Ein guter Plan für ganz Europa
von Gabriel Colletis, Jean-Philippe Robé und Robert Salais
Die aktuelle Krise in Europa hat sich bereits in der globalen Finanzkrise von 2007/2008 angedeutet. Im Grunde schwelt sie schon seit der Einführung des Euro von 1999/2002, was vor allem an der Fehlkonstruktion der Währungsunion liegt: Wenn feste Wechselkurse zwischen den Mitgliedstaaten – und darum geht es beim Projekt einer Gemeinschaftswährung – überhaupt einen Sinn haben sollen, müsste man zuallererst auf eine Konvergenz von Wirtschaftswachstum und Produktivität hinarbeiten. Aber genau das ist in Europa nicht geschehen. So gesehen ist das griechische Drama nur der Extremfall eines allgemeinen Problems: Die meisten Mitglieder der Währungsunion haben Mühe, mit dem Wechselkurs des Euro gegenüber anderen Währungen auf Dauer zurechtzukommen, ohne ihre eigene Währung bei Bedarf abwerten zu können.
Angesichts der gewaltigen Diskrepanzen – insbesondere zwischen Deutschland und den übrigen Mitgliedsländern – müsste es innerhalb der Eurozone monetäre Transfers geben. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf den britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der im Juli 1944 in Bretton Woods den Grundstein für das internationale Währungssystem legte. Keynes’ Vorschlag ließe sich ohne Weiteres auf die Eurozone übertragen: Demnach müssen die Länder ihre Zahlungsbilanzen gemeinschaftlich managen, um sie mehr oder weniger im Gleichgewicht zu halten. Dies lässt sich nicht durch Finanztransfers sowie interne Abwertung1 erreichen, sondern nur durch Investitionen der Überschussländer in den Defizitländern.
Was ist heute das Hauptproblem Griechenlands? Die meisten Leute würden sagen: die Unfähigkeit des Landes, seine Schulden zu begleichen. Laut einer vom griechischen Parlament eingerichteten Untersuchungskommission sind folgende Ursachen für den Schuldenberg verantwortlich: der starke Anstieg der Zinsen zwischen 1988 bis 2000, die extrem hohen Militärausgaben und der dramatische Rückgang öffentlicher Einnahmen seit 2000 infolge von Steuerflucht und Steueramnestien für die Reichen.
Das sind zwar keineswegs alle Gründe. Aber die Verschuldung ist ohnehin nicht die Ursache aller Übel, die durch die Schulden nur verschlimmert werden. Das grundlegende Problem ist die Unterentwicklung des Produktionssektors und dessen logisches Gegenstück: die starke Abhängigkeit Griechenlands von ausländischem Kapital.
Zum jetzigen Zeitpunkt hieße ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone, der eine massive Abwertung der (neuen) griechischen Währung zur Folge hätte, dass sich die Griechen kaum noch die Dinge leisten könnten, die sie zum Leben brauchen.2 Das Land importiert nicht nur so gut wie alle Investitions- und dauerhaften Gebrauchsgüter. Auch in den Bereichen Energie, Arzneimittel, Textilien und elektrische Geräte ist die Handelsbilanz tief in den roten Zahlen. Und selbst bei Agrarprodukten überwiegen die Importe die griechischen Exporte.
Nachdem Griechenland 1981 der Europäischen Gemeinschaft beigetreten war, hat sich der Konsum relativ schnell dem der reicheren Mitgliedstaaten angenähert. Gleichzeitig gab es in der Industrie einen massiven Einbruch: Ihr Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank im Zeitraum 1980 bis 2009 von 17 auf rund 10 Prozent. Zwischen 2009 und 2013 stürzte die Industrieproduktion dann noch um weitere 30 Prozent ab.
Das ist der Grund, warum Griechenland heute fast vollständig vom Tourismus und von Kapitaltransfers aus dem Ausland abhängig ist, um seine Leistungsbilanz ausgeglichen zu gestalten. Dabei stammten die Transfersummen früher größtenteils von den Griechen, die auf der Suche nach Arbeit in alle Welt ausgewandert waren. Diese Rücküberweisungen der „Gastarbeiter“ wurden ab 1981 zunehmend durch Gelder aus den Hilfs- und Entwicklungsfonds der EU ersetzt. Doch in den 1980er Jahren beschaffte sich Griechenland – und zwar Banken wie private Unternehmen und letztlich auch der Staat – zusätzlich immer mehr Kapital an den internationalen Finanzmärkten, was den drastischen Anstieg der griechischen Zinsbelastung erklärt.
