13.05.2005

Wörter, Mythen, Bedeutungen

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Wörter, Mythen, Bedeutungen

Unser alltägliches ungarischesGeschichtsbewusstsein von Gábor Schein

Bei der schriftlichen Aufnahmeprüfung für das Studienfach Ungarische Literatur an der Universität Budapest waren die Studenten letztes Jahr vor die Aufgabe gestellt, das Gedicht „Arany“ („Gold“) von Attila József zu interpretieren. Sie erhielten zwei Informationen zum Text – den Namen des Autors und das mutmaßliche Entstehungsjahr: 1929. Die beiden Informationen waren, wie sich herausstellen sollte, der deutenden Lektüre des Gedichtes äußerst hinderlich. Die einfachen, jedoch kompliziert übereinander gelagerten Versatzstücke von Vorurteilen und Legenden, die sich in den Köpfen der Kandidaten mit dem Namen Attila József und dem Geschichtsdatum assoziieren, sorgten wieder einmal dafür, dass sich das vor knapp 80 Jahren verfasste Gedicht den Studienanwärtern nicht erschloss.

Der Anfang eines der Aufsätze vereint auf beeindruckende Weise die zentralen Vorurteile, Irrtümer und Verwirrungen unseres heutigen allgemeinen Geschichtsbewusstseins: „1929 begann die große Weltwirtschaftskrise. Ungarn, das die Schmach von Trianon und den Zerfall der Nation hinnehmen musste, hatte gerade erst den zersetzenden Druck der proletarischen Diktatur unter Béla Kun abgeschüttelt und den Weg des Aufbaus beschritten, da fegten die einschnürenden Kräfte der ersten Weltwirtschaftskrise wie ein Orkan das vielversprechende, sich gleichwohl als reines Kartenhaus erweisende Fundament hinweg, auf dem die Wirtschaft der Nation ruhte.“

Um zu erahnen, was mit diesen Zeilen gemeint ist, muss man wissen, dass 1919, nach Ende des Ersten Weltkriegs, in Ungarn eine kommunistische Räterepublik unter Führung von Béla Kun ausgerufen wurde, die aber bald scheiterte. Ein Jahr später, als der rechtsgerichtete, später mit Hitler paktierende Miklós Horthy an die Macht gekommen war, wurden Ungarn im Friedensvertrag von Trianon zwei Drittel seiner Fläche, auf der ein Drittel der ungarischsprachigen Bevölkerung lebte, abgesprochen. Ab 1920 versuchte das Land, aus der internationalen Isolation auszubrechen und sich wirtschaftlich, kulturell und später auch militärisch als regionale Mittelmacht auszubauen mit dem Ziel einer territorialen Revision. 1922 entstand ein neues Schulsystem, neue Industriezweige modernisierten die Wirtschaft, doch die Armut lastete weiter schwer auf der Bevölkerung, und die politische Atmosphäre war bei weitem nicht demokratisch: Die alten, spätfeudalistischen Fundamente, die die österreich-ungarische Monarchie hinterlassen hatte, blieben erhalten.

Auf der Suche nach politischer Unterstützung orientierte man sich zunächst nach England, denn die ungarische Aristokratie war recht anglophil. Die britische Führung jedoch war für die revisionistischen Ziele der ungarischen Regierung nicht empfänglich, obwohl diese mit der Unterstützung des Medienmoguls Lord Rothermere rechnen konnte. Deshalb wandte sich die Horthy-Regierung Mussolini zu, unterzeichnete 1927 einen allgemeinen „Freundschaftsvertrag“ mit Italien und verbündete sich so endgültig mit dem politisch-ökonomischen Raum, der sich zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise der Führung von Adolf Hitler anschloss. Diese Ereignisse und Entwicklungen umspannen die Lebenszeit von Attila József (1905–1937) – einer überragenden Gestalt der modernen ungarischen Dichtung. Er war sein Leben lang ein Gegner des Horthy-Regimes und bekannte sich auch in seiner Lyrik zur Sache der Linken.

