08.10.2015

Trolleys und Marschrutkas

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Trolleys und Marschrutkas

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Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte Moskau wie alle anderen russischen Städte kein Geld, um in den öffentlichen Nahverkehr zu investieren. Die Menschen fuhren weniger Straßenbahn (zwischen 1995 und 2008 sank die Zahl der Fahrgäste von 1,4 Milliarden auf 250 Millionen) und Trolleybus (Rückgang von 1,6 Milliarden auf 378 Millionen). Stattdessen nutzten die Moskauer vermehrt private marschrutkas (Kleinbusse), die häufiger und schneller fuhren.

Nicht ganz so dramatisch war der Rückgang bei der U-Bahn (von 3,1 Milliarden auf 2,6 Milliarden Fahrgäste pro Jahr). Auf den langen Strecken ist die Moskauer Metro eine der schnellsten der Welt. Aber die nächste Station ist meist so weit weg, dass man lange Fußwege oder Busfahrten in Kauf nehmen muss: Zwischen zwei U-Bahn-Stationen liegen durchschnittlich 1,8 Kilometer. Die anderen öffentlichen Verkehrsmittel sind so unterentwickelt, dass sie dem eigenen Auto, das 40 Prozent der Moskauer täglich benutzen, kaum Konkurrenz machen können.

Die Menschen in Moskau machen sich ähnlich große Sorgen wegen der ständigen Staus wie wegen der hohen Lebensmittelpreise, der steigenden Wohnkosten oder der Zuwanderung. Immerhin brauchen 40 Prozent der Moskauer länger als eine Stunde, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen (im Großraum Paris, dessen Fläche siebenmal so groß ist, sind es 20 Prozent).

Als Sergei Sobjanin Ende 2010 Bürgermeister wurde, versprach er eine „mobile Stadt“. Er hat die Haushaltsmittel umverteilt, um Geld für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs bereitstellen zu können. Vor seinem Amtsantritt waren 14 Prozent des Haushalts in U-Bahnen und Busse geflossen. Zwei Jahre später gingen 30 Prozent des kommunalen Haushalts in die Verkehrspolitik, wobei vorrangig in die Infrastruktur investiert wurde. 14 neue U-Bahn-Stationen wurden gebaut, 30 weitere sollen in den kommenden drei Jahren folgen. Ziel ist, dass 93 Prozent der Moskauer die U-Bahn zu Fuß erreichen können. Laut Baubehörde muss dafür das U-Bahn-Netz jährlich um 8 Kilometer wachsen.

Seit Ende 2011 ist der Jungunternehmer Maxim Liksutow, der mit Schienengüterverkehr reich wurde, Chef des Straßen- und Verkehrsamts und hat einige Maßnahmen zur Stärkung des öffent­lichen Nahverkehrs ergriffen: Es dürfen keine weiteren Straßenbahnlinien eingestellt werden, und die Stadt lässt alle Busse und Straßenbahnen überholen. Der interregionale Lkw-Verkehr über den Autobahnring Moskauer Autobahnring (MKAD) ist nur noch nachts erlaubt, um die Verkehrsbelastung für die in Moskau zugelassenen Pkws und Lkws wenigstens tagsüber zu reduzieren.

Außerdem hat die Verkehrsbehörde auf den großen Radialstraßen und dem Gartenring videoüberwachte Busspuren geschaffen. Seit dem 25. Dezember 2014 gibt es darüber hinaus bis zum dritten Straßenring gebührenpflichtige Parkplätze. Durch all diese Maßnahmen konnten die Verkehrsströme im Zentrum angeblich um 9 Prozent beschleunigt werden. Allerdings gibt es auch Leute, die diese Entwicklung der nachlassenden Wirtschaftsaktivität zuschreiben.

Die gegenwärtige Verkehrspolitik ist von Widersprüchen gekennzeichnet, in denen sich die politischen Spannungen innerhalb der Moskauer Stadtregierung widerspiegeln. Der mächtige, für Stadtplanung und Bauwesen zuständige Vizebürgermeister Marat Chusnullin räumt dem Ausbau des Straßennetzes nach wie vor Priorität ein. Die Pläne der obersten Verkehrsbehörde gehen offenbar in eine andere Richtung. „Wenn man sich die Verkehrsdichte anschaut“, sagt Michail Blinkin, Leiter des Instituts für Transportwirtschaft und Transportpolitik an der Höheren Wirtschaftsschule, „ist Moskau asiatischen Städten wie Tokio oder Singapur viel ähnlicher als europäischen Städten. Moskau wird nie eine Autostadt sein.“ ⇥H. R.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2015