Die Transfers aus dem Ausland sind jedoch unverzichtbar, da die inländische Wirtschaftsleistung weder zur Aufrechterhaltung von Einkommen und Konsum noch zur Finanzierung des Staats und der öffentlichen Dienstleistungen ausreicht. Diese Kombination eines unterentwickelten industriellen Sektors auf der einen und der Abhängigkeit von ausländischen Finanzmitteln auf der anderen Seite machte das griechische Drama letzten Endes unvermeidlich.
Griechenland braucht Investitionen statt Kredite
Seit 2008 standen die wechselnden Regierungen vor einem doppelten Defizit, nämlich der Außenhandelsbilanz und des Staatshaushalts. Bis 2015, also bis zur Koalition unter ND-Chef Samaras, bestand ihre Reaktion stets darin, den Verbrauch zu drosseln3 und die öffentlichen Ausgaben zu kürzen.4 Das Absenken der Masseneinkommen sollte das Handelsbilanzdefizit, die Kürzung der staatlichen Ausgaben das Haushaltsdefizit senken. Wie die Folgen dieser unseligen Politik in der Praxis aussahen, ist hinlänglich bekannt: Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte um 25 Prozent, die Arbeitslosenquote stieg auf über 27 Prozent, und selbst die Verschuldung erhöhte sich weiter bis auf 177 Prozent des BIPs.
Sogar der IWF gestand 2013 ein, dass die Griechenland aufgezwungenen Bedingungen ein Fehler waren.5 Dennoch bestand er in den jüngsten Verhandlungen auf einer weiteren Kürzung der Renten und einer Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Wie könnte eine Alternative aussehen? Ein einseitig vollzogener Schuldenschnitt würde die Spannungen zwischen Athen und den Institutionen verschärfen und damit einen Grexit noch näher rücken. Einen teilweisen Schuldenerlass wiederum hat die Mehrheit der Gläubiger ausgeschlossen. Damit wäre im Übrigen nur etwas Zeit gewonnen, womit man eine dauerhafte Lösung noch weiter aufschieben würde.
Es gibt jedoch einen Ausweg aus der Misere. Die Schuldenkrise ist die perfekte Gelegenheit, die Industrialisierung der europäischen Länder voranzutreiben, die in ähnlichen Schwierigkeiten wie Griechenland stecken. Es wäre also ein Projekt, das weit über den Fall Griechenlands hinausreicht.
Die als nicht rückzahlbar geltenden griechischen Schulden, die größtenteils zwischen 2016 und 2024 fällig werden, belaufen sich auf mindestens 50 Milliarden Euro. Das entspricht etwa 15 Prozent der Gesamtverschuldung. Eine auf dem Industrialisierungsplan basierende Strategie dürfte den Gläubigern die Rückzahlung garantieren.
Wie soll das gehen? Der griechische Staatshaushalt weist derzeit (noch) einen Primärüberschuss aus, das heißt: Ohne den Schuldendienst gibt die Regierung weniger Geld aus, als sie durch Steuern einnimmt. Man kann diesen Überschuss auf zweierlei Weise betrachten: als Potenzial für die Rückzahlung des Schulden, wie es Griechenlands Gläubiger tun; oder aber als Fonds für künftige Investitionen.
Die zweite Lösung würde allerdings eine Restrukturierung der Schulden voraussetzen, und zwar nicht mittels weiterer Kredite von IWF oder EU. Diese Umschuldung würde auf zweierlei Weise geschehen: Erstens müssten die derzeit von IWF und Europäischer Zentralbank (EZB) gehaltenen Schuldscheine mit Fälligkeit zwischen 2016 und 2024 – das sind rund 70 Prozent der gesamten Schulden – an die EU-Staaten übertragen werden. Und zweitens wären die Fälligkeitsdaten so flexibel zu gestalten, dass die Rückzahlungen in einem gegebenen Zeitraum den Primärüberschuss nie übersteigen dürfen, wie die griechische Regierung und Finanzminister Varoufakis seit Langem fordern.
