12.08.2005

In Nablus setzt man auf die Börse

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In Nablus setzt man auf die Börse

von Benjamin Barthe

Nablus liegt unter der glühenden Sonne. Das Haus ist abgedunkelt, Bilder von der Freilassung von 400 palästinensischen Gefangenen flimmern über den Bildschirm. Sana al-Attabeh und ihre Mutter starren stumm auf die Szene, mit verschlossenen Gesichtern. Said, der älteste Sohn der Familie, war von allen palästinensischen Gefangenen am längsten in Haft. Aber er ist nicht in dem Bus, der die Freigelassenen in die besetzten Gebiete bringt. Weil er zwei tödliche Anschläge in Israel organisiert hatte, wurde er 1977 zu lebenslanger Haft verurteilt. Seit fünf Jahren konnte ihn niemand besuchen. Der Vater ist tot, die Mutter zu krank, um zum Gefängnis in Aschkalon zu reisen.

„Während der gesamten Intifada gaben uns die israelischen Behörden keine Besuchserlaubnis“, sagt Sana. Im Februar haben sie ihre Beschränkungen etwas gelockert, aber nicht für die Verwandten von Said, da die Ausnahmen nur für Jugendliche unter 16 und für Ältere über 46 Jahre gelten. „Die Israelis könnten tausende von Familien für den Frieden gewinnen, wenn sie die Gefangenen auf einen Schlag freiließen“, meint Sana. „Aber sie lassen nur alle sechs Monate ein paar frei, und in der Zwischenzeit werden ebenso viele andere verhaftet.“ Seit Mahmud Abbas, genannt Abu Masen, zum Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde gewählt wurde, ist Nablus wieder ein wenig zur Ruhe gekommen. Angesichts des seit Februar geltenden Waffenstillstands hat die israelische Armee eine informelle Übereinkunft mit dem Gouverneur Mahmud al-Alul getroffen. Die palästinensische Polizei patrouilliert von 6 bis 23 Uhr in den Straßen, nachts wird sie von der israelischen Armee abgelöst. Der diskrete Kompromiss nutzt nicht nur der Palästinensischen Autonomiebehörde, die sich noch nicht sicher genug fühlt, um eine vollständige Autonomie zu verlangen, sondern auch der israelischen Regierung, die es nicht eilig hat, aus der angeblichen „Hochburg des Terrorismus“ vollständig abzuziehen.

Die israelische Armee will auch weiter gegen die Selbstmordattentäter vorgehen. Es gibt nach wie vor Razzien und Verhaftungen, vor allem in den Flüchtlingslagern von Nablus. Doch die Armee lässt ihre Panzer nicht mehr im Stadtzentrum auffahren. Seit Jahresbeginn wurden im Bezirk Nablus sieben Palästinenser von der israelischen Armee getötet. Seit Beginn der zweiten Intifada waren es 496, darunter 98 Jugendliche.

Die relative Beruhigung hat die Investoren beflügelt. Innerhalb von sechs Monaten stieg der Al-Quds-Index der Börse von Nablus um 150 Prozent. Das hat in Palästina eine gewaltige Aktienbegeisterung ausgelöst. Jeden Morgen drängen gut hundert Börsianer in die Räume der Maklerfirma Target, die vor Jahresfrist noch kaum jemand kannte. Selbst jugendliche Lastträger verfolgen auf dem Bildschirm die Notierung ihrer stocks und spekulieren, wie der Besuch von Abu Masen in Washington die Kurse beeinflussen könnte.

„Wenn die Lage ruhig ist wie jetzt, geht es der Börse gut“, meint Mohammed, 24 Jahre alt, der islamisches Recht studiert. Im Augenblick reicht die Euphorie allerdings nicht aus, um die wirtschaftlichen Aktivitäten wiederzubeleben. „Die Produktion unserer Textilfabriken ist um 70 Prozent zurückgegangen“, sagt Hussam Ijawi von der Handelskammer, und das nicht allein wegen der vielen israelischen Kontrollpunkte: „Die Nachgiebigkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde hat dazu geführt, dass türkische und chinesische Exporte unseren Erzeugnissen den Rang ablaufen. Der Schuhhersteller Malhees, der früher 400 Arbeiter hatte, schleppt sich heute mit 70 durch.“

In dieser allgemeinen Stagnation setzt die Börse vor allem auf zwei Zugpferde: auf Padico, eine Holding des Wirtschaftsmagnaten Munib al-Masri, und auf die Firma Paltel, das den palästinensischen Telekommunikationsmarkt beherrscht. Beide Unternehmen machen heute astronomische Gewinne. Paltel will sogar über eine Offshore-Tochter im Ausland investieren. In Nablus sagen die Leute hinter vorgehaltener Hand, das werde die Macht der großen Familien, die von jeher die Stadt beherrschen, nur noch weiter stärken.

