wie Vergeltung; und es ist eine Regel historischer Vergeltung, daß ihre Waffen nicht von den Bedrückten, sondern von den Bedrückern selbst geschmiedet werden.

Der erste Schlag, der gegen die französische Monarchie geführt wurde, ging vom Adel aus, nicht von den Bauern. Der indische Aufstand fängt nicht bei den Raiat an [den indischen Bauern], die von den Briten gequält, entehrt und ausgeplündert wurden, sondern bei den von ihnen eingekleideten, ernährten, verhätschelten, gemästeten und verwöhnten Sepoys.

Um Parallelen zu den Greueltaten der Sepoys zu finden, brauchen wir nicht, wie einige Londoner Blätter behaupten, ins Mittelalter zurückzugreifen, ja, nicht einmal über die Geschichte des zeitgenössischen Englands hinauszugehen. Wir brauchen nur den ersten chinesischen Krieg2 zu studieren, sozusagen ein Ereignis von gestern. Die englische Soldateska verübte damals Schandtaten zum bloßen Vergnügen; ihre Zügellosigkeit wurde weder durch religiösen Fanatismus geheiligt, noch durch Haß gegen anmaßende Eroberer gesteigert, noch durch den unnachgiebigen Widerstand eines heldenhaften Feindes erregt. Schändung von Frauen, Aufspießen von Kindern, Abbrennen ganzer Dörfer waren damals bloß zügellose Belustigungen, die nicht von den Mandarinen, sondern von britischen Offizieren selbst bezeugt wurden.

Sogar bei der jetzigen Katastrophe wäre es ein völliger Irrtum, anzunehmen, daß die ganze Grausamkeit auf Seiten der Sepoys läge und die ganze Milch der frommen Denkungsart bei den Engländern flösse.

[…] Ein Beamter der Zivilverwaltung schreibt aus Allahabad: „Wir haben die Macht über Leben und Tod in unseren Händen, und wir versichern euch, daß wir sie schonungslos gebrauchen.“

Ein anderer aus derselben Stadt: „Nicht ein Tag verstreicht, an dem wir nicht zehn bis fünfzehn von ihnen“ (friedfertige Einwohner) „aufknüpfen.“

Ein Beamter schreibt begeistert: „Holmes hängt sie zu Dutzenden, er ist ein Mordskerl.“

Ein anderer schreibt im Hinblick auf das summarische Erhängen einer großen Schar Eingeborener: „Dann ging unser Spaß los.“

[…] Ein Offizier aus Benares, dessen Brief in der Londoner „Times“ abgedruckt ist, schreibt: „Die europäischen Truppen wurden zu Teufeln, wenn sie mit den Eingeborenen zusammenstießen.“

Und man sollte auch nicht vergessen, daß, während die Greueltaten der Engländer als Zeugnisse militärischer Kraft dargestellt und einfach und schnell erzählt werden, ohne bei abscheulichen Einzelheiten zu verweilen, die Gewalttätigkeiten der Eingeborenen, so entsetzlich sie sind, noch vorsätzlich aufgebauscht werden. Von wem stammte zum Beispiel der eingehende Bericht über die in Delhi und Mirat begangenen Greueltaten, der zuerst in der „Times“ erschien und dann in der Londoner Presse die Runde machte? Von einem feigherzigen Pfaffen, der in Bangalor, Maisur, lebt, mehr als tausend Meilen Luftlinie vom Tatort entfernt.