Die EU-Staaten, die von IWF und EZB die griechischen Schuldverschreibungen übernehmen, müssten im nächsten Schritt ihre Forderungen in Höhe von 50 Milliarden Euro an bilaterale staatliche Investitionsfonds überschreiben. Diese würden von öffentlichen Institutionen Griechenlands und der jeweils beteiligten Staaten gemanagt – etwa von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) oder der französischen Banque publique d’investissement (BPI).6
Griechenland würde unterdessen weiter seinen Zahlungsverpflichtungen nachkommen, aber – und das ist der springende Punkt – das Geld ginge nunmehr an die Fonds, aus denen produktive Investitionen im Land finanziert werden. Die griechischen Zahlungen würden also nicht mehr einfach die Kassen der Gläubiger füllen, sondern in die Entwicklung der griechischen Industrie fließen. Die Gläubigerstaaten respektive Investoren erhalten ihr Geld zurück, sobald die Investitionen umgesetzt sind und die Investitionsobjekte verkauft werden können. Das europäische Wettbewerbsrecht hat bislang staatliche Investitionsfonds akzeptiert. Es ist daher kaum vorstellbar, dass die Kommission solche bilateralen Fonds, die ganz ähnlichen Zielen verpflichtet sind, ablehnt.
Arbeitsteilung ist besser als Konkurrenz
Für die Koordinierung der Investitionen wäre in erster Linie eine griechische Entwicklungsbank zuständig, die zugleich als griechischer Partner der bilateralen Fonds fungiert. Diese könnte von den Erfahrungen staatlicher Investitionsfonds profitieren und wäre auch besser gegen Korruption und Misswirtschaft gefeit. Denkbar ist auch, dass die Europäische Investitionsbank (EIB), die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und vielleicht auch die Weltbank ihre Erfahrungen und sogar Investitionen zu ausgewählten Projekten beisteuern.
Ein derartiger Vorschlag setzt allerdings zweierlei voraus: eine gewisse Fantasie aufseiten der europäischen Regierungen. Und auf griechischer Seite die Bereitschaft zu tiefgreifenden institutionellen Reformen. Vor allem müssten die Griechen ihr altes Wirtschaftsmodell überwinden, das auf Einnahmen aus dem Tourismus und aus Immobilien- oder Importgeschäften beruht und obendrein von klientelistischen Beziehungen durchsetzt ist.
Dringend notwendig sind überdies neue Institutionen wie die bereits beschlossene griechische Entwicklungsbank, neue steuerliche Regelungen für ausländische Investoren sowie die Erstellung eines Katasters für ganz Griechenland und weitere Reformen, die insgesamt auf einen umfassenden institutionellen Umbau hinauslaufen. Ohne ein solches nationales Entwicklungsprojekt wird Griechenland nicht aus der ererbten schwierigen Lage herauskommen, die durch die Sparpolitik ans Licht gebracht, zugleich aber noch verschlimmert wurde.
Die Anstrengungen würden sich ganz sicher lohnen: Die zu Investoren gewordenen Gläubiger würden einen Beitrag zur Industrialisierung Griechenlands leisten und damit zur Senkung der Arbeitslosigkeit, zur Ankurbelung des Konsums, zur Steigerung der Steuereinnahmen und nicht zuletzt, aufgrund der festen Verankerung des Landes in der Eurozone, zur Rückkehr geflohenen Kapitals beitragen.
Eine Konjunkturbelebung in den verschuldeten Eurostaaten würde im Interesse der gesamten Union liegen. Derzeit beschränkt sich die Europäische Kommission darauf, eine möglichst direkte Konkurrenz zwischen den nationalen Industrien zu organisieren. Mit Hilfe der geschilderten Strategie würde sich jedoch die industrielle Arbeitsteilung in Europa verbessern und vertiefen. Man könnte etwa das griechische Know-how in der Lebensmittelproduktion und Naturkosmetik, im Schiffbau und selbst in Teilbereichen der Raumfahrt ausbauen und damit die industrielle Basis der ganzen Region stärken.
Käme ein solches Modell auch in anderen Schuldnerländern zum Zuge, könnte dies zu einem echten gesamteuropäischen Aufschwung beitragen. Ein ökologischer, humaner und solidarischer Entwicklungspfad für Europa, der in Richtung Energiewende und Nachhaltigkeit führt, wäre ein erster Schritt zur Neubegründung des europäischen Projekts – auf einer ganz neuen Basis.
2 Siehe auch Niels Kadritzke, „Grexit und was dann?“, Le Monde diplomatique, Juni 2015.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Gabriel Colletis ist Wirtschaftsprofessor an der Universität Toulouse-1 Capitole. Jean-Philippe Robé ist Anwalt und Robert Salais ist emeritierter Forschungsleiter am Centre national de la recherche scientifique (CNRS).