12.02.2015

Wir sind Athen

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Wir sind Athen

von Serge Halimi

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August 1914: Überall wird die „Union sacrée“ beschworen, die Heilige Allianz. In Frankreich wie in Deutschland kennt man keine Parteien mehr. Die Arbeiterbewegung schwenkt um, die Führer der politischen und gewerkschaftlichen Linken lassen sich auf die „nationale Verteidigung“ einschwören, die Kämpfe für den gesellschaftlichen Fortschritt sind suspendiert. Es scheint keine Alternative zu geben: Nach den ersten blutigen Schlachten gibt es bereits zehntausende Tote. Das Getöse der Waffen und das nationalistische Feldgeschrei übertönte alle Friedensappelle. Im Juni 1914, vielleicht auch noch im Juli, hätte man das Unheil im letzten Moment abwenden können.

Ein Jahrhundert später stehen wir an einem ähnlichen Punkt. Der „clash of civilisations“ ist bislang zwar nur eine von mehreren denkbaren Entwicklungen. Dieser Kampf der Kulturen kann durch das, was sich in Europa – erst in Griechenland, dann in Spanien – anbahnt, womöglich noch verhindert werden. Doch die dschihadistischen Anschläge begünstigen ein Katastrophenszenario – und damit eine Strategie des „Antiterrorkriegs“, inklusive der Einschränkung aller bürgerlichen Freiheiten. Diese Attentate könnten also sämtliche Krisen verschärfen, die dringend einer Lösung bedürfen. Das ist die Gefahr. Die Herausforderung der kommenden Monate besteht darin, dieser Gefahr entgegenzuwirken.

Hat ein Zeichner die Freiheit, eine Mohammed-Karikatur zu produzieren? Eine Muslimin die Freiheit, Burka zu tragen? Und werden immer mehr französische Juden nach Israel auswandern? Willkommen im Jahr 2015. Frankreich muss sich mit einer schweren sozialen und demokratischen Krise herumschlagen, die durch die ökonomischen Optionen seiner Regierungen und der Europäischen Union noch verschärft wurde. Themen wie die Umstrukturierung des Finanzsektors, die Umverteilung des Reichtums oder die Produktionsweise insgesamt sind endlich im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Und doch werden sie immer wieder von Fragen der Religion in den Hintergrund gedrängt.1 Seit mehr als zwanzig Jahren lassen sich die Medien wie ein Teil der öffentlichen Meinung von Themen wie „Islam der Banlieue“, „kulturelle Unsicherheit“ oder „Parallelgesellschaft“ in Panik versetzen. Das machen sich Demagogen zunutze, die in den Wunden herumstochern, um sich auf die politische Bühne zu drängen. Solange ihnen das gelingt, wird man die grundlegenden Probleme nicht ernsthaft debattieren können – auch die nicht, von deren Lösung fast alles andere abhängt.

Die Ermordung von zwölf Menschen, die meisten von ihnen Journalisten und Karikaturisten, am 7. Januar in den Büros von Charlie Hebdo und von vier jüdischen Franzosen in einem koscheren Supermarkt war eine entsetzliche Tat. Obwohl die Verbrechen im Namen des Islams verübt wurden, haben sie – jedenfalls bislang – keinesfalls den Teufelskreis von Hass und Repression in Gang gesetzt, auf den ihre geistigen Väter gesetzt haben. Zwar waren die Mörder zum Teil erfolgreich: Moscheen werden angegriffen, Synagogen von der Polizei geschützt, junge, radikalisierte Muslime, die manchmal erst frisch konvertiert und über ihren Glauben nur oberflächlich informiert sind (also für ihre Glaubensgemeinschaft wenig repräsentativ), verfallen dem Dschihad, dem Nihilismus, der Idee des bewaffnetem Kampfs. Doch die Mörder sind zugleich gescheitert: Sie garantieren der Zeitschrift, die sie auslöschen wollten, ein ewiges Leben. Allerdings war dieses Ziel für sie ohnehin nur zweitrangig. Ob sie ihre anderen Ziele durchsetzen können, wird vom Widerstand der französischen Gesellschaft abhängen. Und von der Renaissance einer kollektiven Hoffnung in ganz Europa.