Nach dieser ausführlichen Einführung soll uns an dieser Stelle nicht interessieren, ob sich tatsächlich eine Verbindung zwischen dem Gedicht von Attila József, der Weltwirtschaftskrise von 1929 und den Verträgen von Trianon ziehen lässt. Uns soll auch nicht interessieren, ob Béla Kuns „proletarische Diktatur“ von 1919 „die Nation zersetzt“ hat oder nicht – das Horthy-Regime schob die Schuld an Trianon den Kommunisten in die Schuhe, was heutige rechtsgerichtete Politiker gern wiederholen – und ob nach Horthys Machtergreifung der „Weg des Aufbaus“ wirklich hätte beschritten werden können. Betrachten wir vielmehr für einen Moment die Sätze des Studienanwärters als ein in sich geschlossenes Gedankengebäude.

Der Eckstein dieses Gebäudes ist ein Datum – 1929. Daten konsolidieren für gewöhnlich unsere geschichtliche Narration, mit ihnen tritt die Erinnerung in eine feste, unauflösbare Beziehung zur kalendarischen Zeit. Der außergewöhnlich kompakten Formulierung des Hochschulkandidaten gelingt es dennoch, die präzise erscheinende Zeitangabe ungreifbar zu machen. Die wenigen Sätze umreißen eine Entwicklung von zehn Jahren. Dabei wird nicht deutlich, was nach Ansicht des Verfassers in der Chronologie zuerst kam: die Räterepublik oder der Vertrag von Trianon. Was ist das für eine Erzählperspektive, in der die zehn Jahre, die zwischen zwei historischen Ereignissen liegen, keine Bedeutung haben und in der es keine Gewissheit über vorher und nachher gibt? Bis zu welchem Grad ist es möglich, den festen Maßstab der kalendarischen Zeit aufzuweichen? Lassen sich womöglich auch zwei beliebige Ereignisse, die dreißig oder vierzig Jahre auseinander liegen, nach Lust und Laune miteinander verbinden?

Auch wenn die beiden zitierten Sätze nicht als historische Erklärungen gemeint sind, verraten sie dennoch viel über das Geschichtsbewusstsein des Schreibenden. Um dies aufzeigen zu können, soll zunächst auf die eher nationalmythologisch denn historisch motivierte Reihung eingegangen werden: Trauma – Stabilisierung – Krise von außen – Zusammenbruch. Wir haben es bei dieser Reihung, die eine zehnjährige Entwicklung zusammenfassen soll, mit einem tragischen Geschichtsbewusstsein zu tun, nach dem das undefinierbare Subjekt Nation sein Verhängnis einem durchaus personifizierbaren inneren Verrat (Béla Kun) sowie anonymen äußeren Kräften (Weltwirtschaft) zu verdanken hat, während die Nation selbst keinerlei Schuld an der Tragik trägt, schließlich hatte sie durch ihre mühevolle Arbeit den „Aufstieg“ möglich gemacht.

In einem solchen Geschichtsbild ist Ungarn eine patriotisch gesinnte, unschuldige Nation, die sich tragischerweise weder ihres „fremdherzigen“ Landsmanns – Béla Kun war jüdischer Herkunft – noch der von außen einwirkenden Mächte zu erwehren vermochte. Wenn wir daher aus dem Umgang mit der Zeit auf die fundamentale Bedeutung der Amnesie – des Vergessens – schließen können, so können wir aus der Aneinanderreihung der abstrahierten historischen Ereignisse darauf schließen, wie bedeutsam die Traumatisierung für unser Geschichtsbewusstsein ist. Der Name des Traumas lautet: Trianon.

In den rhetorischen Bildern des eingangs genannten Aufsatzes vermischen sich Elemente aus gänzlich verschiedenen Zeiten. „Der Weg des Aufbaus“ die „einschnürenden Kräfte“ und das „Fundament, das sich als reines Kartenhaus erweist“ – das sind herausragende rhetorische Klischees der Sechziger- und Siebzigerjahre, das ist die Sprache der staatssozialistischen Kádár-Zeit. Die Verbindungen mit dem Begriff „Nation“ („der nationale Zerfall“, „der die Nation zersetzende Druck“, „die Wirtschaft der Nation“) entstammen einem Wortschatz, der sich wohl unmittelbar nach der Systemwende 1989 im Diskurs der politischen Rechten herausgebildet hat. Mittelbar greifen diese Versatzstücke jedoch auf die Zwanziger- und Dreißigerjahre zurück. All das zeigt, dass sich die Worthülsen, die in den Systemen des rechtskonservativen Horthy und des staatssozialistischen Kádár vorherrschten, widerstandslos zu einer großen Narration verschachteln lassen, wie sie unser Hochschulanwärter präsentiert hat.

