12.11.2010

Obama, realistisch betrachtet

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Obama, realistisch betrachtet

Wirtschaft, Wahlen und weitere Aussichten von Kai Wright

Nur wenige Wochen nach seiner Wahl formulierte Barack Obama, wie er sein politisches Mandat sieht. Er sei, behauptete er, anlässlich seiner Entscheidung, die Wall Street anzupumpen um dadurch die Wall Street zu retten, die Verkörperung des Wandels. Jetzt hat er Gelegenheit, diese Behauptung unter Beweis zu stellen. Denn wenn in den nächsten zwei Jahren noch Wirtschaftsreformen verwirklicht werden, dann nur, indem der Präsident seine administrative Macht ausspielt und sie von oben durchdrückt. Sollte Obama damit scheitern, wird sein Job 2012 wahrscheinlich neu vergeben.

Im Rückblick war an den Wahlen von 2008 nichts Außergewöhnliches: Die Wirtschaft befand sich im Niedergang, ein Ausweg aus dem Irakkrieg war nicht in Sicht und ein fürchterlich unpopulärer Präsident und dessen Partei wurden abgestraft. Nüchtern betrachtet ist der „erdrutschartige“ Sieg der Republikaner in den Wahlen vom 2. November ebenfalls keine Überraschung: das Wahlergebnis entstand aus denselben Frustrationen wie vor zwei Jahren.

Es geht um Grundsätzliches. Die Arbeitslosigkeit in den USA liegt immer noch bei fast 10 Prozent. Wenn man die vielen Teilzeitjobber und diejenigen hinzuzählt, die der Arbeitswelt vollständig den Rücken gekehrt haben, kommt man auf eine noch viel höhere Zahl – ganz zu schweigen von denen, die sich in vielen Jobs gleichzeitig kaputtschuften, um über die Runden zu kommen. Es mag ja sein, dass die Wirtschaft „wächst“, aber dieses Wachstum ist falsch und betrifft die wirklichen Menschen nur insofern, als es sich auf ihre Kosten vollzieht. Mehr wird verlangt und weniger kommt dabei heraus, nicht nur was die Arbeit angeht, sondern auch den Konsum. Solange dies so bleibt, ist der Präsident, wer er auch sein mag, unpopulär.

Die Republikaner haben das gleich begriffen. Ihr Drehbuch war einfach: einerseits alle Initiativen der Demokraten ablehnen, andererseits die Basis mit fremdenfeindlichen Appellen mobilisieren. Die Strategie ist so erfolgreich wie unverantwortlich. Bei den Umfragen bezeichneten sich vier von zehn Wählern als konservativ; ein Viertel war über 65 Jahre alt, und vier Fünftel waren weiß. Es war also vor allem die republikanische Basis, die wählen ging. Und die Wechselwähler haben sich mehrheitlich gegen die Regierenden gewandt.

Die Republikaner blieben bei ihrer Verweigerungshaltung, und die Basis stimmte zu. Im Weißen Haus sollte man auf der Hut sein, die Republikaner wollen diesen Kurs noch verstärken. „Ich werde euch nicht enttäuschen“, versprach John Boehner, designierter Sprecher des Repräsentantenhauses, bei einer Versammlung der Tea Party in Ohio. In seiner Siegesrede setzte er noch einen drauf: „Was wir heute erleben, das ist eine landesweite Ablehnung von Washington, eine Ablehnung der großen Politik!“

Hier aber irrt Boehner. Durch den Wahlerfolg der Republikaner wird das Techtelmechtel mit der Tea Party nur umso gefährlicher. Die Wähler, die sich als „gemäßigt“ betrachteten, blieben den Demokraten treu, es gingen nur wenige dieser Gruppe zur Wahl. Die Wechselwähler haben den Republikanern zwar diesmal den Sieg beschert, aber dabei ging es ihnen mehr um Protest gegen den Präsidenten als um die hohlen Ideen der Grand Old Party.

Die Wirtschaft war – quer durchs politische Spektrum – die Schlüsselfrage dieser Wahl, das haben die Umfragen gezeigt: nicht die Gesundheitsreform, nicht das Staatsdefizit, nicht die Immigration, auch nicht andere Lieblingsthemen der Republikaner. Zwei von drei Befragten nannten Wirtschaft als ihr wichtigstes Anliegen. Neun von zehn sagten, der Wirtschaft gehe es schlecht, und es werde noch schlimmer. Über 30 Prozent sagten, in ihrem Haushalt sei in den letzten zwei Jahren jemand arbeitslos geworden. Wechselwähler wie die Basis der Demokraten wollten jemanden, der den Kampf aufnimmt mit den Banken, die das Desaster verursacht haben. Obama hat das nicht getan.

Die Statistik zeigt es deutlich: Die Hälfte der Blue Dog Democrats – einer konservativen Gruppierung innerhalb der Partei, die verhindern will, dass sie nach links abdriftet – hat ihren Sitz im Repräsentantenhaus verloren. Zugleich behielt die progressive Demokratin Marcy Kaptur ihren Sitz, deren Wahlkreis das wirtschaftlich stark gebeutelte Toledo in Ohio ist. Kaptur hat sich als eine der wenigen lautstark dafür ausgesprochen, die Wall Street in Haftung zu nehmen und Zwangsvollstreckungen zu verhindern (neben dem republikanischen Hitzkopf Alan Grayson aus Florida, der Prügel bezog, nachdem er seinen ebenfalls republikanischen Gegenkandidaten – einen durchaus ausgeglichenen Charakter – als „Taliban Dan“ beschimpft hatte).