Wir sollten bescheiden sein. Unsere großen Schlüssel passen nicht für alle Schlösser. Wir sind nicht immer in der Lage, ein Ereignis sofort zu interpretieren. Wenn wir innehalten und nachdenken, lassen wir uns auf das Risiko ein, etwas zu verstehen, zu überraschen und überrascht zu werden. Tatsächlich hat uns das Ereignis vom 7. Januar überrascht, aber auch die Reaktion, die es ausgelöst hat. Frankreich steht noch immer unter Schock, wie Spanien nach den Anschlägen von Madrid im März 2004 oder wie Großbritannien nach den Attentaten von London ein Jahr später. Es gab Massendemonstrationen und Schweigemärsche, ohne dass die Franzosen das kriegerische Gerede ihres Premierministers Manuel Valls allzu sehr beachtet hätten; und ohne den Abbau demokratischer Rechte voranzutreiben, wie es die USA am Tag nach dem 11. September 2001 getan haben. Wobei es allerdings ebenso unwirksam wie gefährlich ist, Jugendliche lediglich aufgrund provokanter Äußerungen zu Gefängnisstrafen zu verurteilen.

Niemand kann sich freilich vorstellen, welche Folgen eine neue, vergleichbare Erschütterung oder gar eine ganze Reihe solcher Aktionen hätte. Könnte dann eine gesellschaftliche Bruchlinie zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen entstehen, die sich politisch nach den Kriterien der ethnischen Abstammung, der Kultur und der Religion positionieren? Darauf setzen die Dschihadisten und die Rechtsextremisten, einschließlich der israelischen. Hier lauert die große Gefahr eines „clash of civilizations“. Was kann man dieser Gefahr entgegensetzen? Gewiss nicht die Idee einer auf wundersame Weise befriedeten Gesellschaft, die angesichts der Ghettos, der regionalen Gegensätze und der gesellschaftlichen Gewalt ohnehin nicht erreichbar ist. Vielmehr muss man auf Kämpfe setzen, die eher geeignet sind, die Übel der Gesellschaft anzugehen. Das erfordert eine neue europäische Politik. Und darum geht es bei dem Kampf, der in Griechenland und Spanien begonnen hat.

Sozialisten in der Rolle des Aushilfskellners

Der damalige griechische Regierungschef Antonis Samaras hatte sofort erfasst, wie man das Massaker in den Räumen von Charlie Hebdo für die eigenen Zwecke ausbeuten kann: „Heute hatten wir in Paris ein Massaker mit zwölf Toten, und hierzulande gibt es welche, die ausländische Migranten einladen und allen die Einbürgerung versprechen!“ Für Nikos Filis legt dieses Verbrechen entschieden andere Schlussfolgerungen nahe. Der Redaktionsleiter der Zeitung Avgi, deren Mehrheitseigner die Syriza ist, erklärt mir in seinem Athener Büro: „Das Attentat könnte die europäische Zukunft beeinflussen. Sowohl in Richtung Le Pen und extreme Rechte als auch in Richtung eines vernünftigeren Umgangs mit dem Problem. Denn die Sicherheitsfrage kann nicht allein von der Polizei gelöst werden.“ Bei den griechischen Wählern kommt eine solche Analyse kaum besser an als im Rest Europas. Das weiß auch Vassilis Moulopoulos, der Kommunikationsberater von Alexis Tsipras. Aber das ficht ihn nicht an: „Wenn Syriza in der Migrantenfrage weniger prinzipienfest wäre, hätten wir bereits 50 Prozent der Stimmen. Aber das ist einer der wenigen Punkte, in dem wir uns alle einig sind!“

Seit Jahren scheitern alle wirtschaftspolitischen Konzepte, die auf dem europäischen Kontinent umgesetzt werden – am brutalsten in Griechenland und Spanien. Aber während die Regierungsparteien in den anderen Ländern der Europäischen Union sich offenbar mit dem Aufstieg der extremen Rechten abfinden – oder sogar kalkulieren, dass sie sich mittels Bündnissen gegen die extreme Rechte an der Macht halten können – eröffnen Syriza und Podemos eine andere Perspektive (siehe den Text auf Seite 8).

