Griechenland auf dem Boden der Tatsachen
von Niels Kadritzke
Auf seiner letzten Pressekonferenz vor den Wahlen vom 25. Januar erlaubte sich Alexis Tsipras bei aller Siegeszuversicht einen Moment des Zögerns. Er sprach von der historischen Gelegenheit, die Zukunft Griechenlands zu gestalten, die sich der Linken zum ersten Mal biete – „oder zum letzten Mal“, wie er leise hinzufügte, als rede er mit sich selbst.
Tsipras und seine Mannschaft sind sich bewusst, dass für die erste griechische Linksregierung die große Bewährungsprobe bevorsteht. Und dass es auch schiefgehen kann – mit weitreichenden Folgen nicht nur für die griechische Linke, sondern für die gesamte Gesellschaft. Der Wahlsieg der „Allianz der radikalen Linken“ hat bei ihren Anhängern hohe Erwartungen geweckt. Entsprechend groß wäre die Enttäuschung, falls die Tsipras-Mannschaft ihr proklamiertes Hauptziel, mit den Gläubigern Griechenlands einen ökonomisch tragfähigen und sozial verträglichen Ausweg aus der Schuldenkrise auszuhandeln, nicht einlösen könnte. In diesem Fall stünde nicht einfach die Popularität der Hoffnungsträger oder die Stabilität ihrer Regierung auf dem Spiel. Wenn es schiefgeht, droht Griechenland der ökonomische und soziale Zusammenbruch.
Das wissen alle Beteiligten, nicht zuletzt die griechischen Bürger, die der Linken einen begrenzten Regierungsauftrag erteilt haben. Von diesen Wählern existiert außerhalb das Landes ein unklares, wenn nicht verzerrtes Bild – sowohl bei den Tsipras-Gegnern als auch bei vielen seiner europäischen Anhänger, die den Syriza-Erfolg wie ihren eigenen feiern. Natürlich hat sich die griechische Gesellschaft radikalisiert, aber zugleich sind die meisten Griechen realistisch geblieben – und misstrauisch gegenüber ihrer gesamten politischen Klasse.
Das drückt sich auch im Wahlergebnis aus, das vor allem ein Strafgericht über die Koalition aus Nea Dimokratia (ND) und Pasok ist. Die beiden Altparteien wurden nicht nur für die mörderische „Austeritätspolitik“ der letzten fünf Jahre abgestraft, die sie als Auftragnehmer der sogenannten Troika exekutiert haben, sondern auch aus einem zweiten Grund: Sie haben über vier Jahrzehnte hinweg, seit dem Fall der Militärjunta 1974, eine Klientelpolitik betrieben, die Griechenland in die Verschuldung getrieben und letztlich an den Rand des Abgrunds gebracht hat.1
Sieg über das korrupte politische Establishment
Mit der Bilanz, die diese Parteien zu verantworten haben, kann man keine demokratischen Wahlen gewinnen: Die Volkswirtschaft ist seit 2008 um ein Viertel geschrumpft; die Arbeitslosenrate lag Ende 2014 bei 26 Prozent – weit über 70 Prozent davon sind Langzeitarbeitslose, die keinerlei soziale Absicherung haben – und die Staatsverschuldung hat die EU-Rekordmarke von 176 Prozent des BIPs erreicht. Angesichts solcher Zahlen ist der Absturz der Altparteien keine Überraschung: Während ND und Pasok 2009 noch 80 Prozent der Wähler gebunden hatten, kamen sie 2015 zusammen nur noch auf 32,5 Prozent. Noch bezeichnender ist, dass von den knapp 28 Prozent, die der ND noch geblieben sind, überproportional viele älter sind als 60. Die Rentnerstimmen sind die letzte Krücke der traditionellen Rechtspartei, die also buchstäblich am Stock daherkommt.
Der Sieg der Syriza, die achtmal so viele Wählerstimmen bekommen hat wie vor vor fünf Jahren,2 ist somit keine Überraschung. Auch nicht, dass eine junge Generation auf Tsipras setzt, die ihre Zukunft angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent vorwiegend im Ausland suchen muss. Das griechische Wahlergebnis ist aber nicht nur die Folge eines sozial zerstörerischen und ökonomisch widersinnigen Sparprogramms. Es ist auch ein großes Hoffnungszeichen, und zwar für ganz Europa. Die gebeutelten Griechen haben ihren Protest gegen das Versagen ihrer alten Elite mit der Wahl einer linken Partei artikuliert, statt der rechtsextremistischen Chrysi Avgi nachzulaufen. Das war keineswegs selbstverständlich. Bei dem stets vorhandenen latenten Nationalismus war durchaus zu befürchten, dass eine so tief gehende soziale Krise die rechtsradikalen Kräfte stärkt.
Wie real dieser Gefahr war und ist, zeigte im Wahlkampf die Nea Dimokratia. In dem Bemühen, den Neonazis Stimmen abzujagen, scheute Regierungschef Samaras nicht vor xenophoben Parolen zurück, wie sie in anderen EU-Ländern die Spezialität rechtsradikaler Parteien und Bewegungen sind. Auch deshalb muss man den Sieg der Syriza als „staatspolitischen“ Glücksfall von europäischen Dimensionen würdigen. Man möchte sich ungern ausmalen, wie die Rechtsradikalen unter ähnlichen Krisenbedingungen in anderen EU-Ländern abschneiden würden – von Ungarn und Tschechien bis zu den Niederlanden, Frankreich und Deutschland.