Und noch mehr Statistik: Die Mehrheit der Wähler stimmt zwar darin überein, dass die Regierung „viele Aufgaben besser der freien Wirtschaft und den einzelnen Menschen überlassen“ sollte, aber frühere Umfragen haben gezeigt, dass man da genauer hinsehen muss: Eine Studie von Project Vote aus diesem Sommer ergab, dass ein großer Teil der Bevölkerung der Ansicht ist, die Regierung gebe zu viel Geld aus. Aber wofür? Eine übergroße Mehrheit fand, sie sollte weniger für Kriegsführung, die Rettung von Banken und Firmen ausgeben und dafür mehr für Bildung, öffentliche Arbeitsprogramme und die Verhinderung von Zwangsvollstreckungen.

Zu wenig Reform, zu wenig Kampfgeist

Diesem Wunsch wird Obama weder in seinen Reden noch durch seine groß angelegten Initiativen gerecht. Das Programm zur Wiederbelebung der Wirtschaft von 2009 war nicht ausreichend, die Reform der Finanzmärkte zu zaghaft. Komplizierte Diskussionen haben Kongress und Wähler gleichermaßen ermüdet und kaum zu greifbaren Ergebnissen geführt.

Obama wäre besser beraten gewesen, den Kampf um Grundsätze an einer bestimmten Front durchzufechten, egal ob er ihn nun gewonnen hätte oder nicht. So aber ist er zwei Jahre in der Defensive geblieben, hat seine Feinde in Schutz genommen und ist zwischen die Fronten geraten zwischen Bevölkerung und Finanzwirtschaft. Arbeitsplätze wurden so nicht geschaffen, Zwangsräumungen nicht verhindert.

Dabei hatte die Wall Street den Demokraten mit dem Betrugsskandal um Zwangsräumungen eine perfekte Waffe für das Wahlkampffinale in die Hand gegeben. Aber anstatt den gefährdeten Hausbesitzern seine Unterstützung zu versprechen, weigerte sich der Präsident zu handeln: Er sei es leid, „Geld an Leute zu verschwenden, die Hilfe nicht verdienen“. Diese Argumentation – dass man lieber die Betrogenen im Stich lässt, als Spekulanten und verantwortungslose Kreditgeber mit zu unterstützen – hätte auch von Obamas Amtsvorgänger stammen können.

Das ist das Problem der Demokraten. Ihre Irgendwie-ein-bisschen-Reformen stehen in keinem Verhältnis zu den massiven Herausforderungen. In Amerika wird gehungert, die Armut ist auf Rekordniveau gestiegen, Millionen Menschen haben ihr Häuser verloren. Die Arbeitslosenquote bei den Afroamerikanern liegt im zweistelligen Bereich und unter den jungen Schwarzen, die 2008 in solchen Mengen für Obama stimmten, ist sie so hoch wie während der Großen Depression. Neunmalkluge fragen jetzt, wo die jungen schwarzen Wähler diesmal geblieben sind. Ihre Unterstützung wäre ein bisschen viel verlangt. Wenn Obama ihre Zustimmung will, dann muss er sich für sie mit derselben Entschlossenheit einsetzen, mit der er auch den Ausgleich mit Republikanern und Bankern sucht.

Bisher sieht es jedoch nicht danach aus. Die Gewerkschaften haben sich während des Wahlkampfs für die Demokraten eingesetzt, das Weiße Haus wollte davon nichts wissen. Die erste Unternehmung des Präsidenten nach den Wahlen war eine zehntägige Asienreise – mit dem Ziel, neue Handelsabkommen zu unterzeichnen.

Zu Hause aber steht er vor der schlichten Frage: Auf welcher Seite steht er? Wenn er tatsächlich, wie er behauptet, Wandel und Reform verkörpert, dann muss er das jetzt unter Beweis stellen. Er muss die Macht, die er von Amts wegen hat, in die Waagschale werfen und ohne Rücksicht auf den Kongress handeln. Möglichkeiten gibt es genug: Er kann die Zwangsräumungen aussetzen und sinnvolle Regelungen bei der Kreditvergabe auf den Weg bringen. Er kann das rekordverdächtige Tempo der Abschiebepraxis stoppen. Er kann die neue Verbraucherschutzbehörde (Consumer Financial Protection Bureau) mit wirklichen Befugnissen ausstatten, um den Kreditwucher zu unterbinden. Er kann den militärischen Richtlinien zum Umgang mit Homosexuellen seine Unterstützung versagen. Er kann auf die Durchsetzung der prüfungswütigen Schulreform verzichten. Und Obama kann auch aufhören, so zu tun, als würde er den hasserfüllten Chor der Tea-Party-Bewegung gar nicht hören. Er kann seine Machtstellung nutzen, um einem anderen Amerika mit anderen Werten eine Stimme zu geben.

Yes, he can! Ihm bleiben noch zwei Jahre für die notwendigen Korrekturen an seinem Kurs, der die Partei zu diesem niederschmetternden Novembertag geführt hat. Zwei Jahre, das ist allerdings mehr Zeit, als viele Familien haben, die sich gerade noch mühsam über Wasser halten. Bleibt zu hoffen, dass Obama auf seiner letzten Gesprächsreise durch die Hinterhöfe Amerikas gut zugehört hat – und dass er endlich für die einsteht, die ihn ins Amt gewählt haben.

Aus dem Englischen von Jörg Dauscher und Katharina Döbler

Kai Wright ist Journalist und Herausgeber des Online-Magazins ColorLines. Seine Reportagen und Analysen erscheinen unter anderem in The Nation, The Root and The American Prospect.

© The Nation und für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.11.2010, von Kai Wright