Ähnlich schnell wie die griechische und die spanische Linke ist in Europa keine andere Bewegung gewachsen. Beide haben, wiewohl zu Beginn der Finanzkrise vor fünf Jahren praktisch inexistent, ein doppeltes Kunststück vollbracht. Zum einen präsentieren sie sich als glaubwürdige Kandidaten für eine Regierungsübernahme, die Syriza bereits geschafft hat. Das bedeutet zum zweiten, dass die sozialistischen Parteien ihrer Länder, die Mitverantwortung für das allgemeine Desaster tragen, auf die Rolle des Aushilfskellners verwiesen sind. So wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die britischen Liberalen durch die Labour Party und in Frankreich die Radikale Partei durch die Sozialisten verdrängt wurden.2

Obwohl der Niedergang der sozialdemokratischen Parteien bereits im vollen Gange ist, stellt sich die Frage: Könnte der Sieg einer anderen Linken in Griechenland oder Spanien zu einer allgemeinen Umorientierung der europäischen Politik führen? Aus Athener Perspektive erscheint das als ungeheuer schwierig. In Griechenland steht die Syriza allein gegen alle; in Europa wird sie von keiner Regierung unterstützt.

Die neue griechische Regierung steht also vor noch größeren Problemen als die Regierung Hollande im Mai 2012. Damals konnte sich der frisch gewählte Präsident für die Forderung, den europäischen Stabilitätspakt „neu zu verhandeln“, auf ein klares Mandat der Wähler stützen, aber auch auf einen Anteil von 19,3 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU – gegenüber 2,3 Prozent Griechenlands und 12,1 Prozent Spaniens (BIP-Zahlen von 2013). Tatsächlich hat Hollande es dann gar nicht versucht. Wo das hinführte, ist bekannt.

Bei der Syriza schätzt man die Lage optimistischer ein. Man hofft, dass der Sieg einer Linkspartei in Griechenland oder Spanien der sprichwörtliche Funke sein könnte, der die ganze Steppe in Brand setzt. „Die öffentliche Meinung in Europa ist für uns günstiger“, meint Filis. „Selbst die europäischen Eliten merken, dass die bislang verfolgten Strategien in die Sackgasse führen. Schon aus eigenem Interesse fassen sie eine andere Politik ins Auge, denn sie merken: Die Architektur der Eurozone verhindert, das Europa jemals zum Global Player werden kann.“

Oft kündigt die sprichwörtliche Schwalbe gerade dort den Frühling an, wo der Winter besonders hart war. Vielleicht erklärt dies, warum die Syriza-Strategen die Meinungsdifferenzen zwischen der deutschen Kanzlerin und Mario Draghi so erfreulich finden. Jedenfalls sehen sie in dem Ankauf von Staatsanleihen (dem sogenannten Quantitative Easing), den der EZB-Präsident drei Tage vor den griechischen Wahlen verkündet hat, einen Beleg dafür, dass Draghi das Scheitern der Austeritätspolitik endlich eingesteht.

In Athen ist dieses Scheitern nicht zu übersehen. Aber die Brutalität eines Sparkurses, der zur Folge hat, dass die Wohnungen ungeheizt bleiben, ansteckende Krankheiten um sich greifen und die Selbstmordrate dramatisch angestiegen ist, bringt nicht jeden dazu, seinen politischen Kurs zu überdenken. Jedenfalls nicht die Architekten dieser Politik, die für ihre Fähigkeit, die Nerven zu behalten, gut bezahlt werden.

Und die makroökonomischen Indikatoren sind kaum erbaulicher. Nach fünf Jahren Schocktherapie hat Griechenland dreimal so viele Arbeitslose wie 2008 (25,8 Prozent der ökonomisch aktiven Bevölkerung); die Wirtschaft schrumpfte im Zeitraum 2009 bis 2013 um insgesamt 26 Prozent; 2014 ist das BIP nur minimal um 0,6 Prozent gewachsen. Und die Staatsverschuldung stand Ende 2014 bei 175 Prozent des BIPs. Ein katastrophales Resultat für ein Programm, dessen wichtigstes Ziel es sein soll, die Verschuldungsrate, die 2009 bei 113 Prozent des BIPs lag, bis 2020 auf 120 Prozent zu drücken.3

Vielleicht ist das der Grund, warum Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy, der fast ebenso glanzvolle Wirtschaftsdaten zu bieten hat, kurz vor den Wahlen nach Athen fuhr, um dort seinen Kollegen Samaras mit den Worten zu unterstützen: „Unsere Länder benötigen Stabilität, keinen Schlingerkurs und keine Ungewissheit.“ Da haben sich zwei brillante und rational denkende Köpfe gefunden.

Ins Alltagsgriechisch übersetzt ist „Ungewissheit“ heute freilich fast ein Synonym für Hoffnung. Die Fortsetzung der Politik von Samaras würde noch mehr Steuerentlastungen für Unternehmen wie für mittlere und hohe Einkommen bedeuten, noch mehr Privatisierungen und weitere „Reformen“ des Arbeitsmarkts. Und nicht zu vergessen: noch größere Überschüsse des „Primärhaushalts“, um die Schulden abzutragen, selbst wenn man dafür die öffentlichen Ausgaben in allen anderen Bereichen kappen muss.