Was aber bestimmt den Bewusstseinshorizont, unter dem zwei sich historisch ausschließende sprachlich-ideologische Klischees – das der Horthy- und das der Kádár-Zeit – bruchlos miteinander vermengt zum Vorschein kommen? Die Spuren der Traumatisierung und der Amnesie wurden bereits aufgezeigt. Doch es gibt hier noch etwas anderes: Die staatssozialistischen Sprachklischees setzen eine namenlose und insofern schwer zu bremsende Kraft frei, die in der gefestigt daherkommenden Rhetorik für Verwirrung sorgt. Während die falsche Metapher („das vielversprechende, sich gleichwohl als reines Kartenhaus erweisende Fundament hinweg, auf dem die Wirtschaft der Nation ruhte“) uns in die Ära Kádár zurückführt, verweist die Wortwahl aus dem „nationalen“ Vokabular einerseits auf den rechten Diskurs nach der Wende und andererseits auf den Wortschatz der 20er- und 30er-Jahre. Das Wort „Aufbau“ soll die verwirrenden Kräfte bändigen und die Sehnsucht nach Sicherheit und Ruhe betonen – die sich, wenn sie in der Gegenwart nicht gestillt wird, nur zu oft als Nostalgie artikuliert.

In der biblischen Überlieferung des Alten wie des Neuen Testaments gibt es kein Fest oder Ritual, das nicht auf die (in einen Befehl gefasste) Verpflichtung zum Erinnern aufbaut. Solange die Arbeit des Erinnerns in den biblischen Schichten der europäischen Kultur von grundlegender Bedeutung war, war auffälligerweise im gesellschaftlichen Zusammenleben nie die Rede vom Vergessen als solchem, sondern das Vergessen blieb immer eng gebunden an die Vergebung von Schuld oder an göttliches Verzeihen. Im Alten Testament war der Beginn des Freudenjahres verbunden mit dem Erlassen der Schulden, und so handelt Gott auf Moses’ Bitte hin auch am Volke Israel (4 Mose 14,19). Nach Isaias ist das göttliche Verzeihen so umfassend, dass Gott selbst die verziehene Schuld nicht mehr sah (38,17 „Denn alle meine Schuld warfst du hinter deinen Rücken, oh Herr“). Das Vergessen ist in dieser Tradition eng an die Überwindung des Schuldtraumas geknüpft, es heilt dessen Wunde.

Dieser Begriff von Vergessen ist ein ganz anderer als der bei Nietzsche. Bei Isaias ist das Vergessen nützlich, damit die Schuld und das von ihr verursachte Trauma verschwindet. Bei Nietzsche vollbringt das Vergessen als Kehrseite der Erinnerung die andere Seite der gleichen Arbeit, es erzeugt eine Geschichte, die für die Gegenwart akzeptabel ist, und lässt aus dem Trauma Geschichte werden. Ein Gemeinplatz sagt: „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Heilen die Wunden aber wirklich, oder vernarben sie nur? Unsere Erfahrungen zeigen, dass die Wirkung eines Traumas sich auch an historischen Dimensionen gemessen nur ganz langsam entfaltet, ein solches Trauma kann sogar über mehrere Jahrhunderte ein Anknüpfungspunkt bleiben. Dafür hat uns Milosevic mit seiner Kosovopolitik ein einprägendes Beispiel geliefert: das Trauma der verlorenen Schlacht auf dem Amselfeld war bei den Serben noch 600 Jahre danach wirkmächtig.

Die Psychoanalyse war als klinische Theorie und Praxis von Sigmund Freud zunächst als Therapie des persönlichen Lebens gedacht, gleichwohl ist ihr tief greifender Einfluss auf die Gesellschafts- und Kulturwissenschaften, die Ethnologie, die Geschichtswissenschaften, die Politikwissenschaft usw. nicht zu übersehen. Der amerikanische Psychoanalytiker Vamik D. Volkan hat an der Virginia University mit seiner Forschungsgruppe „Study of Human Mind“ die Erkenntnisse der modernen Psychoanalyse mit Erfolg an Untersuchungen über nationale, ethnische und religiöse Konflikte erprobt. In seinem Buch „Das Versagen der Diplomatie“ weist er nach, dass das passive Vergessen die Wirkung eines im gesellschaftlichen Sinn negativen Traumas nicht auslöscht, sondern nur verzögert. Die Verzögerung bildet eine Erzählung. Daher sollten wir lieber davon sprechen, dass die Historie als Erzählung durch die Vernarbung der Wunden entsteht, während namenlose Kräfte jederzeit in die Geschichte einbrechen können, um alte Wunden aufreißen zu lassen und neue Wunden zu schlagen. Diese Kräfte können wir nur bändigen, wenn es uns gelingt, traumatisierende Ereignisse nicht tragisch, sondern mit Humor oder ironischem Akzent zu erzählen. Die tragische Erzählweise wird jedoch immer wieder ihr Recht fordern.

