13.04.2007

Protest ins Leere

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Protest ins Leere

Beim ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen 2002 gaben rund 1 Million Wähler leere Stimmzettel ab, beim zweiten Wahlgang waren es 1,8 Millionen. Zwischen 1945 und 1993 entschieden sich regelmäßig 2,5 Prozent der Wähler zur Abgabe leerer Stimmzettel, seit 1993 nahm der Anteil regelmäßig zu und erreicht heute knapp 5 Prozent.

Anders als in Griechenland, Schweden oder Belgien zählen leere Stimmzettel nach französischem Wahlrecht nicht zu den abgegebenen Stimmen. Das heißt mit anderen Worten: Das französische Wahlgesetz schlägt alle, die leere Stimmzettel abgeben, einfach zu den Nichtwählern. Die Verfassung der Zweiten Republik von 1852 hielt es umgekehrt, und zwar unter Verweis auf das Recht der Wähler, ihre Haltung in jedem Fall zur Kenntnis geben zu können.

Seit 1988 lagen der französischen Nationalversammlung zwölf Gesetzentwürfe vor, die eine Anerkennung leerer Stimmzettel herbeiführen wollten. Der letzte dieser Entwürfe stammt aus dem Jahr 2003; keiner fand die Zustimmung der Abgeordneten. Verschiedene Initiativen, darunter auch auf Ebene der Europäischen Union, treten dafür ein, dass leere Stimmzettel als eine besondere Kategorie erfasst werden.

Immer mehr Wähler sehen sich durch keinen der antretenden Kandidaten mehr repräsentiert. Wenn die genannte Lücke im Wahlsystem nicht geschlossen wird, bedeutet dies im Grunde, dass nur diejenigen Bürger als „gute“ Bürger gelten, die einen Kandidaten der etablierten Parteien wählen.

Dass die Aussicht auf eine getrennte Zählung der „ungültigen“ Stimmen die heutige Führungselite nervös macht, ist verständlich, weil damit die geschmälerte Legitimitätsbasis der offiziellen Kandidaten offenbar würde. Der Stimmanteil würde nämlich sinken, da bei 5 Prozent leeren Stimmzetteln nur 95 Prozent der abgegebenen Stimmen der Berechnung zugrunde liegen würden. Falls das Wahlgesetz einen bestimmten Mindeststimmenanteil vorsieht, könnte im Extremfall sogar die Wahl eines Kandidaten in Frage stehen.

Vor allem aber verändert die separate Erfassung der leeren Stimmzettel das Verhältnis zwischen Wähler und Volksvertreter, da die Wähler die Möglichkeit bekommen, gegen das vorgefundene Personalangebot zu protestieren, etwa weil sie keinen hinreichenden Unterschied zwischen den Kandidaten sehen oder ein klares Programm vermissen.

Vielleicht würde die getrennte Zählung sogar dazu führen, dass Protestwähler nicht für extremistische Parteien stimmen, sondern eher leere Stimmzettel abgeben, um ihrem Unmut Ausdruck zu geben.

Le Monde diplomatique vom 13.04.2007