Wie Jannis Milios, Wirtschaftswissenschaftler und offizieller „Chefökonom“ der Syriza erläutert, plante die Samaras-Regierung, diese „Primärüberschüsse“ dauerhaft auf über 3 Prozent des BIPs zu steigern: auf 3,5 Prozent für 2015, auf 4,5 für 2016 und auf 4,2 Prozent in den darauffolgenden Jahren. Das sei eine „völlig irrationale“ Festlegung, meint Milios, „es sei denn, man hat sich für eine ewige Austeritätspolitik entschieden“. Wobei man der Wahrheit halber hinzufügen muss, dass Samaras nicht viel zu entscheiden hatte. Er setzte nur die Vereinbarungen um, die die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF seiner Regierung diktiert hatten.

Syrizas Programm gegen die humanitäre Krise

Was hat die Syriza vor, um aus diesem Zwangsrahmen auszubrechen? Sie will zu allererst ein Programm „gegen die humanitäre Krise“ umsetzen, was eine Umschichtung der öffentlichen Ausgaben bedeutet, also neue Haushaltsprioritäten, ohne das Gesamtbudget auszuweiten. Dabei hat man die Kosten genau durchgerechnet: etwa für die kostenlose Stromversorgung der ärmsten Haushalte, verbilligte Nahverkehrstarife für Langzeitarbeitslose, Nahrungsmittelhilfen für einkommenslose Familien und die kostenlose medizinische Versorgung für Leute, die aus der Krankenversicherung herausgefallen sind.4 All diese Programme sollen durch Maßnahmen gegen Korruption und Steuerhinterziehung finanziert werden. Wie die Regierung Samaras selbst einräumte, entgehen dem Fiskus durch Steuerhinterziehung pro Jahr mindestens 10 Milliarden Euro.

„Öffentliche Projekte sind bei uns vier- bis fünfmal so teuer wie anderswo in Europa“, erläutert Nikos Filis, und das liegt nicht nur daran, dass Griechenland viele Inseln hat und nicht so topfeben wie Belgien ist. Milios verweist seinerseits darauf, dass bei den 55 000 Griechen, die jeweils mehr als 100 000 Euro ins Ausland transferiert haben, die exportierte Summe in 44 Prozent der Fälle nicht durch das deklarierte Einkommen erklärbar ist. Dennoch seien von diesen 24 000 potenziellen Steuerbetrügern in den letzten zwei Jahren nur 407 von den Steuerbehörden kontrolliert worden.

Das Sofortprogramm von Syriza gegen die humanitäre Krise, dessen Kosten die Syriza mit 1,882 Milliarden Euro beziffert, wird von Maßnahmen zur Wiederankurbelung der Wirtschaftsaktivität flankiert: Im öffentlichen Dienst will man mehr als 300 000 auf ein Jahr befristete, aber verlängerbare Stellen schaffen, der Mindestlohn soll auf das Niveau von 2011 (von derzeit 580 auf 751 Euro) angehoben werden, ebenso die niedrigsten Renten um bescheidene 8,3 Prozent. Die Gesamtkosten dieses Programms, das auch Steuererleichterungen und eine Schuldenstreichung für überschuldete Haushalte und Unternehmen vorsieht, belaufen sich auf 11,382 Milliarden Euro, die ebenfalls durch neue Einnahmen finanziert werden sollen. Wie Jannis Milios betont, ist dieses Programm nicht verhandelbar – weder mit irgendwelchen Koalitionspartnern noch mit den Gläubigern. „Es ist eine Frage nationaler Souveränität und erhöht unser Defizit nicht. Wir beabsichtigen diese Politik umzusetzen, egal was bei der Neuverhandlung der Schulden herauskommt.“

Verhandlungsbereit ist die Syriza dagegen, was die 320 Milliarden Euro an griechischen Schulden betrifft. Aber auch hier setzt man darauf, dass einige Staaten nur auf die Gelegenheit warten, sich Griechenland anzuschließen. „Das Problem der Schulden ist kein griechisches, sondern ein europäisches“, erklärt Milios. „Frankreich und andere Länder können ihre Gläubiger heute nur deshalb bedienen, weil die Zinsen so niedrig sind. Das wird nicht so bleiben. Und zwischen 2015 und 2020 muss zum Beispiel Spanien schon die Hälfte seiner Staatsschulden zurückzahlen.“