Hier stellt sich allerdings die Frage nach dem Koalitionspartner der Syriza: den „Unabhängigen Hellenen“ (Anel) und ihrem Vorsitzenden Panos Kammenos. Der Sieg „gegen rechts“ wird durch das Bündnis mit einer Partei kontaminiert, die mit dem Begriff „rechtspopulistisch“ noch gut bedient ist. Der einzige Anel-Abgeordnete im Europaparlament sitzt mit der deutschen AfD und der polnischen PiS in einer Fraktion. Und der autoritäre Parteiführer Kammenos betont seine geistige Verwandtschaft mit Nigel Farage und den EU-Gegnern der britischen Ukip.
Dabei verkörpert Kammenos eine sehr eigene griechische Melange, deren Grundsubstanz das Dogma einer „christlich-orthodoxen“ Identität der griechischen Nation ist. Das erklärt das Misstrauen gegen Muslime, Juden und jedwede „fremde“ Religion, die militante Homophobie, den Kampf gegen „Überfremdung“ und Einbürgerung von Migrantenkindern, aber auch eine chauvinistische Außenpolitik, die mit den serbischen und russischen Glaubensbrüdern eine „orthodoxe“ Achse schmieden will. Und das alles verquirlt mit einer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin, die den meisten Syriza-Anhängern ein Gräuel ist. Der einzige Berührungspunkt zwischen beiden Koalitionspartnern ist der Widerstand gegen die Troika, den Kammenos allerdings als „nationalen Kampf“ gegen die deutschen Okkupanten sieht und nicht etwa als soziale Protestbewegung gegen die ungerechte Verteilung der Krisenlasten.
Für die Syriza-Führung ist die Anel ein peinlicher Bettgenosse, aber auch ein ziemlich bequemer. Und das aus zwei Gründen: Erstens ist die Partei auf dem Abstieg und hat es nur noch knapp ins Parlament geschafft; zweitens ist Kammenos mit seinem aufgeblähten Ego ziemlich berechenbar. Der polternde Populist ist nämlich zugleich ein schamloser Opportunist. Schon im Sommer 2012 war er bereit, die Anti-Troika-Linie der Anel aufzugeben und in die Samaras-Regierung einzutreten. Seine einzige Bedingung: das Verteidigungsministerium als persönliche Beute. Tsipras bewilligte ihm nun den ersehnten Posten, womit er ihn fürs Erste ruhiggestellt hat.
Vor allem wird er sich nicht in die „große Politik“ einmischen, das heißt in die Verhandlungen über die griechischen Staatsschulden mit den EU-Partnern, der EZB und dem IWF. Und mit den Gläubigern einen erträglichen Kompromiss in der Schuldenfrage zu finden, hat für die Syriza allerhöchste Priorität. Dies sei der Hauptgrund für das „bequeme“ Bündnis mit Kammenos, versichern informierte Quellen in Athen. Man wollte einen Koalitionspartner, der auf Mitsprache in dieser Frage verzichtet. Das steht angeblich in einem internen Koalitionsvertrag, der auch die Gegenleistung festschreibt: Die Regierung soll keine Reformen vorantreiben, die der Anel gegen den Strich gehen.3
Das klingt wie ein schmerzhaftes Zugeständnis. Aber in Syriza-Kreisen gibt man zu, dass der Preis verkraftbar ist: Tsipras sei es gar nicht unlieb, wenn er darauf verzichtet, Themen wie die Trennung von Staat und Kirche oder die Schwulenehe anzupacken, die in der Gesellschaft nicht mehrheitsfähig sind. Solche heiße Eisen will man lieber erst mal abkühlen lassen. In diesen Kreisen heißt es auch, dass ein rechter Patriot an der Spitze des Verteidigungsministeriums das Misstrauen nicht nur des Militärs, sondern aller Uniformträger gegen Syriza dämpft, die in ihrem Programm die Abrüstung der Bereitschaftspolizei bei Demonstrationseinsätzen fordert. Noch vor Schließung der Wahllokale hielt es die Syriza-Führung für geboten, den höchsten Chargen von Polizei und Militär zu versichern, dass sie nicht mit einer Ablösung rechnen müssen.
Alles in allem stellt sich die Mesalliance von Syriza und Anel als ein taktisches Bündnis dar, dessen Haltbarkeit nur bis zu einer Lösung des Schuldenproblems garantiert ist. Im Fall eines Erfolgs wird sich Syriza wahrscheinlich nach anderen Partnern umsehen oder über Neuwahlen eine Alleinregierung anstreben. Am 26. Januar musste man, als die absolute Mehrheit verpasst war, blitzschnell eine Koalition präsentieren, um aufkommende Gerüchte über eine zweite Wahl zu ersticken. Der andere Kandidat, die neu gegründete liberale Partei „To Potami“ (Der Fluss), habe, so heißt es, kein Interesse gezeigt. Zudem hatte der Sprecher des linken Syriza-Flügels, Panagiotis Lafazanis, eine Koalition mit Potami noch kurz vor den Wahlen definitiv ausgeschlossen. Und einen Flügelstreit konnte und wollte die Syriza-Führung in der Stunde des großen Wahlsiegs nicht riskieren.
