09.06.2006

Fußball, das Leben

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Fußball, das Leben

von Ignacio Ramonet

Die Fußballweltmeisterschaft ist das universelle Fernseh-Sportereignis schlechthin. Beim Endspiel in einem Monat werden an die zwei Milliarden Menschen aus 213 Ländern (die UNO zählt nur 191 Staaten) – das ist fast ein Drittel der Menschheit – vor den Fernsehern sitzen. Und nichts anderes wird sie in diesem Augenblick interessieren.

Der Wettbewerb wird so zu einem gigantischen Paravent, hinter dem jedes andere Ereignis verschwindet. Für manche Leute wird das eine große Erleichterung sein. In Frankreich zum Beispiel für die Herren Jacques Chirac und Dominique de Villepin, die gewiss auf den hypnotischen Effekt setzen, um die finstre Clearstream-Affäre vergessen zu machen und ein wenig durchzuatmen.

Egal ob man Fußball als „emotionale Seuche“ oder als „aufregende Leidenschaft“ sieht: Ein Phänomen, das so intensive Gefühle zu erzeugen vermag, ist mehr als nur ein Sport. Norbert Elias sprach von ihm als von einem „total social fact“. Man könnte auch sagen, dass der Fußball eine Metapher auf die Conditio humana ist. Er verweist darauf, so der Anthropologe Christian Bromberger, dass der Status des Einzelnen ebenso wie der Status von Gruppen stets mit Ungewissheit behaftet und den Unwägbarkeiten von Glück und Schicksal ausgeliefert ist. Der Fußball rege zum Nachdenken an über das Verhältnis von Individuum und Teamarbeit, zu intensiven Debatten über Simulation und Betrug, Willkür und Ungerechtigkeit.

Wie im wirklichen Leben gibt es auch im Fußball mehr Verlierer als Gewinner. Deshalb war dieser Sport schon immer ein Sport der kleinen Leute, die auf dem Fußballplatz, bewusst oder unbewusst, ihr eigenes Schicksal nachgespielt fanden. Aber die kleinen Leute wissen zugleich, dass Liebe zu ihrem Verein auch Leiden bedeutet. Und dass in der Niederlage nur eines zählt: dass man solidarisch zusammensteht. Dank der gemeinsamen Leidenschaft kann der Fußballfan sicher sein, nie allein zu bleiben. „You’ll never walk alone“, singen die Anhänger des FC Liverpool, des klassischen englischen Fußballklubs mit proletarischen Wurzeln.

Fußball ist der politische Sport schlechthin. Er führt ins Zentrum von Fragen wie der nach Zugehörigkeit und Identität, nach dem Zustand der Gesellschaft und sogar, im Hinblick auf seine mystische und seine Opferdimension, nach der Religion. Deshalb eignen sich die Stadien so gut für nationalistische Feierlichkeiten, für lokalpatriotische Bekundungen und tribalistische Leidenschaften, die mitunter in gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen fanatischen Fangruppen ausarten.

Aus all diesen und anderen Gründen, zu denen man gewiss auch seine positiven festlichen Seiten zählen muss, fasziniert dieser Sport die Massen. Und die wiederum ist nicht nur für die Demagogen, sondern auch für die Werbung interessant. Denn Fußball ist heute nicht nur ein sportlicher Wettkampf, sondern mehr noch ein Fernsehspektakel für ein Millionenpublikum – mit fürstlich bezahlten Protagonisten. Der Handel mit Fußballspielern spiegelt den Markt der neoliberalen Globalisierung wider: Die Reichtümer liegen im Süden, werden aber im Norden nachgefragt, denn allein dort ist die nötige Kaufkraft vorhanden.

In diesem Geschäft werden irrwitzige Summen umgesetzt. Allein mit der Weltmeisterschaft in Deutschland nimmt die Fifa 1,172 Milliarden Euro für Fernsehrechte und Sponsoring ein. Die Gesamtsumme der Werbeinvestitionen bei der WM 2006 wird auf 3 Milliarden Euro geschätzt. Solche Summen ziehen natürlich zahlreiche Geschäftemacher an, die den Spielermarkt ebenso kontrollieren wie die Fußballwetten. Auch manche Mannschaften schrecken nicht vor Betrug zurück, wie der jüngste Skandal in Italien belegt.

Fußball ist ein Faszinosum, das beides bietet: hinreißenden Sport, aber auch den Anblick eines Orts, an dem jemand Dreck in den Ventilator geworfen hat. Weshalb niemand mehr über eine weiße Weste verfügt.

Le Monde diplomatique vom 09.06.2006, von Ignacio Ramonet