Nicht die Erinnerung steht der Arbeit des Vergessens im Wege, sondern die Tatsache, dass unser Bewusstsein, damit wir uns in der Gegenwart orientieren können, den vermittelnden Umweg über vergangene Ausdrucks- und Erzählweisen braucht. Für unsere Traditionen leistet die Philologie diese Übertragung, alle historische Wissenschaft tritt ihr Erbe und ihre Nachfolge an. Das Übergewicht der Vergangenheit traumatisiert jedoch von sich aus – ein Thema, über das man in den ödipalen Vater-Sohn-Geschichten der zeitgenössischen ungarischen Literatur – zum Beispiel in Péter Nádas’ Roman „Das Ende eines Familienromans“ oder in Péter Esterházys Romanen „Harmonia caelestis“ und „Verbesserte Ausgabe“ – sehr viel erfahren kann. Auch diese Romane zeigen, dass ein Entkommen aus dem Labyrinth der Amnesie, der Erinnerung bzw. der Traumatisierung gänzlich unmöglich scheint, zumindest in solchen gesellschaftlichen Diskursen, die in Anlehnung an Nietzsche die Erinnerung und das Vergessen nicht in eine moralische Narration von Schuld, Strafe und Vergebung einbetten wollen.

Doch warum sollten wir das nicht tun? Ist es ein ausreichender Beweis für die Absurdität solcher Narrationen, dass es uns seit fünfzehn Jahren nicht gelungen ist, gesetzlich zu regeln, wie wir mit unserer kollektiven und individuellen Schande umgehen wollen? Denn in Ungarn gibt es bis heute keine gesetzliche Regelung darüber, unter welchen Bedingungen die Daten, die von den Abteilungen der Staatssicherheit zwischen 1948 und 1989 gesammelt und fabuliert wurden, öffentlich zugänglich gemacht werden. Anderen ist eine solche Regelung und Bearbeitung dieser Vergangenheit angeblich gelungen. Doch in unserem Falle geht es nicht nur um vergangene Schande, sondern auch um die Frage, ob Personen aus der staatssozialistischen Vergangenheit heute in ganz anderen, neuen Rollen wieder auftauchen dürfen. Wie sollen wir mit den Metamorphosen umgehen? Was eigentlich gilt als Vergangenheit, als Vergangenes? Akzeptieren wir die gewaltigen Sprünge in den Lebensläufen, wie sie in Lexikonartikeln immer wieder erscheinen? Wie lange bewahren die Wörter die Bedeutungen auf, die sie einst trugen? Wie groß darf eine Lücke im Lebenslauf sein, um noch als unverdächtig zu gelten? Auf die Frage nach dem richtigen Maß gibt es keine befriedigenden Antworten.

Der Diskurs über persönliche Schuld und Sühne aber ist nicht hilfreich zur Beantwortung dieser Fragen, denn dafür müssten wir die Geschichten nicht nur differenzierter sehen können, als sie vielleicht aus den Archiven der ehemaligen Staatssicherheit nachvollziehbar sind, sondern wir müssten auch genau begründen können, was das für Sünden waren, was für Opportunismen, Betrügereien, Dummheiten, Kompromisse, Gleichgültigkeiten usw., mit denen es sich noch zu beschäftigen lohnt – oder eben nicht.

Erinnern und Vergessen sind nicht gerecht. Das größte Hindernis aber besteht darin, dass die Rede über die Schuld nur selten ein adäquates Mittel ist, um sich in der Vergangenheit und in der Gegenwart zu orientieren. Denn dazu brauchten wir ein gemeinsames, möglichst fest gefügtes gesellschaftliches Bewusstsein, das sich bis heute nur im Bereich der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ herausgebildet und verankert hat – und selbst in diesem Falle ist zweifelhaft, ob solche Verbrechen nicht, im Gegensatz zu den zivilrechtlichen Verbrechen, die Rechtsordnungen sprengen.

