13.04.2006

Unterwegs

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Unterwegs

Eigentlich ist reisen unheimlich, das haben wir nur vergessen. Sich schneller und weiter zu bewegen, als es unsere Muskelkraft erlaubt, ist ein prometheischer Akt. Mit der Eroberung des Raums fordert der Mensch die Götter heraus, und früher saß ihm dieses Unbehagen tief in den Knochen. Bevor ein Schiff in See stach, um die ungeheure Weite des Mittelmeers zu bewältigen, bemühten sich die alten Griechen, die Götter durch komplizierte Opferrituale versöhnlich zu stimmen. Schon eine Krähe, die sich in der Takelage niederließ, war böses Omen genug, um die Abfahrt zu verschieben, und die Seeleute wenigstens sind heute noch abergläubisch.

Es darf niemanden wundern, dass die frühen Reiseerzählungen ins Mythische wucherten. Marco Polo wollte in der Wüste Gobi Menschen verschlingende Geister gehört haben, und im Mittelalter machten Geschichten die Runde über Menschen mit nur einem Fuß, geformt wie ein riesiges Blatt – bei Regen legten sich diese Einfüßler einfach auf den Rücken und hielten den Fuß als Schirm über sich. Wer die bekannte Welt verließ, musste nun einmal mit allem rechnen.

Wir können die bekannte Welt nicht mehr verlassen, egal wie viele Kilometer wir in den klimatisierten Kapseln des ICE oder des Flugzeugs zurücklegen. Im 19. Jahrhundert glaubten die Menschen an Eisenbahnkrankheiten: Schäden an der Wirbelsäule (railway spine) wurden befürchtet, und wer eine Anlage zur Gehirnerweichung hatte, ruinierte seine Gesundheit durch Bahnfahren vollends, denn es war nicht bewiesen, dass der Mensch sich tatsächlich ungestraft mit fünfzig Meilen pro Stunde „wie ein Projektil“ durch die Landschaft jagen lassen konnte.

Wer sich heute davor fürchtet, in einen Zug zu steigen, gilt als schwer neurotisch. Nur in einer Schrumpfform hat sich das mythische Unbehagen erhalten: Jeder zweite Passagier hat, zumindest latent, Flugangst. Alle statistischen Unbedenklichkeitsbeweise helfen nicht gegen dieses dumme Gefühl im Bauch, sobald das Flugzeug abhebt und wir Mutter Erde verlassen, denn der Mensch ist nicht zum Fliegen geboren.

Doch an Beschleunigungen gewöhnt sich die Menschheit schnell. Karl Philipp Moritz beklagte sich bei seiner Englandreise Ende des 18. Jahrhunderts noch darüber, dass das Reisen in der Kutsche kein Reisen sei, „sondern nur eine Bewegung von einem Orte zum andern in einem zugemachten Kasten“.

Wir jedoch empfinden das Auto als Inbegriff der Freiheit, obwohl es zum Gefängnis wird, sobald man diese Freiheit nutzt. Nicht einmal aufstehen kann man während einer Autofahrt.

Überhaupt gilt: Je schneller man vorankommt, desto weniger kann man sich bewegen. Und genau dadurch wiederum treibt die Mobilität voran, denn wer sich bewegen lässt, ohne körperliche Energie aufzuwenden, muss keine Rast mehr einlegen.

Wir werden immer schneller und kommen immer weiter, denn noch nie ist eine Gesellschaft wieder zu einem langsameren Verkehrsmittel zurückgekehrt. Und auch die westliche Mobilität wird sich ohne Treibstoffmangel kaum je zurückentwickeln. Das Einzige, was gleich zu bleiben scheint, ist die Zeit, die wir im Unterwegssein verbringen. Ging man früher eine Stunde zu Fuß zur Fabrik, sitzt man heute eine Stunde im Auto auf dem Weg zum Büro.

Mobilität ist eine paradoxe Errungenschaft, in der ein vertracktes Programm zur Selbstaufhebung jeden Fortschritt zu unterlaufen scheint. So ist der westliche Durchschnittsbürger der mobilste Mensch, der sich die Erde je untertan gemacht hat, doch gleichzeitig ist er auch der bewegungsärmste. Ständig reden wir von der „schnelllebigen Zeit“ – und doch ist es, als würden wir die Beschleunigung gar nicht richtig wahrnehmen. Sie ist wie ein Automatismus, der sich selbst gleichzeitig negiert und fortsetzt. Je schneller etwas geht, desto größer unsere Ungeduld: So reservierte man sich früher mindestens einen halben Tag für die Recherche in der Bibliothek; heute sitzt man zu Hause am Computer und hält es fast nicht aus, dass die Trefferliste des Webkatalogs erst nach fünf Sekunden erscheint.

Jeder Fortschritt schafft auch etwas ab, das ist der Preis aller Zivilisation. So ist etwa die existenzielle Erfahrung von Entdeckungsreisen unwiederbringlich dahin. Der Abenteurer Wilfred Thesiger durchquerte in den 1940ern die Sahara auf Kamelen, doch rückblickend stellt er fest: „Die Reise auf einem Kamel zu wagen, wenn ich es auch in einem Auto hätte tun können, hätte das ganze Unternehmen in einen Stunt verwandelt.“ Selbst die ausgefallenste Abenteuerreise vermag das Abenteuer des Reisens nicht in die westliche Welt zurückzubringen.

Ein weiteres Opfer der modernen Mobilität besteht in jener gemächlichen Fortbewegung, in der noch zu Goethes Zeiten die meisten Wege zurückgelegt wurden. Gehen tun wir nur noch, wenn wir uns Bewegung verschaffen wollen. Ein Spaziergang oder eine Wanderung dient nicht dem Zweck des Fortkommens von A nach B, deshalb haftet Unternehmungen wie Wolfgang Büschers Fußwanderung von Berlin nach Moskau das etwas lächerliche Odium eines inszenierten Stunts an. Nur der Betriebsame kennt die Sehnsucht nach Beschaulichkeit. So sitzt man im Flugzeug und ergeht sich in der Lektüre von Peter Handkes kunstvoll gebremster Tagebuchprosa übers Gehen – der perfekte Eskapismus einer hypermobilen Gesellschaft. Sieglinde Geisel

Sieglinde Geisel ist Schweizerin und lebt als freie Journalistin und Kulturkorrespondentin in Berlin.

Le Monde diplomatique vom 13.04.2006, von Sieglinde Geisel