Vertragen und Teilen
Gemeingüter – jenseits von Markt und Staat von Elinor Ostrom
Für die meisten Menschen verbindet sich die Idee der Gemeingüter (Commons) zunächst mit Ressourcen, die wir gemeinsam nutzen; mit Wassereinzugsgebieten zum Beispiel, oder mit Bewässerungssystemen, Fischbeständen, Weideflächen und Wäldern. Fehlen klare Vereinbarungen für den Umgang mit solchen Ressourcen, so laufen sie Gefahr, übernutzt, überweidet und ausgeplündert zu werden. Seit Jahrzehnten erforschen wir im Bloomington Workshop für Politische Theorie und Analyse, wie solche Vereinbarungen zustande kommen.
Jedes unserer Vorhaben ist in ein breiter angelegtes Programm eingebettet, welches die bestehenden Grenzen zwischen den Disziplinen überschreitet und die Erforschung des kollektiven Handelns vorantreibt. Es geht uns um die Entwicklung einer empirisch gestützten Theorie des kollektiven Handelns, die auf Selbstorganisation und Selbstverwaltung beruht.
Viele Politikerinnen und Politiker neigen dazu, die Marktordnung nach Adam Smith für alle privaten Güter und den „Leviathan“ von Thomas Hobbes –den wir heute als „souveränen Staat“ kennen – für alle gemeinschaftlich genutzten Güter zu empfehlen. Doch diese Gegensätze – privat gegen öffentlich, Markt gegen Staat – sind ärmlich. Das Denken in Gegensätzen kommt auch daher, dass sich die Politische Ökonomie in zwei Disziplinen geteilt hat: die Politik- und die Wirtschaftswissenschaft. Beide haben sich eigenständig weiterentwickelt. Das Problem dabei ist, dass wissenschaftliche Spezialisierung zwar gewisse Vorteile bringt, aber Überspezialisierung birgt eher Gefahren. Zum bedauerlichen Erbe dieser Überspezialisierung gehört, dass in der Politik in der Regel weitreichende Vorschriften gemacht werden, die oft auf sehr stilisierten Vorstellungen über die Wirkmächtigkeit von Institutionen beruhen.
Und als wäre dies nicht genug, hat die gängige Theorie des kollektiven Handelns die Vorstellung bestärkt, der Staat sei die einzige Alternative zum Markt. Diese Annahme unterstellt, dass freiwillige Selbstorganisation zur Bereitstellung öffentlicher Güter oder zur Verwaltung von Gemeinressourcen höchst unwahrscheinlich ist. Die Ökonomen empfehlen deshalb auf der einen Seite immer schnell, „der“ Staat solle sich kümmern, sobald sie merken, dass marktbasierte Lösungen scheitern. Dabei fragen sie nicht, was in staatlichen Institutionen getan werden kann und muss, um diese im Hinblick auf die Bewältigung dieser Aufgaben leistungsfähiger zu machen. Auf der anderen Seite setzen Politikwissenschaftler und Berater aber auf „Privatisierung“, sobald sich zeigt, dass zentralisierte staatliche Institutionen an ihre Grenzen kommen. Auch sie mogeln sich um die Frage herum, wie konkrete Anreize zu schaffen sind, die die Beiträge und Verantwortungsübernahme der Einzelnen verbessern.
Viele Menschen denken auch, bei Gemeingütern ginge es um gestrige Formen gemeinschaftlicher Selbstorganisation und Selbstverwaltung von natürlichen Ressourcen. Die Gemeinschaften, von denen dann die Rede ist, bekommen aus dieser Perspektive einen archaisch-exotischen Zug. Andere glauben, Commons würden allmählich verschwinden – wie Reliquien der Vergangenheit, die von modernen Institutionen ersetzt werden.
