07.08.2014

Klassenkampf in den Alpen

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Klassenkampf in den Alpen

Das Edelweiß und die Tugenden des städtischen Bürgertums von Tobias Scheidegger

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Erfolgsmeldungen wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen stoßen nicht immer auf ungeteilte Begeisterung einer kritischen Öffentlichkeit: Um mögliche ökologische oder soziale Schadenspotenziale entbrennen nicht selten kontroverse Diskussionen. Der empörte Aufschrei, den eine Pressemitteilung des Schweizer Forschungsinstituts Agroscope Changins-Wädenswil (ACW) 2006 auslöste, war dennoch erstaunlich: Man habe eine kommerziell verwertbare Edelweißsorte namens „Helvetia“ gezüchtet, die aufgrund ihres gleichmäßigen Wuchses rationell anzubauen sei und als Rohstoff für Kosmetika den Bergbauern eine neue Einkommensquelle erschließe.

Ein Leserbriefschreiber der Tribune de Genève wollte in der industriellen Nutzung des Edelweiß keinen Segen erkennen, sondern beklagte ein „Sakrileg“ und forderte, das schöne Blumensymbol der Schweiz gefälligst in Ruhe zu lassen. Den schnöden käuflichen Erwerb kontrastierte der Blumenfreund mit der angeblich einzig authentischen Aneignungsweise dieser Pflanze: „Man muss sich manchmal unter Lebensgefahr in den Fels hinaufwagen.“

Darin scheinen Werte auf, welche im Lauf des 19. Jahrhunderts auf das Edelweiß projiziert wurden und mit der Zeit gleichsam in dessen symbolische DNS eingingen – und daher bis heute abrufbar sind. Es handelt sich um bürgerliche Wertvorstellungen der Seltenheit und der Reinheit.

Treibende Kraft hinter der symbolischen Aufladung des Edelweiß war der Alpinismus, der sich ab den 1860er Jahren europaweit als Trendsport etablierte. Die Alpinisten stammten vorwiegend aus städtisch-akademischen Kreisen, und in diesem Milieu wurden bürgerliche Tugenden wie Leistung und Aufstiegswille, aber auch neue Natur- und Körperbilder zelebriert. Diese Wertvorstellungen wurden von den Alpinisten praktisch eins zu eins auf das unscheinbare Edelweiß übertragen. Der Deutsche und Österreichische Alpenverein wählte die Pflanze sogar als Vereinsemblem. Für das Edelweiß stellte die Inbeschlagnahme durch die Alpinisten einen beachtlichen Karrieresprung dar. Da es traditionell weder als Futter- noch als Heilpflanze wirtschaftliche Bedeutung besaß, hatte es bisher ein von der alpinen Lokalbevölkerung gänzlich ignoriertes Dasein gefristet.

Damit es seine Funktion als Symbol bürgerlicher Tugenden erfüllen konnte, mussten ihm einige Eigenschaften angedichtet werden. So entstand um das Pflänzchen ein Kult des Raren. Entgegen den botanischen Tatsachen wurde es in Gedichten und Gemälden des ausgehenden 19. Jahrhunderts als seltenes Gewächs dargestellt, das praktisch nur auf überhängender Steilwand und in tiefstem Schnee und Eis gedeiht. Die Absicht hinter diesem Kunstgriff ist klar: So wächst der Ruhm des wagemutigen Bergsteigers, der es zu pflücken weiß. Von „Sissi“-Filmen bis zum „Asterix“-Comic haben sich die entsprechenden (Zerr-)Bilder in populären Medienprodukten bis heute erhalten.

Tapferer Bergsteiger und keusches Blümchen

Ein Blick in alpinistische Dichtung und Malerei offenbart zusätzlich zur Rarität noch einen weiteren Wert: die Reinheit. Dieses Phantasma geisterte in zweierlei Ausprägungen durch die Bilderwelten bürgerlicher Alpenbegeisterung. Zum einen fanden in den einschlägigen Edelweißdarstellungen, in welchen die Blume zur „weißen Dame“ stilisiert wurde, naturalisierende Geschlechterbilder ihren Ausdruck: der männliche Alpinist als der wagemutige und tatkräftige Held, der die keusche Weibsgestalt in Form einer passiven Blume erobert – oder beim Versuch dazu den Tod in der Felswand findet. Daneben klingt in den Darstellungen der einsam auf der Bergspitze thronender Edelweißdamen unüberhörbar ein gewisser Elitarismus an. Die Überhöhung der reinen, weißen Bergwelt gegenüber den grauen Niederungen der Stadt mit ihren dumpfen Massen ist eine gleichnishafte Feier der bürgerlichen Existenzialutopie.

Vor dem Hintergrund dieser Idealisierungen reagierte das alpinistische Milieu im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Vehemenz auf reale und eingebildete Bedrohungen des Edelweiß. Die größte Gefahr erblickten die Bergsteiger im Blumenhandel, der sich die erwachende Alpenbegeisterung zunutze machte und für die gartenarchitektonische Modeerscheinung der „Steingärten“ Wildblumen lieferte. Nicht minder störten sich die bürgerlichen Naturliebhaber am Blumenverkauf an Alpentouristen, womit die einheimische Bevölkerung ihr karges Einkommen aufbesserte.