Syrizas Leitprinzip: Pragmatismus
So gesehen war die Koalition mit Kammenos tatsächlich alternativlos. Die Syriza beruft sich mithin auf einen Pragmatismus, den der Wahlausgang erzwungen habe. Pragmatismus kommt vom griechischen „pragma“: das Ding. Pragmatismus heißt, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Dieses Leitprinzip gilt für das gesamte Syriza-Projekt, dessen Schicksal sich in den nächsten Wochen und Monaten entscheiden wird. Das mag für auswärtige Syriza-Fans, die mit den griechischen „Dingen“ weniger vertraut sind, enttäuschend sein. Aber Tsipras, der hohe Erwartungen immer wieder rhetorisch bedient, hat jetzt andere Sorgen. Er muss sein Land zunächst durch die Klippen der Schuldenverhandlungen steuern und anschließend einigermaßen über Wasser halten. Und dabei möglichst auch noch einige zentrale Wahlversprechen einlösen.
Ohne Pragmatismus, ohne Rücksicht auf die realen Gegebenheiten wird das nicht zu schaffen sein. Das hat einer der prominentesten europäischen Syriza-Sympathisanten, der linke Querdenker Slavoj Zizek, mit brutaler Offenheit ausgesprochen: „Es bringt für Griechenland überhaupt nichts, wenn man eine verrückte linksradikale Revolution ausprobiert, mit der man scheitert, um hinterher nette historische Erinnerungen zu pflegen.“4 Syriza könne nur eine Politik der „Mäßigung“ einschlagen, also mit Augenmaß auf Kompromisse hinarbeiten. „Wir müssen absolute Pragmatiker sein“, so Zizek. Betrachten wir also die Dinge, wie sie sind.
Der Wahlsieg der linken Syriza und die „pragmatische“ Koalition mit einer rechten Kleinpartei garantieren keine Regierungsfähigkeit, schon gar nicht in einem Land, dem noch immer der Staatsbankrott droht. Bestimmend ist die Notwendigkeit, die Schuldenkrise zumindest zu überbrücken. Ob das gelingt, hängt von zwei Faktoren ab: von den realen ökonomischen Gegebenheiten, die sich mit den Wahlen nicht verändert haben, und vom Verhalten der europäischen Partner Athens, die zugleich ihre Gläubiger sind.
Die Tsipras-Regierung muss aber auch eine weitere „Gegebenheit“ berücksichtigen: Die Erwartungen ihrer Wähler und die Haltung derer, die sie nicht gewählt haben. Der Triumph vom 25. Januar bedeutet keineswegs, dass Syriza eine gesellschaftliche Mehrheit repräsentiert. 36,5 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 63 Prozent sind keine Basis, auf die man sich bei schwierigen und folgenreichen Entscheidungen stützen könnte. Dass die Linkspartei fast die absolute Mehrheit der 300 Parlamentssitze erringen konnte, liegt am griechischen Wahlgesetz, das der stärksten Partei zusätzlich 50 Sitze zuspricht – eine undemokratische Regelung, die Syriza abschaffen will.
Ein Großteil der neuen Syriza-Wähler kommt aus der politischen Mitte: 12 Prozent sind frühere ND-Wähler. Der größte Zustrom kam jedoch von der Pasok, die 2009 auf knapp 44 Prozent gekommen war. Mindestens zwei Drittel davon hat Syriza geerbt. Es ist kein Zufall, dass die Syriza ihren höchsten Stimmenanteil (45 Prozent) auf Kreta erzielen konnte – bis vor fünf Jahren eine uneinnehmbare Hochburg der Pasok.
Zu einer nüchternen Analyse des Syriza-Siegs gehört auch der Zulauf durch die „Opportunisten der letzten Stunde“: Wenn die Umfragen der stärksten Partei kurz vor der Wahl einen uneinholbaren Vorsprung bescheinigen, schlagen sich viele noch auf die Seite der Sieger. Dieser Mitläufereffekt dürfte der Syriza 3 bis 5 Prozent gebracht haben. Auch darüber sind sich Tsipras und seine Genossen im Klaren. Vor allem aber können sie keine Illusionen darüber haben, wofür die Mehrheit ihrer Wähler gestimmt hat und wofür nicht: nicht für die linkssozialistische Bewegung, die Syriza noch vor fünf Jahren war, sondern für eine Partei, die versprochen hat, mit den Gläubigern und Partnern Griechenlands einen neue, bessere Schuldenregelung auszuhandeln.