All jenen aber, die an der Vitalität der Gemeingüter zweifeln, sei ins Stammbuch geschrieben, dass auch heute zahlreiche Commons-Institutionen existieren und gedeihen. Und dabei geht es beileibe nicht nur um die Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen. Selbst moderne Unternehmen sind dafür ein Beispiel. Seit den Arbeiten des Briten Ronald Coase, der 1991 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, beginnen die Experten für Industrieorganisation zu verstehen, dass auch ein modernes Unternehmen einige Eigenschaften mit Commons-Institutionen teilt.
So wie ein moderner Komplex von Eigentumswohnungen gewissermaßen eine Commons-Institution ist. Während die Familien Eigentümer ihrer Wohnungen sind, haben sie gemeinsame Rechte und Pflichten für den Umgang mit dem Gebäude oder der Wohnanlage. Einige der einfallsreichsten Projekte zur Verbesserung der Stadtquartiere und der nachbarschaftlichen Beziehungen beabsichtigen deshalb, Mietern von Sozialwohnungen den Kollektivbesitz und die gemeinschaftliche Verwaltung ihrer Wohnhäuser zu sichern. Hier wird also staatliches Eigentum in gemeinschaftliches Eigentum überführt.
Auch das Internet ist ein Gemeingut. Es spielt im modernen Leben eine unglaublich wichtige Rolle. Die Allmende ist also ganz aktuell und keineswegs ein Relikt der Vergangenheit.
Selbstorganisierte Institutionen sind ein wichtiger Bestandteil des Institutionengefüges einer Gesellschaft, und ich bin davon überzeugt, dass sie auch im 21. Jahrhundert bestehen müssen. Viele Institutionen indigener Gemeinschaften haben bewiesen, dass sie es den Einzelnen ermöglichen, Gemeinressourcen über einen langen Zeitraum hinweg sehr intensiv zu nutzen. Einige überdauerten Jahrhunderte, manche Jahrtausende, ohne die empfindliche Ressourcenbasis zu zerstören, auf die die Menschen angewiesen sind.
Im Namen der Umwelt haben internationale Geber, NGOs, Regierungen und Hilfsorganisationen vieles auf den Weg gebracht und dabei oft unwissentlich jenes Sozialkapital der Nutzer zerstört, das entscheidend für den Erhalt natürlicher Ressourcen war: Beziehungsnetze, Normen, Wissen und Vertrauen. Der Schutz der biologischen Vielfalt darf aber nicht die Zerstörung institutioneller Vielfalt zur Folge haben. Wir müssen deshalb noch viel mehr darüber in Erfahrung bringen, wie die enorme Vielfalt von Regeln, die die Menschen sich über Jahrhunderte überall in der Welt und unter sehr verschiedenen Bedingungen erarbeitet haben, lebenswichtige Ressourcen schützen.
Commons-Institutionen sind vor allem dann in Gefahr, wenn Funktionäre davon ausgehen, dass sie gar nicht existieren (oder dass sie nichts bewirken), nur weil sie nicht von der Regierung selbst initiiert wurden. Dabei ist ein robuster Gemeingutsektor von enormer Bedeutung für das Leben der Menschen. Wenn wir keine Wege finden, die Verfasstheit der Gemeingüter zu verbessern; wenn wir nicht lernen, besser mit unseren kollektiven Ressourcen umzugehen, wird das Fehlen von Commons-Institutionen im 21. Jahrhundert zu tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Problemen führen. Noch einmal: Commons-Institutionen sind kein Relikt der Vergangenheit. Je mehr wir über sie lernen, umso besser können künftige politische Entscheidungen auf die Kraft der Gemeingüter aufbauen und Fehler der Vergangenheit vermieden werden.
Elinor Ostrom ist Professorin für Politikwissenschaft an der Indiana University in Bloomington/USA. 2009 erhielt sie als erste Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Ihr UN-Bericht „Our Common Future“, www.un-documents.net/wced-ocf.htm, erschien auf Deutsch unter „Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt“, Tübingen (Mohr) 1999. Dieser Text und der nebenstehende Beitrag sind Vorabdrucke aus ihrem Buch „Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter“, herausgegeben, überarbeitet und übersetzt von Silke Helfrich. Es erscheint im April 2011 beim oekom Verlag, München.