Als Reaktion auf solche Missstände gründeten 1883 der Genfer Henry Correvon und seine Mitstreiter aus dem Umfeld des Club Alpin Suisse einen Pflanzenschutzverein (Association pour la protection des plantes)1 mit dem Ziel, Touristen vom Kauf pflanzlicher Souvenirs abzuhalten. Staatlichen Zwangsmaßnahmen standen diese Naturschutzpioniere jedoch skeptisch gegenüber. Aufgrund ihrer liberalen Überzeugungen lehnten sie beispielsweise die Einführung von Pflanzenschutzgesetzen und entsprechende Strafen ab.

In ihrer Sichtweise blieb die Armut als Beweggrund für den Blumenhandel in den alpinen Touristengebieten geflissentlich ausgeblendet, die Einheimischen galten ihnen als grobschlächtige und gierige Rüpel, die der Schönheit der Bergnatur nicht zugänglich seien. Paradoxerweise sprach die städtische Elite so der ländlichen Lokalbevölkerung das Nutzungsrecht an einem Gut ab, dessen ideellen (und in der Konsequenz bald auch monetären) Wert sie selbst eingesetzt hatte.

Im Jahr 1900 riefen auch Mitglieder des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins einen Verein zum Schutze der Alpenpflanzen ins Leben. Dieser pflegte eine äußerst scharfe Rhetorik und war zum Schutz ihrer Symbolpflanze auch repressiven Methoden keineswegs abgeneigt. So organisierte die 1920 gegründete Bergwacht Patrouillen zur Bewachung von Edelweißpopulationen und schreckte selbst vor Leibesvisitationen verdächtiger Berggänger nicht zurück. In ihrer Zeitschrift bedienten sich diese rabiaten Naturschützer einer martialischen Sprache gegen „Edelweißräuber“ und „Pflanzenfrevler“, die man zu stellen und zu bestrafen habe.2

Die Nutzungskonflikte um den alpinen Naturraum spitzten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts stetig zu. Bürgerliche Alpinistenzirkel stellten mit Unbehagen fest, wie immer breitere Schichten der Bevölkerung – bis hin zur Arbeiterklasse – dem Ruf der Berge folgten. In den Augen dieser konservativen Kulturkritiker bedrohte der Massentourismus nicht nur die Alpenflora, sondern brachte auch die Dekadenz der städtischen Massen in die reine, unberührte Bergwelt. Indem sich die traditionellen Alpinistenvereine paternalistisch zu Beschützern der Natur aufschwangen, markierten sie ihren Anspruch auf Raumhoheit.

Die Pflanzenschützer störten sich nicht nur an der Ernte der Wildpflanzen, sondern beklagten auch deren „Vulgarisierung“ als Raubbau auf symbolischer Ebene: Regelmäßig verurteilten Kolumnisten in Bergsteigerzeitschriften die Verwendung von Edelweißabbildungen in Werbung und Populärkultur oder auf Konsumgütern als „Geschmacksverirrung“. Auch die Zucht des Edelweiß stieß bereits damals auf empörte Ablehnung: 1884 verfemte ein Schweizer Blumenschützer gezüchtete Edelweiß als „Monster“; und ein österreichischer Autor bezeichnete sie als „Proletarier der Niederung“.5 Die alpinistischen Wertkonstrukte der Seltenheit und Reinheit waren bedroht, wenn die Blume in den Städten des industrialisierten Flachlands auftauchte und dort von jedem käuflich erworben werden konnte.

Die Aufregung der Blumenschützer um die Wende zum 20. Jahrhundert zeugt mit ihren mitunter schrillen Tönen vom herausgeforderten Selbstverständnis des Bürgertums. Die städtischen Alpinisten weiteten ihren Kampf um politische und kulturelle Hegemonie auf die idealisierten Gefilde der Bergnatur aus – und formten so das Edelweiß zum Symbol im damaligen Klassenkampf.

Fußnoten: 1 Anne Vonèche über Henry Correvon, in: Annemarie Bucher und andere, „Aux Alpes, Citoyens! Alpiner Mythos und Landschaftsarchitektur“, Zürich (NSL) 2005. 2 Vgl. Georg Frey, „Erreichtes und Erstrebtes. Betrachtungen zum Alpenpflanzenschutz“, in: Jahrbuch des Vereins zum Schutze der Alpenpflanzen, Jahrgang 13 (1941). 3 „Bulletin de l’Association pour la protection des plantes“, Nr. 2 (1884), S. 6, und Ernst Moriz Kronfeld, „Das Edelweiß“, Wien 1910. Tobias Scheidegger forscht am Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich.

Le Monde diplomatique vom 07.08.2014, von Tobias Scheidegger