13.11.2014

Brief aus Toronto

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Brief aus Toronto

von Joe Fiorito

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Neulich abends habe ich mir in einem Restaurant einen Teller Pasta bestellt, an sich nichts Besonderes, aber meistens doch enttäuschend. Dieses Mal allerdings sah die Pasta aus, als käme sie aus dem Dorf meiner italienischen Vorfahren, und sie schmeckte wie von der Nonna gekocht, die ich nie kennengelernt habe. Als ich später an der Küchentür vorbeiging, sah ich am Herd jedoch keine weißhaarige, rundliche Frau in Schwarz stehen, sondern eine Reihe hektisch und konzentriert werkelnder, magerer Männer in T-Shirts: tamilische Köche.

Das ist Toronto. Die tamilischen Frauen, die ich kenne, sagen zwar, die Typen hätten zu Hause nie gekocht. Doch ein Mann muss hier seine Brötchen verdienen, und so kommt es, dass in vielen unserer internationalen Restaurants, nicht nur in den italienischen, tamilische Männer kochen.

Leider ist vielen von uns der Appetit ebenso vergangen wie der Stolz auf unsere Stadt. Warum? Weil wir in den letzten vier Jahren einen Rechtsaußen-Bürgermeister hatten, einen Dickwanst mit einem großen Herzen und einem kleinen Hirn!

Rob Ford. Zuerst dachten wir, er sei nur ein großmäuliger Stadtverordneter, der durch ein demokratisches Missgeschick auf dem Stuhl des Stadtoberhaupts gelandet ist. Doch bald entpuppte er sich als ein Mann, der seine Affekte nicht unter Kontrolle hat, und obendrein als autoritärer, homophober Rassist, als Lügner und Crack-Raucher. Er trat oft betrunken in der Öffentlichkeit auf oder bekundete vor einer ad hoc versammelten Journalistenschar, er habe zu Hause mehr als genug zu essen, und, nein, damit meine er nicht die Kochkünste seiner Gattin.

Stadtratssitzungen schwänzte er, weil er bei Highschool-Footballspielen den Trainer mimte, bis sie ihn da rauswarfen. In den Augen mancher Leute machte er alles goldrichtig, da er ja versprochen hatte, dass wir weniger Steuern zahlen sollten. Von wegen!

Eines beherrschte RoFo indes perfekt: Mauscheln und sich als Politiker zum Anfassen und Anwalt der kleinen Leute gerieren. Schlaglöcher stopfen, das verstand er meisterhaft, so was mögen wir hier. Tatkräftig unterstützt wurde er in seinem schändlichen Tun von seinem streitbaren Bruder und Stadtratskollegen Doug alias DoFo, der in der Highschool mit weichen Drogen gedealt haben soll.

Die Fords betrachten sich als politische Dynastie und vergleichen sich oft mit den Kennedys. Zugegeben, sie sind zahlreich, sehen alle gleich aus, und Vater Ford war für eine Legislaturperiode mal Mitglied eines Provinzparlaments. Rob und Doug dagegen besuchten einmal ein Spiel in der nur kurz existierenden Lingerie Football League, bei dem Dougs Tochter wie alle anderen Spielerinnen auch in dabei obligatorischer Reizwäsche kickte. Wie die Kennedys? Und Peter Ustinov hat einmal gesagt, Toronto sei wie New York, nur unter Schweizer Leitung. Wie bitte? Was für Schweizer?

Wir haben gerade eine quälende, zehnmonatige Stadtratswahl hinter uns. Es war die reinste Seifenoper, in die sich dann noch todernste Untertöne mischten. Sechs Wochen vor der Wahl wurde bei RoFo ein seltener, lebensbedrohlicher Krebs diagnostiziert. Daraufhin stieg er aus dem Rennen um das Bürgermeisteramt aus und bewarb sich nur noch um einen Sitz im Stadtparlament. Natürlich hat er seinen Wahlkreis gewonnen. Den hätte er auch gewonnen, wenn er einfach nur im Bett geblieben wäre.

In einem Akt brüderlicher Liebe sprang DoFo ein und bewarb sich an RoFos Stelle um das höchste Amt der Stadt. Er wäre besser im Bett geblieben. In der Hoffnung, das Ford’sche Schmierentheater zu beenden, haben wir Doug die nötige Abfuhr erteilt – und einen Bürgermeister gewählt, der alles ist, was die Fords nicht sind: ein gut aussehender Upperclass-Mann mit tadellos sitzender Frisur, maßgeschneidertem Anzug und dem ausdrücklichen Versprechen, eine Politik der Mitte zu machen – John Tory, Liebling der politischen Eliten. Jetzt hoffen wir, dass wir uns von den letzten vier Jahren erholen und es schaffen, wieder zum schönen, guten Toronto zu werden. Moment, eins nach dem andern!

Eine der aussichtsreichsten Kandidatinnen für das Bürgermeisteramt war Olivia Chow, die mit dreizehn Jahren aus Hongkong nach Kanada gekommen ist und auf eine ausgezeichnete Karriere als Kommunal- und Bundespolitikerin zurückblickt. Diese Frau musste sich bei einer Wahlkampfdebatte von jemandem im Publikum sagen lassen, sie solle zurück nach China gehen. Dass Rob Ford einmal über „die Chinesen“ sagte, sie schufteten wie die Berserker, schliefen neben ihren Maschinen und würden hier demnächst den ganzen Laden übernehmen, muss ich in diesem Zusammenhang leider auch erwähnen.

