11.06.2015

Lob der Gleichheit

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Lob der Gleichheit

von Stephan Lessenich

OSWALDO RIVAS/reuters
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Gleichheit ist Glück“ heißt eine Studie der britischen Epidemiologen Kate Pickett und Richard Wilkinson. Die beiden konnten auf breiter statistischer Grundlage einen eindeutigen Zusammenhang nachweisen: In relativ egalitären Gesellschaften lebt es sich besser als in solchen mit großen Einkommensunterschieden. Ganz gleich, ob es um Gesundheit oder um Kriminalität geht, um Aufstiegschancen oder um Selbstmordraten: Stets bestimmt das Ausmaß an ökonomischer Ungleichheit darüber, wie es um die Qualität des gesellschaftlichen Zusammenlebens bestellt ist. Mit mehr Gleichheit, so das Fazit der Studie, fahren Gesellschaften in aller Regel besser.

Sie stellten zudem fest, dass soziale Ungleichheit ökonomisches Wachstum antreibt. Lebenszufriedenheit ist eine relative Größe: Der Vergleich mit anderen lässt Bedürfnisse entstehen und wirkt als Motor sozialer Konkurrenz – nicht nur im Sinne einer Statuskonkurrenz um Luxusgüter, sondern auch als Wettkampf um Teilhabe. Je größer die Ungleichheit in einer Gesellschaft, desto stärker zum Beispiel der materielle und soziale Druck. Selbst in den reichen Ländern der OECD-Welt arbeiten die Menschen in Gesellschaften mit hoher Ungleichheit jährlich bis zu 500 Stunden länger als in jenen mit der ausgeglichensten Einkommensverteilung.

Ungleichheit ist ein Stachel – für mehr Leistung, mehr Wachstum und mehr Wohlstand, wie liberale Ökonomen nun anerkennend anmerken würden. Vor allem aber stachelt Ungleichheit die Produktion immer neuer Ungleichheiten an – ein Effekt, den liberale Ökonomen nicht ganz so gern an die große Glocke hängen. Ungleichheit reproduziert sich, sie steigert sich an sich selbst. Und das gilt nicht nur innerhalb einzelner Gesellschaften, sondern erst recht im Weltmaßstab.

Pünktlich zum Weltwirtschaftsforum 2015 in Davos präsentierte die Hilfsorganisation Oxfam beeindruckende Daten zur weltweiten sozialen Ungleichheit: Sollte sich der aktuelle Trend fortsetzen, werde das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung alsbald so viel Vermögen besitzen wie die restlichen 99 Prozent zusammen.

Auf den ersten Blick noch bemerkenswerter scheint der Befund, dass die 85 vermögendsten Personen der Welt genauso viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. So offenkundig absurd dieses Missverhältnis ist, so irreführend wäre doch der Schluss, dass das Problem allein an einem extrem kleinen Kreis Superreicher festzumachen wäre – und die Lösung in den Händen der politischen Entscheidungsträger liege, die diese paar Dutzend Multimilliardäre kräftig besteuern könnten.

Sicher, im Sinne der Bekämpfung von Ungleichheit wäre eine effektive Steuerpolitik, insbesondere eine kräftige Erbschaftsteuer, ein wichtiger erster Schritt. Doch das Problem der ungleich verteilten Lebenschancen ist in den Strukturen der modernen Weltgesellschaft viel tiefer verankert. Schon lange haben sich die massiven Ungleichgewichte zwischen den „entwickelten“ kapitalistischen Ökonomien im globalen Norden und den „unterentwickelten“ Gesellschaften im Süden verfestigt. Dieses Ungleichgewicht hat mit der Zeit zugenommen: Die „Unterentwicklung“ der einen ist über die weltweiten Kapital-, Ressourcen- und Warenströme nachweislich mit der „Entwicklung“ der anderen Seite verknüpft.

In einer anderen Studie haben sich die US-Soziologen Roberto Korzeniewicz und Timothy Moran daran gemacht, die historischen Grundlagen globaler sozialer Ungleichheiten aufzudecken. Die kolonialen Übergriffe der europäischen Mächte seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert sowie die massiven Migrationsströme von Europa in die Kolonien legten im 19. Jahrhundert die Basis für eine globale Ungleichheitsstruktur, die uns heute als gleichsam „natürlich“ erscheint.

Die gewaltsame Aneignung materieller Ressourcen in Übersee war eine wesentliche Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg der europäischen Industrienationen. Die Auswanderung insbesondere der ärmeren Teile der europäischen Bevölkerung wiederum sorgte in den Zuwanderungsländern für eine weitere Spreizung der Ungleichheit, in Europa hingegen für eine Vereinheitlichung der Arbeiterklasse – eine der Grundlagen für den späteren Klassenkompromiss zwischen Arbeit und Kapital.

Die erfolgreiche Entwicklung von Demokratie und Wohlfahrtsstaat in Europa hat demnach eine unerzählte Vor- und Parallelgeschichte: Die Wachstumskapitalismen des Nordens hinterließen auf ihrem Weg zur Weltherrschaft verheerende Spuren sozialer Ungleichheit, politischer Autokratie und ökologischer Ausbeutung in den Ländern des globalen Südens, die damit dauerhaft in ihren Entwicklungschancen behindert wurden.