Verschärft wird die örtliche Wirtschaftskrise noch durch die Abschottung des israelischen Markts. Sinnbild der Isolation ist der Kontrollpunkt Huwara am Ausgang der Stadt. Er war in den vier Jahren der zweiten Intifada (ab September 2000), als palästinensische Selbstmordattentäter in Tel-Aviv und Jerusalem zuschlugen, ein regelrechter Flaschenhals. Nur wenige Inhaber von Sondergenehmigungen durften passieren. Seit Abu Masen an der Macht ist und die bewaffneten Gruppen sich zurückhalten, drängen sich am Checkpoint Huwara täglich tausende von Palästinensern. Eine erstes ferngesteuertes Gittertor, ein von Betonblöcken gesäumter Weg, eine Metalldetektorschleuse, ein Soldat, der Kleidung und Gepäck durchsucht, dann ein zweites ferngesteuertes Gittertor, schließlich die elektronische Ausweiskontrolle.

Rania Hussein, eine 30-jährige Angestellte des Innenministeriums in Ramallah, braucht für den Weg zur Arbeit und zurück vier Stunden, obwohl es auf der Straße nur 50 Kilometer sind. Der Ingenieur Majdi Shobaki sagt sarkastisch: „Über das schöne Gerede vom Frieden kann ich nur lachen.“ Ein anderer Palästinenser meint: „Nach dem Rückzug aus Gaza dürfte es nicht viel anders sein. Nur noch mehr Kolonien, mehr Gefängnisse, mehr Kontrollstellen und ein Staat, der noch weniger lebensfähig ist. Die Verbitterung wächst. Ich habe Angst vor einem neuen Gewaltausbruch.“

Die bewaffneten Gruppen sind immer noch stark. Kürzlich haben sie das Büro des Gouverneurs beschossen. Manche ihrer Mitglieder haben sich auf Raub, Erpressung und Mord verlegt. Solche Delikte haben seit 18 Monaten stark zugenommen. Gespeist wird die Kriminalität aus alten Rivalitäten, aber auch aus dem Zerfall der Al-Aksa-Märtyrerbrigaden in zahlreiche kleine Zellen, die Intifada und andere Geschäfte vermischen. Die palästinensische Führung tut kaum etwas dagegen, da sie selbst in diese mafiosen Geschäfte verwickelt ist.

Die Ermittlungen zum Mord an Ahmed al-Shakaa, dem Bruder des damaligen Bürgermeisters Ghassan al-Shakaa, im November 2003 verliefen im Sande. Der Bürgermeister ist Anfang 2004 zurückgetreten. Eine Neuwahl ist nicht in Sicht. Die offizielle Begründung – die unsichere Lage – kann niemanden überzeugen. Bei der zweiten Phase der Kommunalwahlen im April lagen die Islamisten vielerorts an der Spitze. In Nablus kann die Hamas ähnlich abschneiden, sagen viele. Und ein Gesprächspartner, der sich bei den mächtigen Familien auskennt, bestätigt: „Hier weiß man, dass sämtliche Probleme, die mit Korruption und mangelnder Sicherheit zu tun haben, auf die Fatah zurückgehen. Dagegen sind die Leute der Hamas ohne Fehl und Tadel. Und nie spielen sie sich als Bonzen auf.“

Die Zukunft der Stadt besteht aus Fragezeichen: Wird man morgen Arbeit finden? Wird man nach Ramallah fahren, den Bruder im Gefängnis besuchen können? Kann man einen Bürgermeister wählen? Niemand weiß es.

Vertrauen haben die Menschen in Nablus wohl nur in die Börse. Die Aktienkurse beflügeln die Fantasie, erlauben manchmal sogar eine reale Flucht. Fathi Buzia aus Kafr Hares etwa will mit seinen Börsengewinnen die israelischen Checkpoints überwinden und sich ein Studium in Europa finanzieren.

Aus dem Französischen von Michael Bischoff Benjamin Barthe lebt als Journalist in Ramallah.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2005, von Benjamin Barthe