Für den Stadtrat hatte auch eine somalisch-kanadische Frau kandidiert, eine junge, furchtlos und offen auftretende Muslimin mit Kopftuch. Auf Wahlplakaten mit ihrem Foto wurde ihr Gesicht verunstaltet, und auch ihr legte man nahe, sie solle zurück nach Hause gehen.

Als feststand, dass John Tory die Wahl gewonnen hatte, sagte einer der Ford-Fans unter Tränen, das sei ja wie die Ankunft von Isis in Toronto. O je!

In Wahrheit kommen wir meist miteinander aus; wir wissen, so gut wie hier haben wir es nirgendwo sonst. Uns eilt zwar der Ruf voraus, wir seien reserviert, doch das ist in Zeiten von Multikulti vielleicht gar nicht so schlecht: Wenn man neben jemandem sitzt, der aus einem kriegsgeschundenen Land kommt und womöglich unter posttraumatischem Stress leidet, scheint Zurückhaltung durchaus angebracht und vernünftig.

Im Winter friert man sich hier zu Tode, den Obdachlosen passiert das manchmal tatsächlich. Der Frühling bedeutet Schlamm und noch mal Schlamm. Unsere Sommer sind südlich, heiß und feucht. Wir müssen nur noch lernen, es wie die Leute im Süden auch langsam angehen zu lassen und im Schatten einen Highball zu schlürfen.

Unsere schönste Jahreszeit ist der Herbst. Dann kreisen Tausende Habichte, Adler, Falken und Geier in den klaren frischen Winden über dem High Park am Westrand der City, bis die Strömungen günstig sind und sie nach Mittel- und Südamerika bringen. Ein Weltwunder, das die wenigsten von uns kennen, weil sie nicht in den Himmel schauen.

Aber wir schauen gern hoch in die sich verfärbenden Blätter der Bäume. In diesem Herbst sind ein paar Ahornbäume nicht flammend rot, sondern haben die Farbe reifer Pfirsiche. Und weil wir in Toronto sind, wo man sich noch im Angesicht der Schönheit Sorgen macht, überlege ich, ob die Farbe der Ahornblätter in diesem Jahr etwas mit dem Klimawandel zu tun hat.

An Wandel sind wir gewöhnt. Toronto hat fast 3 Millionen Einwohner. Jedes Jahr kommen ungefähr 150 000 Menschen aus aller Herren Länder neu in unseren riesigen Ballungsraum. Jedes Jahr ziehen aber auch etwa 50 000 weg. In unseren Schulen sprechen die Kinder 170 verschiedene Sprachen. Was für eine Stadt das ist? Das sage ich Ihnen in hundert Jahren, wenn sich alles ein bisschen eingependelt hat. Um mit dem rasanten Wachstum mitzuhalten, bauen wir wie verrückt und ziehen Hunderte von mehrstöckigen Wohnblocks und Bürogebäuden hoch. Wahrscheinlich muss man lange suchen, bis man irgendwo anders in Nordamerika noch einen Baukran findet.

Ich bin mal mit einem Stadtplaner aus Montreal auf den Canadian National Tower gestiegen. Das ist ein Fernsehturm und das Wahrzeichen unserer Stadt. Der Mann war in Montreal dafür zuständig, größere Bauvorhaben nach ästhetischen Gesichtspunkten zu prüfen. Ich habe ihn gebeten, sich umzuschauen und mir zu sagen, was ihm dazu einfällt. Woraufhin er meinte, wir sollten unsere Hochhäuser am besten flach auf die Seite legen. Dann wären sie drei, vier Stockwerke hoch, und wenn daraus Straßen entstünden mit Bürgersteigen und Läden in den Erdgeschossen, wären wir schon auf dem richtigen Weg.

Da, wo ich wohne, sieht es übrigens so aus: unten in den Häusern Läden, darüber Wohnungen. Mein Kiez ist polnisch, andere Stadtviertel sind russisch, indisch, italienisch, griechisch, tibetisch oder äthiopisch. Wir haben Minarette und Glockentürme und nicht nur ein Chinatown, sondern vier. Von meiner Wohnung aus muss ich fünf Minuten laufen, wenn ich ein Kotelett, eine Briefmarke, einen Blumenstrauß oder eine Packung Aspirin kaufen will. Weil ich das, was ich brauche, zu Fuß besorgen kann, kennen meine Nachbarn mein Gesicht, und weil ich in den kleinen Läden kaufe, begrüßen mich die Inhaber mit Namen.

Das Problem ist nicht die Innenstadt, abgesehen davon, dass man eine halbe Million Dollar braucht, um sich ein renovierungsbedürftiges Zuhause leisten zu können, und ewig auf die überfüllten Straßenbahnen warten muss. Unser Problem sind die Vororte, wo die meisten Armen, die Neuankömmlinge und die Arbeitslosen wohnen. Um irgendwo hinzukommen, müssen sie mit dem Auto fahren oder ganze Tage in Bussen zubringen, die sich an keinen Fahrplan halten. Komischerweise haben viele von ihnen Rob Ford gewählt. Und die Leute muss unser neuer Bürgermeister überzeugen, wenn wir dieser Stadt wieder zu ihrem New Yorker Schweizerischsein verhelfen und uns selber mit einem Teller dampfender tamilischer Pasta al arrabiata trösten wollen.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier Joe Fiorito ist Schriftsteller und schreibt Kolumnen für den Toronto Star. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch „Die Stimmen meines Vater“, aus dem Englischen übersetzt von Sigrid Ruschmeier, Berlin (Alexander Fest Verlag) 2000. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.11.2014, von Joe Fiorito