Wir stehen also vor zwei Welten, innerhalb derer sich wiederum ganz eigene, ebenfalls stabile Strukturen der Ungleichheit ausgebildet haben – im reichen Norden ist sie geringer, im armen Süden extrem: Beide Konstellationen haben sich historisch in Abhängigkeit voneinander entwickelt und stehen auch heute noch in unmittelbarem Zusammenhang; sichtbar wird dieser in den Wanderungsbewegungen, die derzeit allzu häufig ihr tödliches Ende im Mittelmeer finden.

Welthistorisch könnte man sagen, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts das globale Migrationspendel zurückschlägt. Korzeniewicz und Moran berechnen aus den Einkommensverteilungsdaten von 85 Ländern aus dem Jahr 2007 eine Weltungleichheitsskala, die eindrucksvoller kaum sein könnte: Sie zeigt, dass praktisch alle Einkommensgruppen in den europäischen Ländern zu den reichsten 20 Prozent der Welt gehören – selbst das einkommensschwächste Zehntel der norwegischen Bevölkerung zählt global noch zum wohlhabendsten Zehntel. Umgekehrt gehören große Teile des südlichen Afrikas – und zum Beispiel 80 Prozent der äthiopischen Bevölkerung – zu den weltweit ärmsten 10 Prozent.

Ein durchschnittlicher Bewohner Afrikas, Lateinamerikas oder Südostasiens kann weder durch individuelle Bildung noch durch gesamtwirtschaftliches Wachstum jemals im eigenen Land eine ähnlich gute Einkommensposition erreichen wie durch Migra­tion in eine der reicheren Gesellschaften.

Selbst ein Guatemalteke, der zu Hause zum bestverdienenden Zehntel gehört, kann durch Einwanderung in die USA – wo sein heimisches Einkommen auf der Höhe des dortigen ärmsten Zehntels liegt – seine Lebensbedingungen schlagartig verbessern. Dasselbe gilt für eine bolivianische Mittelschichtsangehörige, die nach Argentinien migriert – oder gar nach Spanien, wo noch die ärmsten 10 Prozent ein deutlich höheres Einkommen haben als die reichsten 10 Prozent in Bolivien. Im Südchinesischen Meer, wo Einwanderer aus Bangladesch und Myanmar ein besseres Leben in Thailand oder in Malaysia suchen, spielen sich ähnliche Dramen ab wie im Mittelmeer.

Wohlgemerkt: Für das weltweite Migrationsgeschehen spielen auch andere Faktoren eine Rolle: Kriege, Terrorismus, Naturkatastrophen, staatliche Repression. Die meisten Menschen scheuen trotz der Aussichten auf ein besseres Leben die massive Ungewissheit, die jede Auswanderung mit sich bringt. Nur die Allerwenigsten verlassen ihre Heimat, auch wenn hiesige Medien und Politiker gern das Gegenteil suggerieren. Doch die extreme weltweite Ungleichheit wirkt im globalen Süden als tagtäglicher Anreiz, sich an die Wohlstandswelt des Nordens anzupassen – im Zweifel auch ohne Mi­gra­tion, durch die Annäherung an das Produktivitäts-, Konsum- und Ressourcenverbrauchsverhalten der reichen Gesellschaften.

Was folgt aus alledem? Ungleichheit ist ein Wachstumstreiber – und sie kann selbst durch jahrzehntelanges Wachstum nicht wirkungsvoll bekämpft werden, wovon alle „entwickelten“ industriellen Kapitalismen des globalen Nordens zeugen. Eine möglichst konsequente Politik der Umverteilung von „oben“ nach „unten“ in diesen Ländern – durch eine wirklich progressive Besteuerung, die schrittweise Anhebung von Mindestlöhnen und Grundsicherungen, eine radikale Wende im Erbrecht – könnte dazu führen, dass jedenfalls den am stärksten konsumistischen und ressourcenfressenden Lebensstilen der finanzielle Boden entzogen würde. Und sie könnte zumindest längerfristig durch soziale Anschauung lehren, dass Gesellschaften der Gleichheit auch Gesellschaften mit einer höheren Lebensqualität für alle sind.

Zugleich gilt es, die extremen globalen Ungleichheiten abzubauen – durch eine Kombination von Wachstumsverzicht der reichsten Gesellschaften und einer egalitären Wachstumsstrategie für die ärmsten. Hier würden Umverteilungspolitiken im Norden wie im Süden ineinandergreifen, indem ein Teil der „Umverteilungserlöse“ in den reichen Ländern zumindest mittelbar in die ärmeren transferiert werden müsste. Nicht im Sinne einer erweiterten „Entwicklungshilfe“ für die vermeintlich „vormodernen“ Nachzügler auf dem Weg des europäischen Wachstumskapitalismus des 20. Jahrhunderts. Sondern als Teil einer historischen Ausgleichsleistung – und als das materielle Fundament einer Infra­struktur gerechter Welthandelsbeziehungen und globaler sozialer Rechte.

Stephan Lessenich ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.06.2015, von Stephan Lessenich