Unter diesen Bedingungen wird die von Tsipras vor zwei Jahren geforderte „europäische Schuldenkonferenz“ zu einer realistischen Option.5 Irlands Finanzministerin Joan Burton sprach bereits von einer „verdienstvollen“ Anregung. Tsipras verweist bei seinem Vorschlag darauf, dass eine ähnliche Konferenz 1953 stattgefunden hat. Damals wurde Deutschland etwa die Hälfte seiner Kriegsschulden erlassen. Die Syriza hofft, dass eine solche Konferenz die Möglichkeit eröffnet, „die Austeritätspolitik ein für allemal zu beenden“.

Wie stellt man sich das vor? Die Konferenz soll einen Teilerlass der öffentlichen Schulden absegnen, während der verbleibende Teil bei der EZB abgeladen wird, die für eine Refinanzierung dieser Staatspapiere sorgen soll. Mario Draghis EZB hat sich jedenfalls ziemlich generös gegenüber den privaten Banken gezeigt und deren Bonds als Sicherheit für neue Kredite akzeptiert. Das ging so weit, dass die Banken ihre griechischen Papiere abstoßen konnten, von denen heute praktisch alle bei den Notenbanken der Eurostaaten liegen.

Das verleiht diesen Staaten, vorweg Deutschland und Frankreich, allerdings eine besondere Macht. Angela Merkel moniert natürlich, die Hauptleidtragenden bei einer Neuverhandlung der griechischen Schulden wären vor allem die deutschen Steuerzahler, weil Deutschland mehr als 20 Prozent der griechischen Staatspapiere hält. Deshalb werde Berlin nicht zustimmen, versichert Finanzminister Schäuble.

Die französische Position ist wie so oft viel weniger klar. Einerseits wird Athen ermahnt, sich „an die übernommenen Verpflichtungen zu halten“ (Präsident Hollande), und aufgefordert, „die notwendigen ökonomischen und politischen Reformen fortzuführen“ (Wirtschaftsminister Macron). Andererseits erklärt man sich bereit, die griechischen Schulden umzustrukturieren oder die Rückzahlungsmodalitäten zu verändern (Finanzminister Sapin).

Versuchskaninchen der Troika

Aber nicht nur in Deutschland schlägt die europäische Rechte Alarm. Finnlands Regierungschef Alexander Stubb tritt jeder Forderung nach Schuldenstreichung mit einem „entschiedenen Nein“ entgegen. Und in Frankreich fragt die konservative Tageszeitung Le Figaro ihre Leser: „Macht sich Griechenland erneut daran, Europa zu vergiften?“ Um ihnen kurz darauf folgende Rechnung aufzumachen: „Jeder Franzose würde 735 Euro für die Streichung der griechischen Schulden zahlen.“6 Es versteht sich von selbst, dass man als Figaro-Leser nichts über die Kosten erfährt, die durch Steuerobergrenzen zugunsten der Zeitungseigentümer oder Subventionen für Rüstungsunternehmer (darunter die Besitzer des Figaro) oder Finanzhilfen für die Presse entstehen.

Berlin hat Athen für den Fall, dass die neue Regierung gegen Haushalts- und Finanzdisziplin verstößt, inoffiziell mit dem Rauswurf aus dem Euro gedroht. Die Griechen dagegen wünschen sich beides: eine Lockerung der Austeritätspolitik und den Verbleib in der Eurozone. Das ist auch die Linie der Syriza. Dies erklärt sich zum Teil daraus, dass das kleine, ausgeblutete Griechenland davor zurückschreckt, alle Schlachten zugleich zu schlagen. So sieht es jedenfalls die Journalistin Valia Kaimaki, die der Syriza nahesteht. „Wir waren die Versuchskaninchen der ‚Troika‘ und wollen jetzt nicht die Versuchskaninchen für einen Euroaustritt werden.“ Da wolle man lieber einem größeren Land wie Spanien oder Frankreich den Vortritt lassen.