Tatsachenberichte aus Delhi beweisen, daß die Vorstellungskraft eines englischen Pfaffen schlimmere Schreckenstaten als selbst die wilde Phantasie eines meuternden Hindus ausbrüten kann. Das Abschneiden von Nasen, Brüsten usw., kurz die grauenhaften Verstümmelungen, die die Sepoys begangen haben, sind für europäisches Empfinden natürlicher abstoßender, als wenn da ein Sekretär der Friedensgesellschaft von Manchester Brandbomben auf Kantoner Wohnhäuser werfen3 oder ein französischer Marschall in einer Höhle eingepferchte Araber rösten läßt4 oder wenn vor einem plötzlich zusammengerufenen Kriegsgericht britischen Soldaten mit der neunschwänzigen Katze die Haut vom Leibe geprügelt wird oder irgendein anderes der philanthropischen Geräte angewendet wird, wie es in britischen Sträflingskolonien üblich ist. Wie alles andere besitzt auch die Grausamkeit ihre Mode, die nach Zeit und Ort wechselt. […]

Die schändlichen Verstümmelungen, die die Sepoys vorgenommen haben, erinnern uns an die Methoden im christlich-byzantinischen Reich oder an die Vorschriften des Strafrechts Kaiser Karls V. oder an die englischen Strafen für Hochverrat, wie sie noch von Richter Blackstone bezeugt worden sind.5

Den Hindus, die ihre Religion zu Virtuosen der Kunst der Selbstzerfleischung gemacht hat, müssen diese an den Feinden ihres Volkes und ihres Glaubens verübten Martern ganz natürlich erscheinen und noch mehr den Engländern, die noch vor einigen Jahren Einkünfte aus den Dschagganat-Festen6 zu ziehen pflegten und die blutigen Riten einer Religion des Grauens schützten und unterstützten.

Das wütende Gebrüll „der alten blutrünstigen ‚Times‘ “, wie Cobbett sie zu nennen pflegte, ihr Getue in der Rolle jener rasenden Gestalt aus einer der Mozartopern, die in höchst melodischen Tönen in dem Gedanken schwelgt, den Feind zuerst zu hängen, dann zu rösten, dann zu vierteilen, dann zu pfählen und ihm dann bei lebendigem Leibe die Haut abzuziehen, ihre Rachsucht, die sich zerreißen und zerfetzen möchte – all das würde einem nur dumm vorkommen, wäre nicht unter dem Pathos des Tragischen deutlich die Gaukelei des Komischen wahrnehmbar. Die Londoner „Times“ übertreibt ihre Rolle, und nicht nur aus Angst. Sie liefert der Komödie eine Figur, die selbst Molière fehlte, den Tartuffe der Rache. Sie will einfach die Staatspapiere hochtreiben und die Regierung decken. Da Delhi nicht durch bloße Windstöße gefallen ist wie die Mauern von Jericho, sollen John Bulls Ohren von Rachegeschrei gellen, damit er vergißt, daß seine Regierung verantwortlich ist für das ausgebrütete Unheil und dafür, daß es solche kolossalen Ausmaße annehmen konnte.

Fußnoten:

1 Die Mobilgarde wurde durch ein Dekret der provisorischen Regierung am 25. Februar 1848 zum Kampf gegen die revolutionären Volksmassen geschaffen. Diese Truppe bestand hauptsächlich aus Lumpenproletariern und wurde zur Unterdrückung des Pariser Juniaufstands eingesetzt. 2 „Opiumkrieg“ von 1839 bis 1842. 3 Gemeint ist John Bowring, seit 1849 Konsul in Kanton, der abberufen wurde, nachdem er im Oktober 1856 ohne Kriegserklärung Kanton bombardieren ließ. 4 Auf Befehl Generals Pélissiers wurden 1845 in Algerien Aufständische, die sich in Berghöhlen verborgen hielten, durch Schwelfeuer erstickt. 5 Sir William Blackstone, „Commentaries on the Laws of England“, Band 1–4; die erste Ausgabe erschien in London von 1765 bis 1769. 6 Fest zu Ehren des hinduistischen Gottes Wischnu, bei dem es zu Selbstkasteiungen und Selbstopferungen der Gläubigen kam. Aus: New York Daily Tribune, in MEW, Band 12, Berlin (Dietz) 1961, S. 230 ff., und New York Daily Tribune, Nr. 5 119 vom 16. September 1857, MEW, Band 12, S. 285.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2007, von Karl Marx