Diese Wähler waren nur zu überzeugen, weil Syriza seit Anfang 2013 ihre alten Parolen verworfen hat, wonach sie die Vereinbarungen mit dem Gläubigertrio „zerreißen“ und die griechischen Verpflichtungen „einseitig aufkündigen“ würde. Auch die Drohung, eine Syriza-Regierung werde unverzüglich alle Zahlungen an die Gläubiger einstellen, wurde explizit zurückgenommen.5 Entscheidend war jedoch das klare Bekenntnis der Parteiführung, sie werde alles tun, um Griechenland in der Eurozone zu halten. Ohne diese Absage an jede Form eines „Grexit“ hätte die Linkspartei nicht einmal 20 Prozent der Wähler für sich gewonnen. Anfang Januar ergab eine Umfrage, dass über 80 Prozent der Befragten den Euro in Griechenland behalten wollen, „was immer es erfordert“.6
Für Tsipras und die Parteispitze war es deshalb wichtig, dass sie die Syriza-Fraktion „Linke Plattform“ (AP) zumindest zum Stillhalten in der Grexit-Frage verpflichten konnten. Die AP repräsentiert etwa 30 Prozent der Parteimitglieder und stellt die Euro- wie die EU-Mitgliedschaft Griechenlands nach wie vor infrage. Doch ihr Sprecher Panagiotis Lafazaris – inzwischen Industrie- und Energieminister – erklärte kurz vor den Wahlen gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti, die Option eines Euro-Austritts stelle sich für Syriza nicht.
Wenig Illusionen bei den Wählern
Viele Vorwahl-Umfragen zeigten, dass die Griechen von der Regierung keine Wunder erwarten. So wenig sie die windigen Erfolgsstorys der Samaras-Regierung geglaubt haben, so skeptisch beurteilten sie die Realisierbarkeit eines umfassenden Schuldenschnitts, wie ihn der Wahlkämpfer Tsipras in Aussicht gestellt hat. Etwa 70 Prozent der Befragten rechneten nicht mit einem maximalen Verhandlungserfolg, das galt auch für eine Mehrheit der Syriza-Wähler.
Für die neue Regierung ist diese Illusionslosigkeit der Wähler eine große Chance. Die Ernüchterung, die sie den Griechen zumuten muss, kann eine Bevölkerung kaum enttäuschen, die ohnehin nicht allzu viel erwartet hat und damit auch recht behielt: In den Gesprächen, die Tsipras und Finanzminister Varoufakis bei ihrer Tour d’Europe Anfang Februar geführt haben, war vom großen Schuldenschnitt keine Rede mehr. Ebenso wenig von einer paneuropäischen Schuldenkonferenz, die der Syriza-Chef seit Jahren fordert (siehe Artikel auf Seite 4/5).
Der Rahmen der Vereinbarungen mit den europäischen Partnern solle „nicht gesprengt, sondern verändert“ werden, erklärte Tsipras am 4. Februar in Brüssel, man werde alles tun, „um eine gemeinsame, tragfähige und allseits akzeptable Lösung für unsere gemeinsame Zukunft“ zu finden. Und er fügte hinzu, die Geschichte der EU sei seit jeher „eine Geschichte von Meinungsverschiedenheiten, an deren Ende Kompromisse stehen“.
Ein für alle Seiten akzeptabler Kompromiss erfordert allerdings zwei Dinge, die derzeit knapp sind: ausreichend Zeit bei den Griechen und hinreichend guten Willen bei den europäischen und internationalen Gläubigern – vor allem in Berlin.
Die Modalitäten einer tragfähigen Regelung des griechischen Schuldenproblems sind unter Ökonomen lang und breit diskutiert worden. Dabei glaubt kaum noch jemand, dass die griechische Staatsschuld in Höhe von 175 Prozent des BIPs jemals abzutragen ist. Linke Ökonomen wie Paul Krugman oder Rudolf Hickel sind sich mit Chefkommentator Martin Wolf von der Financial Times und Leitartiklern von Wirtschaftsdiensten wie Reuters oder Bloomberg darin einig, dass zumindest ein „weicher Haircut“ am Ende unvermeidlich sein wird. Bloomberg-Kommentator Justin Fox schreibt: „Gebt den Griechen eine Atempause und hört damit auf, ihnen ihre Wachstumsperspektive abzuwürgen.“ Die Vorschläge von Varoufakis seien mitnichten „abseitige Verrücktheiten“, aber um sie umzusetzen, „müsste er der Finanzminister von Deutschland und nicht von Griechenland sein“.7
Wie schwer der deutsche Finanzminister zu überzeugen ist, hat Varoufakis am 5. Februar in Berlin erfahren. In Athen hofft man, Paris und Rom als „halbe“ Bündnispartner zu gewinnen. Die Regierung in Berlin scheint es jedoch nicht zu stören, dass sie mit ihrer Haltung zunehmend isoliert dasteht.
Der große Kompromiss, den Varoufakis und Tsipras anstreben, wird, wenn überhaupt, erst im Frühsommer kommen. Die Zeit wird knapp, denn Mitte März könnte die Staatskasse leer sein; die Pessimisten in Athen sagen, sogar schon früher. Das hat vor allem zwei Gründe. Zum einen sind die Steuereinnahmen seit Dezember 2014 drastisch zurückgegangen. Das ist zwar in einer Vorwahlperiode immer so, aber dieses Mal ist das Loch besonders groß, weil viele Griechen die Immobiliensteuer nicht gezahlt haben, deren Abschaffung die Syriza versprochen hat. Anfang Februar belief sich der Rückstand gegenüber den geplanten Steuereinnahmen bereits auf 2,5 Milliarden Euro. Und aus dem Finanzministerium verlautet, dass die Barreserven der Regierung auf 1,5 Milliarden Euro geschmolzen sind.
Zudem wächst das Defizit in den Sozialkassen, weil die Diskrepanz zwischen Einnahmen und Auszahlungen immer größer wird. Die Einnahmen sinken erstens wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der mithin schwindenden Anzahl beitragspflichtiger Beschäftigter; zweitens sind viele Freiberufler insolvent und führen keine Sozialbeiträge mehr ab; drittens sind viele Unternehmen mit den Beiträgen für ihre Beschäftigten im Verzug. Zugleich sind die Ausgaben der Rentenkassen dramatisch gestiegen, weil seit Beginn des Sparprogramms zehntausende öffentliche Bedienstete in die Rente abgeschoben wurden, während viele andere die letzte Chance zur Frühpensionierung genutzt haben. Das wachsende Defizit muss aus dem Staatshaushalt ausgeglichen werden.
Bei diesem Kassenstand stellt sich die Frage, wie die Regierung die versprochenen sozialpolitischen Korrekturen finanzieren will. Tsipras hat nach seinem Wahlsieg bekräftigt, dass Syriza ihr Anfang September verkündetes „Programm von Thessaloniki“ umsetzen will. Das beinhaltet nicht nur die dringend nötige Lebensmittelhilfe und Krankenversorgung für die Ärmsten der Armen, sondern auch die Aufhebung von Maßnahmen, die der Samaras-Regierung von der Troika aufgedrückt wurden. Unter anderem will die Regierung 3 500 entlassene öffentliche Bedienstete wieder einstellen, die niedrigsten Rentenbezüge um 8 Prozent aufbessern und den Mindestlohn für den privaten Sektor von 586 auf 751 Euro anheben. Die Gesamtkosten beziffern die Syriza-Ökonomen auf 11,5 Milliarden Euro.
Aber wo soll das Geld herkommen? Wenn Tsipras darauf keine Antwort findet, steht er in vier Wochen genauso düpiert da wie Pasok-Chef Papandreou im Oktober 2009. Der hatte seinen Wahlkampf gegen die konservative Karamanlis-Regierung mit Versprechungen bestritten und dem Slogan: „Das Geld ist da.“ Um nach dem Wahlsieg festzustellen, dass er einen erdrückenden Schuldenberg übernommen hatte.
Die Syriza-Ökonomen haben vor den Wahlen auf drei mögliche Geldquellen verwiesen. Erstens werde man den von der alten Regierung geplanten Überschuss im „Primärhaushalt“8 reduzieren; zweitens wolle man mit einem konsequenten Kampf gegen Steuersünder die Staatseinnahmen erhöhen und drittens durch einen Schuldenschnitt die Zinsbelastung mindern. Der erste Vorschlag ist machbar und sinnvoll, da der geplante „Primärüberschuss“ von 3 Prozent des BIPs nicht nur auf Kosten sozialer Hilfsprogramme, sondern auch produktiver Investitionen geht. Der zweite Vorschlag ist richtig und notwendig, bringt aber erst mittelfristig höhere Steuereinnahmen. Den dritten Vorschlag, einen radikalen Schuldenschnitt, hat Varoufakis inzwischen selbst zurückgezogen, weil er – obwohl vernünftig – offensichtlich nicht durchzusetzen ist. Stattdessen soll der unmittelbare Finanzbedarf durch Ausgabe von T-Bills abgedeckt werden. Diese Staatsanleihen mit Laufzeit von wenigen Monaten sollen ein „Brückenprogramm“ finanzieren, das den Staat bis zum Abschluss eines großen „New Deal“ – etwa Ende Mai – solvent halten könnte.
Doch bei diesen T-Bills gibt es ein Problem. Weil Griechenland derzeit nicht als kreditwürdig gilt, sind sie nicht auf dem internationalen Finanzmarkt abzusetzen. Als Käufer kommen nur griechische Banken infrage. Der Staat würde sich also bei den eigenen Banken verschulden. Aber der griechische Finanzsektor hält schon T-Bills in der genehmigten Höhe von 15 Milliarden Euro. Finanzminister Varoufakis hat zwar beantragt, den „Deckel“ um weitere 10 Milliarden Euro anzuheben, doch dem müssen die EZB, die EU-Kommission und der IWF zustimmen. Zudem sind die griechischen Banken derzeit nicht liquide, unter anderem weil sie von Dezember 2014 bis Anfang Februar 15 Milliarden Euro an Geldeinlagen verloren haben. Die nötigen Milliarden für den Kauf griechischer T-Bills können sie nur aufbringen, wenn die EZB ihnen Zugriff auf die Emergency Liquidity Assistance (ELA) gewährt, eine Art Liquiditätshilfe für Notfälle. Der EZB-Rat hat ihnen am 4. Februar 60 Milliarden Euro bewilligt, doch dieser Beschluss kann mit einer Zweidrittelmehrheit wieder aufgehoben werden. Wie man es auch dreht und wendet: Für die Lösung ihrer unmittelbaren Finanzierungsprobleme ist die Athener Regierung auf eine Übereinkunft mit der EZB und mit der Eurozone angewiesen.
Vor diesem Hintergrund wird die Reiseroute von Varoufakis verständlich, der zuerst potenzielle Bündnispartner in Paris und Rom aufsuchte, bevor er sich nach Berlin, zum Hauptgegner einer für Griechenland akzeptablen „Brückenlösung“, aufmachte. Auf eine solche sind Tsipras und Varoufakis auch deshalb angewiesen, weil sie sonst ihren wichtigsten Wahlversprechen nicht einlösen können. In einigen Punkten haben sie vorsichtshalber bereits Abstriche an ihrem Thessaloniki-Programm angekündigt.
Der zuständige Vizeminister Katrougalos will zwar 3 500 entlassene Staatsdiener wieder einstellen. Aber deren Zahl soll mit den für 2015 geplanten 15 000 Neueinstellungen verrechnet werden. Und zu welchem Zeitpunkt die Kleinstrenten aufgestockt werden, wird von der Liquidität der Rentenkassen abhängen. Auch ein anderes Wahlversprechen wurde bereits relativiert: die sofortige Anhebung des Mindestlohns im Privatsektor. Hier hat Arbeitsminister Skourletis ein „pragmatisches“ Vorgehen angekündigt: Die Anhebung soll in kleinen Schritten bis Ende des Jahres und vor allem in Absprache mit Arbeitgebern und Gewerkschaften erfolgen. Das ist eine sehr realistische Korrektur, wenn man bedenkt, dass selbst die lächerlich geringen Mindestlöhne in vielen Branchen ohnehin unterlaufen werden, weil viele kleine Unternehmen ihre Beschäftigten nur mit monatelanger Verspätung entlohnen oder mit Abschlagszahlungen abfinden.
Wie viele der anderen zugesagten Maßnahmen relativiert oder zeitlich gestreckt werden, wird man sehen müssen. Die neue Regierung wird sich eine gehörige Portion Pragmatismus leisten können, vorausgesetzt, sie legt den Stand der Dinge offen und ehrlich dar. Die meisten Wähler werden Abstriche am Maximalprogramm der Syriza nicht nur hinnehmen, sondern sogar verstehen. Umso wichtiger sind für sie die Aktionen und Gesten, die eher auf der symbolischen Ebene liegen.
Das gilt vor allem für die klare Ansage, dass die Athener Regierung nichts mehr mit der Troika zu tun haben will. Damit wird keineswegs die Kooperation mit den drei Institutionen EU-Kommission, EZB und IWF aufgekündigt, mit denen Athen auf Gedeih und Verderb weiter verhandeln muss. Mit der Troika ist vielmehr das Dreiergespann der Gläubiger-Institutionen gemeint, das bis zum letzten Dezember alle drei Monate in Athen einrückte, um das Benehmen des griechischen Schuldners zu zensieren. Was mit der Troika abgelehnt wird, ist ein Modell des Umgangs, bei dem hochrangige Bürokraten griechischen Ministern Direktiven erteilen konnten, als seien diese Präfekten einer abgelegenen Provinz, die der fernen Obrigkeit Gehorsam schulden.
Dieses Troika-Modell wird auch im Europäischen Parlament sehr kritisch gesehen. Und alle Kräfte, die sich noch ein solidarisches Europa vorstellen können, sollten der Regierung Tsipras dankbar sein, dass sie dieses entwürdigende Format aufgekündigt hat. Stattdessen will Athen mit den EU-Instanzen und dem IWF „auf Augenhöhe“ verhandeln. Das mag zwischen Gläubigern und Schuldnern eine Illusion bleiben; aber dass Tsipras (ohne Krawatte) mit Hollande und Renzi spricht, und dass Varoufakis (ohne Krawatte) in Frankfurt mit Draghi, in London mit Osborne und in Berlin mit Schäuble verhandelt, ist für die meisten Griechen weit mehr als nur Symbolik. Es gibt ihnen ein Selbstgefühl, ja eine Würde zurück, die ihnen die Troika-Vertreter mit ihrem herrischen Auftreten und die früheren Regierungen mit ihrer Willfährigkeit genommen hatten.
Dieses neue Selbstwertgefühl drückt sich auch in den Umfragen aus, nach denen 70 Prozent der Befragten die Verhandlungsstrategie von Tsipras und Varoufakis richtig finden. Die Griechen – nicht nur die Syriza-Wähler – wollen ihre Regierung „kämpfen sehen“. Dass dabei nur ein Kompromiss herauskommen kann, versteht sich für die meisten von selbst. Vielleicht erweist sich schon in dieser Woche, ob die finanzielle „Brücke“ geschlagen werden kann, die substanzielle Verhandlungen über die von Tsipras geforderte „gemeinsame, tragfähige und allseits akzeptable Lösung für unsere gemeinsame Zukunft“ erst ermöglichen würde. Die Frage ist, was beide Seiten zu einer solchen Lösung beitragen können.
Keine Kompromisse mehr mit dem Klientelsystem
Griechenlands Vorschlag an die europäischen Gläubiger läuft auf ein Modell hinaus, das die Abzahlung der Schulden an das griechische Wirtschaftswachstum bindet. Dieses Konzept von Varoufakis, das schon seit Langem im Syriza-Programm steht, wurde vom CDU-Fraktionsvorsitzenden Kauder mit dem (in der FAZ zitierten) Satz abserviert: „Frechheit darf nicht siegen.“ Dieser schwäbische Hausmann hat offenbar vergessen, dass die deutsche Seite in den Verhandlungen, die 1953 mit dem Londoner Schuldenabkommen endeten, eine ähnliche Forderung vorgetragen hat: Die deutschen Restschulden (51,5 Prozent der Schuldensumme wurde der Bundesrepublik erlassen) sollten nur aus Exportüberschüssen abgezahlt werden. Mit anderen Worten: Man wollte die Bedienung der Schulden an das Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik koppeln – das übrigens durch den Schuldenschnitt erheblich gefördert wurde.
Allerdings bedeutet auch ein „weicher“ Schuldenschnitt, wie er Athen heute vorschwebt, durchaus eine Konzession. Das würde nicht nur Schäuble so sehen. Auch die Regierungen von Ländern wie der Slowakei, die weit höhere Kreditzinsen zahlen müssen als Griechenland, oder wie Portugal, die nach einem brutalen Sparprogramm inzwischen wieder Zugang zu den Finanzmärkten haben, werden nach den griechischen Gegenleistungen fragen.
Diese Gegenleistung kann nur der konsequente Kampf gegen einen Klientelstaat sein – die wichtigste „soziale Gegebenheit“, die das griechische Problem ausmacht. Denn dieses ist, anders, als viele Linke meinen, nicht nur eine Folge der Finanzmarktkrise und der fatalen Troika-Rezepte. Die griechische Krise hat in Griechenland begonnen. Und man versteht sie nicht, ohne die klientelistischen Beziehungen zwischen der politischen Klasse und dem Wahlvolk zur Kenntnis zu nehmen. Ohne Überwindung des Klientelsystems wird diese Krise nicht zu überwinden sein. Denn das Versickern öffentlicher Mittel in einem ineffizienten Staat ist das größte Hindernis für eine wirtschaftliche Erholung, die nur über öffentliche und private Investitionen in Gang kommen kann.
Die Regierung Samaras war unfähig, das griechische Problem anzugehen, weil sie weder bereit noch in der Lage war, dieses politisch-soziale Grundübel zu bekämpfen. Das zeigte sich vor allem in dem Versagen, die Steuerbetrüger zu erfassen und zur Kasse zu bitten. Viele der von der Troika geforderten Reformen, die Steuerbetrug, Korruption und Günstlingswirtschaft eindämmen sollten, wurden zwar in Gesetzesform gegossen, aber dann entweder „vergessen“, von der Bürokratie boykottiert oder von Teilen der politischen Klasse und Lobbygruppen gezielt torpediert. Manche EU-Partner und der IWF trauern der Regierung Samaras schon deshalb nicht nach, weil sie über deren magere Reformbilanz enttäuscht und zuweilen entsetzt waren.
Der neue Finanzminister Janis Varoufakis hat letzte Woche nach dem Treffen mit seinem Amtskollegen Schäuble einen Satz gesagt, den die deutschen Medien verschwiegen haben: „Das gegenwärtige Reformprogramm darf keineswegs insgesamt verworfen werden. Ich würde sagen, dass 60 bis 70 Prozent der Initiativen und Maßnahmen, die auf der Reformliste stehen, auf unserer eigenen Wunschliste stehen sollten.“9 Zuvor hatte Varoufakis dem EZB-Präsidenten Draghi dargelegt, dass das „Hauptziel dieser Regierung darin besteht, Griechenland in einer Weise zu reformieren, wie es noch nie versucht wurde – und mit einer Entschlossenheit, die früher stets gefehlt hat“.
Diese Priorität hat Tsipras am 5. Februar auch vor dem höchsten Syriza-Gremium herausgestrichen: Man wolle die sozialen Ungerechtigkeiten „nach und nach“ abbauen, „aber sofort, wie der Blitz, werden wir handeln, um mit dem Regime der Korruption, der Seilschaften und dem ganzen Klientelstaat aufzuräumen“. Und diesen Kampf werde man vorantreiben, „nicht weil irgendjemand das von uns verlangt, sondern um die Vergangenheit hinter uns zu lassen“.10
Eine neue Regierung, die den Kampf gegen den Klientelstaat nicht nur verbal erklärt, sondern auch konsequent durchführt, könnte zumindest bei einigen EU-Partnern die Überzeugung festigen, dass Griechenland endlich substanziell geholfen werden muss, nachdem die Politik des Totsparens in die Sackgasse geführt hat. Nur bei tiefgreifenden Reformen wäre gewährleistet, dass der neue Kurs einer wachstumsorientierten Krisenhilfe nicht die Rückkehr zum „alten Griechenland“ bedeutet. Im Gegensatz zum abgewählten Regime der klassischen Klientelparteien ist die Syriza-Regierung noch nicht mit dem Klientelismus kontaminiert. Wenn sie glaubwürdige Schritte macht, kann sie sich als die politische Kraft profilieren, die endlich eine „Gegenleistung“ für eine substanzielle Schuldenentlastung zu bieten hat. Dafür müsste sie zu allererst ihr eigenes Reformprogramm genau buchstabieren – und damit einen Begriff rehabilitieren, der in Griechenland durch die von der Troika auferlegten „Reformen“ völlig diskreditiert ist.
Mit einem konsequenten Reformprogramm hat die Syriza nichts zu verlieren und sehr viel zu gewinnen. Denn der Umbau des öffentlichen Dienstes, der aus einem Selbstbedienungsladen der Parteien einen seriösen Dienstleister für die Bevölkerung macht, könnte langfristig auch die Staatsverdrossenheit der Griechen abbauen helfen. Ein bürgernaher, korruptionsresistenter Dienst könnte die Bürger davon überzeugen, dass ihre Steuergelder sinnvoll und produktiv verwendet werden.
Die Reform des öffentlichen Sektors ist damit auch Voraussetzung für größere Steuerehrlichkeit, ohne die eine progressive Regierung ihr sozialpolitisches Programm schlicht nicht finanzieren kann. Dafür reicht es nicht, die berühmten „Oligarchen“ zu besteuern oder Fluchtgeld zu erfassen. Man muss auch die „kleinen Steuersünder“ belangen. Der Ausgangspunkt für jeden Versuch, eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen, ist die Einsicht, dass der Klientelstaat der größte Feind des Sozialstaats ist.
Hinzukommt ein weiterer Punkt. Wenn Syriza es schafft, ein eigenes radikales Reformprogramm – nicht nur, aber vor allem für den öffentlichen Dienst – aufzustellen und umzusetzen, hat sie gute Argumente, diejenigen „Reformen“ der Troika abzulehnen, die unter dem Vorwand der „Krisenlösung“ lediglich den Abbau des Sozialstaats vorangetrieben haben. Dazu gehört ganz bestimmt das neoliberale Projekt der „Deregulierung“ des Arbeitsmarkts, die Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte und vor allem das Dogma der „Privatisierung um jeden Preis“, das zu Krisenzeiten auf ein Verramschen öffentlichen Eigentums hinausläuft.
Wie ineffektiv und asozial dieser Ausverkauf ist, lässt sich an den wenigen „gelungenen“ Privatisierungsprojekten zeigen. Die nominell größte Einnahme erzielte der Staat bislang mit dem Verkauf ihrer Anteile an der Lotto-Gesellschaft Opap, für die 652 Millionen Euro eingelöst wurden. Dabei ist die Opap eine Gewinnmaschine, die dem Fiskus jährlich rund 200 Millionen Euro eingespielt hat. Der Staat hätte sich langfristig mehr Einnahmen gesichert, wenn er die Opap nicht verscherbelt hätte.
Der Käufer, ein Konsortium aus osteuropäischen und einem griechischen Oligarchen, war im Übrigen der einzige Bieter und konnte so den Preis diktieren. Das gilt auch für alle weiteren Privatisierungen, etwa für die gigantische Immobilie des früheren Athener Flughafens Ellinikon. Das Konsortium, das sie erwarb – der griechische Oligarch Spyros Latsis mit arabischen und chinesischen Teilhabern – zahlte für das küstennahe Areal mit 577 Millionen Euro gerade mal die Hälfte des Schätzpreises.10
Allerdings werden sich die griechischen Steuerzahler gegen Privatisierungen nur dann mobilisieren lassen, wenn die öffentlichen Unternehmen oder Träger von Dienstleistungen in Zukunft kundenfreundlicher und kostengünstig organisiert werden, statt der klientelistischen Personalpolitik der politischen Klasse zu dienen. Das aber erfordert eine gründliche Evaluierung des gesamten öffentlichen Sektors.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Kfz-Zulassungsstelle von Athen ist eine Behörde mit über 500 Angestellten. Wenn man ein Auto mit ausländischer Nummer ummelden will, braucht man in dieser Behörde einen ganzen Tag und 14 Stempel für alle möglichen Dokumente. Wobei hinter jedem Stempel eine Arbeitskraft sitzt, die sich an diesem Stempel festhält, bis sie in Rente geht. Eine Umsetzung oder Umschulung solcher Staatsdiener würde den öffentlichen Dienst nicht nur effektiver machen, sondern auch qualitativ verbessern.
Der bereits zitierte Syriza-Sympathisant Slavoj Zizek sieht als wichtigste Aufgabe der neuen Regierung, in Griechenland endlich einen „stinknormalen“ Staat aufzubauen. Dies sei für die Syriza eine „einmalige Chance“. Was er damit beschreibt, sind die berühmten „Mühen der Ebene“. Die allerdings für Tsipras und seine Regierung besonders mühevoll sind, weil sie dem Staat erst einmal das finanzielle Überleben sichern müssen. Dazu braucht es einen realistischen Kompromiss, der Griechenland in der Eurozone hält.
Vor den Wahlen hat Tsipras davon geredet, dass Griechenland in Zukunft nicht mehr nach der Pfeife der Märkte tanzen wird, sondern dass die Märkte nach der griechischen Melodie tanzen werden. Nach den Wahlen ist sein Finanzminister nach London geflogen, um in der City vor Bankern und Hedgefonds-Managern zu erklären, warum sie in Griechenland investieren können. Wie die Dinge nun einmal stehen, werden die Griechen darauf angewiesen sein, zusammen mit den europäischen Partnern eine Melodie zu komponieren, die sowohl die griechischen Wähler als auch die Märkte beruhigt.