Der Tsipras-Berater Vassilis Moulopoulos sieht es ganz nüchtern: „Ohne europäische Unterstützung wird gar nichts gehen.“ Diese Einschätzung erklärt, warum die Syriza so großen Wert darauf legt, Unterstützung auch jenseits der radikalen Linken und Ökologen zu finden – vor allem bei den Sozialisten. Allerdings haben die Griechen mehrfach die Kapitulation der Sozialdemokratie erlebt, seitdem Andreas Papandreou 1985 als Pasok-Regierungschef seiner Partei die große liberale Wende aufgezwungen hat. „Wäre er auf dem linken Kurs geblieben, gäbe es heute keine Syriza“, meint Moulopoulos und verweist auf das Beispiel Oskar Lafontaine. Der habe 1999 nach seinem Rücktritt als deutscher Finanzminister die Unfähigkeit der Sozialdemokratie beklagt, auch nur „die bescheidensten Reformen“ umzusetzen. Für Moulopoulos steht fest: Die Globalisierung und der „Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz“ haben die Sozialdemokratie völlig zerstört.

Umso problematischer erscheint die Hoffnung, eine wohlwollende Haltung der Sozialdemokratie gegenüber den Forderungen der griechischen Linken könnte dieser helfen, der unnachgiebigen Angela Merkel Paroli zu bieten. In Wahrheit zeigt der Sieg der Syriza – und der mögliche Sieg von Podemos –, dass entgegen den wiederholten Versicherungen von Präsident Hollande oder Italiens Regierungschef Matteo Renzi eine europäische Politik möglich ist, die dem Austeritätsdogma eine Absage erteilt. Eine solche Entwicklung wäre eine echte Bedrohung für die deutsche Rechte – und nicht nur für sie.

In den kommenden Monaten könnte sich die Zukunft der EU entscheiden. Bei der Wahl von Präsident Hollande im Frühjahr 2012 lautete die Alternative: Kühnheit oder Stillstand.7 Drei Jahre später droht nicht einfach Stillstand, sondern viel Schlimmeres. „Wenn wir Europa nicht ändern, wird es die extreme Rechte tun“, hat Tsipras prophezeit. Kühnheit ist heute also umso dringlicher gefordert. Dabei ist die Aufgabe der griechischen und spanischen Linken bereits so gewaltig, dass man zögert, ihnen auch noch die riesige Verantwortung aufzubürden, die Demokratie auf dem alten Kontinent zu verteidigen und den „clash of civilizations“ abzuwenden. Und doch ist es genau das, worum es heute geht.

„Griechenland, das schwache Kettenglied Europas, könnte das starke Kettenglied der europäischen Linken werden“, meint Moulopoulos hoffnungsfroh. Und wenn nicht Griechenland, dann Spanien.

Doch zwei Länder sind nicht gerade viel, um die Ängste und Verzweiflung zu besiegen, die von der Propaganda der extremen Rechten wie vom Nihilismus der dschihadistischen Salafisten gleichermaßen geschürt werden. „Ein bescheidener und verrückter Traum“ hat der Fußballerpoet Eric Cantona sein Buch betitelt. Die Hoffnung, dass uns die europäische Politik nicht länger zu diesem ewigen Kreislauf verdammt, bei dem sich die immer gleichen Leute an der Macht ablösen, um die gleiche Politik zu verfolgen und den Wählern die gleiche Ohnmacht vor Augen zu führen. Ihre kollektive Erfolgsbilanz ist zu unserem Albtraum geworden. Ob dieser Albtraum in Athen, in Madrid endlich ein Ende findet?

Fußnoten: 1 Siehe Serge Halimi, „Ablenkung mit Burka“, Le Monde diplomatique, April 2010. 2 Diese Wachablösung erfolgte 1922 in Großbritannien und 1936 in Frankreich. 3 Der starke Anstieg der Verschuldungsquote erklärt sich auch dadurch, dass im selben Zeitraum das griechische BIP, das den Nenner dieser Quote ausmacht, drastisch geschrumpft ist. 4 Eine englische Kurzfassung des Thessaloniki-Programms unter: www.transform-network.net/blog/blog-2014/news/detail/Blog/-5ed1064aab.html. 5 Alexis Tsipras, „Unsere Lösung für Europa – ein Vorschlag“, Le Monde diplomatique, Februar 2013; siehe auch Alexis Tsipras, „Wir Europäer“, Le Monde diplomatique, Dezember 2013. 6 Siehe die Leitartikel vom 6. und 8. Januar 2015. 7 Serge Halimi, „L’audace où l’enlisement“, in der deutschen Ausgabe: „Das Spardiktat. Was in Frankreich zur Wahl steht“, Le Monde diplomatique, April 2012. Aus dem Französischen von Raul Zelik

Le Monde diplomatique vom 12.02.2015, von Serge Halimi