12.08.2011

Darf Kunst engagiert sein?

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Darf Kunst engagiert sein?

von Santiago Sylvester

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Jorge Luis Borges fand den Begriff „engagierte Kunst“ bekanntlich abwegig, genauso als spräche man von „protestantischem Reitsport“. Für ihn klang das wie ein absurder Scherz, und vermutlich störte ihn besonders das bedeutungsschwangere Adjektiv. Und doch hat dieser Begriff mehr als ein Jahrhundert überdauert, bis heute, und bezeichnet doch nur eine einzige Form von Engagement: das politische. Dies ist erstaunlich angesichts der Tatsache, dass die Kunst im Westen jahrhundertelang fast ausschließlich der Religion verpflichtet war und sich der unterschiedlichsten Zuordnungen würdig erwiesen hat: byzantinisch, romanisch, gotisch oder direkt: christlich, jedoch niemals „engagiert“.

Die „engagierte Kunst“ bezieht ihre Daseinsberechtigung aus der Politik, oder deutlicher: der Macht (statt aus der Liebe, dem Tod oder dem Glauben). Dabei setzt das Adjektiv nicht nur eine politische Einstellung voraus, sondern auch den festen Vorsatz, sie ausdrücklich, nahezu obsessiv öffentlich auszustellen; und die Auffassung, die Kunst sei ein Werkzeug, mit dem die Gesellschaft verändert werden könne. „Das Leben ändern“, wie Arthur Rimbaud so radikal forderte, meint allerdings etwas anderes, dem liegen andere Überlegungen zugrunde.

Vor noch nicht allzu langer Zeit schienen Kunst und Politik, ja, Kunst und politischer Aktivismus untrennbar zusammenzugehören. Das Adjektiv „engagiert“ war fast wichtiger als das Nomen: Dieser Unverhältnismäßigkeit mag es zuzuschreiben sein, dass diese Kunst einen ziemlich schlechten Ruf hat und Borges sich in der zitierten Weise äußerte. Denn obwohl das „Engagement“ eine wichtige Neuerung hervorbrachte und den Künstler zwang, sich Gedanken über das Zeitgeschehen zu machen, das ihn betraf, entstand dabei ein kultureller Gemeinplatz: Kunst musste eine Botschaft haben, sonst lief sie Gefahr, als bloßer Ästhetizismus abgetan zu werden.

Hier liegt der Ursprung einer Verzerrung, die wir inzwischen als solche erkennen, weil wir wissen, dass die besten Absichten oft zu den schlechtesten Resultaten geführt haben. Bestimmte Formate und bestimmte Ausdrucksformen wurden bis zum Überdruss wiederholt, am liebsten die allerbekanntesten, damit die Botschaft auch wirklich ankäme. