11.04.2024

Betonmonster

zurück

Betonmonster

Über den fatalen Siegeszug der Autobahn

von Nelo Magalhães

Audio: Artikel vorlesen lassen

Die Autobahn ist von der Straßendecke bis zur Fahrbahnmarkierung ein ideologisches Produkt. In Italien und Deutschland standen die Anfänge von Autostrada und Autobahn unmittelbar mit den faschistischen Regimen in Verbindung, in Frankreich begann der Ausbau von Landstraßen zu Autobahnen erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Autobahn sorgte für „Anbindung“, sie war der Weg in die sonnigen Ferien (Autostrada del Sole, Autoroute du Soleil), sie brachte „Fortschritt, Beschäftigung und Leben“, wie 1962 der Finanzminister und spätere französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing schwärmte.

Die Autobahn-Definition des Welt-Straßenverbands enthielt von Anfang an mehrere politische Weichenstellungen: Die eine war, dass die Autobahn „Fahrzeugen mit mechanischem Antrieb“ vorbehalten war. Diese heute selbstverständliche Festlegung war damals ein Sieg des Autos in der langen Auseinandersetzung um die Verdrängung der anderen Nutzer (Fußgänger, Fahrräder, Straßenbahnen, Pferdefuhrwerke) vom Straßennetz, die besonders in der Zwischenkriegszeit und in den Städten sehr heftig geführt wurde. Außerdem sollte die Autobahn „von jedem direkten Zugang der Anwohner sowie von jeglichen Kreuzungen mit anderen Verkehrswegen auf einer Ebene“ freigehalten werden und, wie ein französisches ministerielles Rundschreiben 1962 erklärte, „eine hohe Grundgeschwindigkeit“ gewährleisten.

Das Ziel eines ungehindert fließenden Autoverkehrs führte zu einer Hierarchie in der Mobilität: Da Ampeln und Übergänge über sehr lange Strecken nicht vorhanden sein durften, war die zwangsläufige Folge eine weitreichende Zerteilung von Gebieten und Landschaften. Die kurzen Wege von Anwohnern verlängerten sich zum Teil drastisch, so sehr, dass diese manchmal auf das Auto umsteigen mussten, allein schon um die Autobahn zu umfahren. Kurz: Der ungestörte Verkehrsfluss mit sehr wenigen Zu- und Ausfahrten für die einen führte zur Unterbrechung der Verkehrswege für alle anderen.

Die Autobahn ist aber auch ein materielles Produkt. Ihre zentralen Eigenschaften spiegeln sich in der Geome­trie der Streckenführung und in den Höhenunterschieden. Die hohe Mindestgeschwindigkeit erfordert geringe Steigungen, weite Kurven und eine hinreichende Breite zum Überholen. Das Verbot von Kreuzungen mit anderen Straßen verlangt den Bau von Brücken, Viadukten, Tunneln, Autobahnkreuzen und gesonderten Anschlüssen, damit die Autobahn überquert werden kann. Im Durchschnitt ist für jeden Auto­bahnkilometer eine große Betonbrücke vonnöten.

Im Hinblick auf Breite, Gefälle, Kurvenradius und Dicke lässt sich eine Autobahn nicht mit einer großen Landstraße des 19. Jahrhunderts gleichsetzen, baulich ist es ein echter Quantensprung. Aus der Nähe betrachtet, ist die Autobahn nicht Freiheit, Demokratie und Sonne, sondern ein bisschen Zement und Bitumen – und vor allem gewaltige Mengen ganz gewöhnlicher Grundstoffe: Erde, Sand und Kies.

Für jeden Meter Autobahn müssen im Schnitt 30 Tonnen Sand und Kies eingesetzt sowie 100 Kubikmeter Erde

bewegt werden; manchmal noch viel mehr. Ein Kilometer Autobahn entspricht der Masse eines Krankenhauses und verbraucht durchschnittlich eine Gesamtfläche von 10 Hektar, die oft der landwirtschaftlichen Nutzung entzogen werden.

Da dieser Raumkonsum oft mit einer Flurbereinigung kleinerer Parzellen einhergeht, fördert der Bau großer Transportinfrastrukturen zudem die Politik der sogenannten landwirtschaftlichen Modernisierung, was in diesem Kontext nichts anderes bedeutet als großflächige Intensivlandwirtschaft. Die Umweltschäden, etwa durch die Beseitigung von Hecken und Bäumen, in denen Vögel und Bienen nisten, sind beträchtlich.

Als der französische Staat im März 1960 beschloss, 3558 Kilometer Autobahn zu bauen, gab es erst 200 Kilometer im gesamten Land, es waren meist Umgehungsstraßen rund um die Städte. Die Verkehrsverwaltung legitimierte ihre Politik mit dem alten Argument, der wachsende Verkehr überlaste die Straßen und mache folglich den Bau neuer Straßen nötig. Ein endloser Kreislauf, weil jede neue Straße neuen Verkehr generiert, der wiederum die Straßen verstopft und beschädigt. Seither ist das Verkehrsaufkommen unaufhörlich gewachsen.

In Frankreich waren schon Anfang der 1960er Jahre die Nationalstraßen (insgesamt 80 000 Kilometer), die den größten Teil des Verkehrsnetzes ausmachten, mit dem wachsenden Lkw-Verkehr überfordert. Im Winter 1962/63 wurden durch starke Temperaturschwankungen die Zwischenschichten des Straßenbelags beschädigt, was dazu führte, dass Schwerlaster bei einsetzendem Tauwetter einige Nationalstraßen nicht mehr befahren durften. Die Transportunternehmen reagieren auf das Verbot mit einer landesweiten Kampagne.

Fachmagazine und Presse bezeichneten die Situation als „nie dagewesene Katastrophe“, riesige Gebiete seien vom Rest des Landes „abgeschnitten“, und das gesamte Straßennetz sei überhaupt in einem „elenden Zustand“. Die Lobbyarbeit wirkte: Damit die Lkws zu jeder Jahreszeit ungehindert fahren könnten, beschloss die Regierung nicht nur die Reparatur der beschädigten Abschnitte, sondern die Verstärkung, Verbreiterung und Versteifung aller Na­tio­nalstraßen. In den 1970er Jahren verschlangen diese Arbeiten genauso viel Geld wie der auf Hochtouren laufende Autobahnneubau, der parallel zu den Reparaturarbeiten stattfand. Wieder brauchte man gewaltige Mengen Zement, Bitumen und 5 Tonnen Sand und Kies pro Autobahnmeter.

Der Begriff Autobahn lässt zwar vorrangig an Personenwagen denken, aber die Hochgeschwindigkeitsstraßen wurden ebenso wie die neuen Nationalstraßen mit ihrer Festigkeit und Dicke für Lastwagen geplant und gebaut. Für beide wäre der Name Lastwagen-Bahn angemessener. Die Abnutzung der Straßen folgte also keinem Naturgesetz, sondern sozioökonomischen Gegebenheiten.

Schon 1981 stellte man beträchtliche Deformationen bei den langsamen Spuren eines Abschnitts der Autobahn A1 von Paris nach Lille fest, die erst 1968 eingeweiht worden war. Bis dahin waren 56 Millionen Fahrzeuge, 12 000 am Tag, darauf gefahren, 21 Prozent davon Schwerlaster. Heute hat sich der Verkehr fast verzehnfacht, 35 Prozent sind Sattelschlepper, die heute bis zu 44 Tonnen schwer sein können. Das EU-Parlament billigte am 12. März die Zulassung solcher Monstertrucks auf Europas Autobahnen – was zusätzlichen Warenverkehr von der Schiene auf die Straße bringen dürfte.

Lastwagen machen insgesamt nur 2 Prozent der Straßenfahrzeuge aus, doch sie stoßen 23,7 Prozent der Treibhausgase aus, die vom Verkehrssektor verursacht werden. Ihre Anforderungen prägen das gesamte Straßennetz. Eine vergleichbare Logik gilt auch für die anderen Beförderungsformen: Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Start- und Landebahnen auf den Flughäfen für Großflugzeuge verlängert und verstärkt. Auch Hafenbecken werden tiefer und größer, um die größten Tanker und Frachter aufzunehmen. Jedes Mal werden Millionen Tonnen Erde, Sand, Kies und Sedimente bewegt.

Diese Dynamik, dass jede Vergrößerung einer Infrastruktur die nächste nach sich zieht, hat einen gemeinsamen Motor: den Freihandel innerhalb der Europäischen Union und die diversen internationalen Handelsabkommen. Ergänzend zu den großen Transportinfrastrukturen verkörpern die entstandenen Logistikplattformen – Umschlagplätze der Warenströme – den Wandel der gesellschaftlichen Beziehungen und der Produktion von Raum.1

Diese Straßenpolitik ist keineswegs unumstritten. Hunderte Konflikte zeugen vom Widerstand gegen die Autobahnen. Da sie inzwischen zunehmend durch schwieriges, früher gemiedenes Gelände mit stärkerem Gefälle führen, geraten auf den Baustellen immer öfter Böschungen ins Gleiten, häufen sich die Erdrutsche, sacken Aufschüttungen ab, gibt der Boden nach und stürzen Tunnel ein.

Außerdem führte der Autoverkehr zu einem Gemetzel. 1953 gab es in Frankreich 6400 Tote, in Deutschland (West) 11 449; bis Anfang der 1970er Jahre verdoppelte sich die Zahl nahezu. Seither sinken die Opferzahlen in beiden Ländern deutlich. 2023 waren es 3170 Verkehrstote in Frankreich, 2830 in Deutschland.2 Schuld an den Verkehrstoten sind in den Augen der Straßenbau-Industrie oft genug die Bäume, die die schlechte Idee hatten, die Straßen zu säumen. Hunderttausende wurden gefällt.

Für Straßen und Beton werden Unmengen von Sand und Kies gefördert, zum Teil von lokalen kleinen und mittleren Unternehmen, ein alltäglicher Extraktivismus, der über lange Zeit auch in den Flüssen stattfand. Anfang der 2010er Jahre machten mehrere Reportagen auf illegale Aktivitäten, Mafias und Plünderungen im Zusammenhang mit Sand aufmerksam, es wurde über die Giga-Baustellen in Singapur und Dubai berichtet.3

Im unteren Mekong wird sieben Mal so viel Sand gefördert, wie natürliche Sedimente vom Fluss bewegt werden. In Tours konnte man fast zusehen, wie sich das Flussbett absenkte – zwischen 1973 und 1977 um 60 Zentimeter –, bis die Fundamente des Pont Wilson ins Wanken gerieten und die berühmte Brücke über mehrere Wochen hinweg im Frühjahr 1978 nach und nach einstürzte.4

Schwimmbagger und Schaufellader entnahmen den meisten Flüssen Sedimente, und bald wurde überall der Sand knapp. Keine Vorschrift behinderte die Förderung. Bis 1970 genügte in Frankreich eine formlose Erklärung im Rathaus, um eine Grube zu eröffnen. Zwar wirkt sich die Förderung aus ­Flüssen in jedem Gewässer anders aus, aber es gibt einige gemeinsame und nachhaltige Folgen: Erosion der Ufer, gestörte Strömungen, erhöhte Risiken für den Schiffsverkehr durch Se­di­ment­ablagerungen und zugewucherte ­Fahrrinnen sowie Verlust von Biodiversität, weil es weniger Feuchtgebiete gibt.

Und wenn Flussbetten ausgebaggert werden, senken sich Wasser- und Grundwasserspiegel. Angesichts dieser Schäden gab es zunehmenden Widerstand vonseiten der Wissenschaft, von Fischereiverbänden, Umwelt-NGOs und Anwohnern.

Obwohl die Konflikte zunahmen, die Vorkommen sich erschöpften, die Schäden dokumentiert und erste Gesetze zur Regulierung von Sandgewinnung verabschiedet wurden und auch das Problembewusstsein wuchs, verstärkte sich der Extraktivismus nach 1970 noch.

Gesetzliche Zwänge, die auch bestimmte soziale Anforderungen umfassten, führten dann dazu, dass sich die Förderung auf Hartgestein (Verbot der Förderung im Gewässerbett seit 1993) verlagerte, wodurch sich die unmittelbaren Schäden verringerten. Die Förderung von Sand aus Flüssen ist mittlerweile vielerorts vollständig verboten, so etwa in China.5

Seit 1945 wurden die großen Infrastrukturen in Frankreich in erster Linie für den kapitalistischen Materialfluss ausgebaut: Die in Frankreich geförderten und transportierten Rohstoffe dienten weniger zur Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Wohnen, Essen und Heizen, sondern vorrangig dem Transport von Personen und vor allem von Waren. Wurde in den 1960er Jahren noch der Löwenanteil in der Betonproduktion verarbeitet, sind es heute nur noch 28 Prozent. Der Bausektor verbraucht nur 19 Prozent der Extrakte aus Steinbrüchen und Sandgruben.6

Der große Rest dient dem Neubau und vor allem der Unterhaltung und Wartung der bestehenden Straßen, die wegen des Schwerlastverkehrs nie in gutem Zustand sind. Sisyphos schiebt keinen Felsen mehr vor sich her, er repariert Straßen mit Kieseln.

Das Erbe der schwerlastfähigen Straßen und Autobahnen ist teuer. Zwischen 2010 und 2015 haben französische Gemeinden im Durchschnitt jährlich 15 Milliarden Euro für ihr Straßennetz ausgegeben. Manche Gemeinden wenden für ihr Verkehrsnetz ebenso viel auf wie für ihre Grundschulen. Wartungs- und Reparaturarbeiten an Straßen sind nicht Teil politischer Beratungen oder Beschlüsse. Zur Rechtfertigung, dass es hier keiner Diskussionen bedarf, dient das zweifelhafte Argument: Etwas zu reparieren, mithin seine Lebensdauer zu verlängern, entspreche nur der Vernunft, ja trage zur Rettung des Planeten bei. Wäre es nicht absurd, ein Erbe verkümmern zu lassen, in das man so viel investiert hat?

Die Pflege und Bereitstellung von Verkehrsinfrastrukturen gilt als selbstverständliche Aufgabe der öffentlichen Hand. Allerdings wird diese Aufgabe in Frankreich an den Privatsektor übertragen. Die vom Staat geförderte Aneignung der Straßen durch den Vinci-Konzern nimmt ständig zu.7 Vinci übernimmt mit seinen Tochtergesellschaften nicht nur die Erdarbeiten (GTM), die Fundamente (Solétanche), die Fahrbahndecken (Eurovia) und die Förderung in hunderten Kies- und Sandwerken (Vinci Construction). Obendrein gehört dem Konzern auch das Endprodukt: ein Netz von 4443 Kilometern Autobahn, 12 Flughäfen und Massen von Parkplätzen.

Neben den Autos und den Lastkraftwagen, die auch dann, wenn sie reine Luft ausstoßen, noch dieselbe massive Infrastruktur brauchen werden, treibt uns auch unsere Wirtschaftsordnung dazu, die Produktion des Raums eher als notwendige, wenn nicht gar natürliche Gegebenheit anzusehen. Dabei ist sie eine politische Frage. Denn die Erhaltung der großen In­frastrukturen garantiert vor allem das Funktionieren der makroökonomischen Strukturen des Freihandels.

1 Cécile Marin und Pierre Rimbert, „L’ère des ­plates-formes logistiques“, Manière de voir, Nr. 187, LMd (Paris), Februar/März 2023.

2 Zahlen nach statista.com, 2024.

3 Unter anderem: Denis Delestrac, „Sand – die neue Umweltzeitbombe “, Arte, 2011; sowie ­Kiran Pereira, „Aus Sand“, LMd, September 2014.

4 C. R. Hackney und andere, „River bank instability from unsustainable sand mining in the ­lower Mekong River“, Nature Sustainability, Nr. 3, London 2020.

5 Dagmar Röhrlich, „Sand – Ein nur scheinbar unendlicher Rohstoff“, Deutschlandfunk, 5.Januar 2020.

6 Union nationale des industries de carrières et des matériaux de construction (Unicem), „L’industrie française des granulats“, Union nationale des producteurs de granulats (UNPG), Clichy 2022.

7 Nicolas de la Casinière, „Le soleil ne se couche jamais sur l’empire Vinci“, LMd (Paris), März 2016.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Nelo Magalhães ist Postdoktorand am Institut de la transition environnementale (ITE-Alliance Sorbonne Université) und Autor des Buchs „Accumuler du béton, tracer des routes. Une histoire environnementale des grandes infrastructures“, Paris (La Fabrique) 2024, das diesem Text zugrunde liegt.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2024, von Nelo Magalhães