Wenn es aber aus dem Labyrinth der Erinnerung und des Vergessens keinen Ausweg gibt, dann kommt die Nostalgie ins Spiel. Auch sie bietet keinen Ausweg aus dem Labyrinth, aber sie macht es möglich, dass wir in unserer Gegenwart Zugang zu einer Vergangenheit haben, die nicht traumatisch belastet ist. Gibt es eine solche Vergangenheit? Wahrscheinlich nicht, denn Geschichte im europäischen Verständnis ist unter anderem durch Traumata zustande gekommen, und durch die Traumata entsteht im Geschichtsbewusstsein ein magnetisches Feld, das alle wichtigen Ereignisse der Vergangenheit polarisiert. In der ungarischen Geschichtsschreibung wird, wenn es beispielsweise um die 1848er-Revolution geht, immer wieder betont, dass das damalige Ungarn geografisch gesehen ein anderes Land war als das heutige, was natürlich richtig ist. Solche Anspielungen berühren aber das politisch oft tendenziös aufgegriffene Trianon-Trauma der Ungarn und richten sich im politischen Bewusstsein immer gegen Rumänien, denn die Wortführer der Revolution von 1848 sprachen sich für die Vereinigung des Landes mit Transsylvanien aus, und Transsylvanien wurde durch den Friedensvertrag im Jahre 1920 an Rumänien angeschlossen.

Wie aber ist ein nostalgischer Blick auf die Geschichte beschaffen? Wahrscheinlich ist auch die Nostalgie eine Variante des Vergessens, doch sie löscht die Geschichte nicht aus, sondern baut sie um. Sie bringt eine kohärente Erzählung hervor, die traumatisierende Momente ausfiltert, sie glättet die rauen Oberflächen der Erinnerung und ist bemüht, den Verdacht der Leser und Hörer abzuwehren, dass alles vielleicht doch nicht so harmonisch war, wie es uns die nostalgische Erzählung plausibel machen möchte. Nostalgisches Erzählen aber kann nur erfolgreich sein, wenn es auf nostalgische Rezipienten stößt. Sonst nämlich kann jederzeit einer kommen, ein Philologe etwa, der anderes und mehr von der Vergangenheit weiß als die nostalgische Erzählung, oder einfach einer, der nicht bereit ist, den Preis für das nostalgische Vergessen, das die Erzählung bietet, zu bezahlen. Immer kann einer auftauchen, der Unannehmlichkeiten verursacht. Noch dazu wendet sich die Nostalgie zwangsläufig immer an die Geschichte, sie möchte die Vergangenheit mit der Gegenwart oder der Zukunft vertauschen, und so stabilisiert sie die Traumatisiertheit des Geschichtsbewusstseins.

Bleiben wir also auch künftig die Gefangenen der Dreieinigkeit von Traumatisiertheit, Amnesie und Nostalgie? Ich glaube, ja – zumindest solange sich eine offene, Kurzschlüsse vermeidende Kultur gesellschaftlicher Kommunikation noch nicht herausgebildet hat. Doch wie immer diese Kommunikation aussehen mag, sie kommt zu langsam und verlangt zu viel Therapie, verglichen mit dem Tempo und dem Wankelmut demokratischer Parteipolitik und der sie repräsentierenden Medien. Der vorhandene Kommunikationsraum wird wohl auch langfristig die Verkrampfungen unseres Geschichtsbewusstseins nicht lösen können – in den Ländern, die über ältere und verfeinerte Demokratien verfügen, ist es nicht viel anders. Das Resultat des Lernens kann – unter friedlichen Bedingungen – auch für ferne Generationen bestenfalls darin bestehen, dass wir fähig werden, den schmerzhaftesten Punkten unseres Geschichtsbewusstseins ein wenig feinfühliger zu begegnen und die borniertesten Dummheiten auszuschließen. Dazu ließe sich natürlich sagen: Wären wir doch nur schon so weit!

Aus dem Ungarischen von Wilhelm Droste © „Le Monde diplomatique“, Berlin Gábor Schein lehrt ungarische Literaturgeschichte und Literaturtheorie an der Budapester Eötvös-Loránd-Universität. Er veröffentlichte vier Gedichtbände. Auf Deutsch liegt sein Roman „Lazarus!“ vor (Akademie Schloss Solitude, Stuttgart 2004).

Le Monde diplomatique vom 13.05.2005, von Gábor Schein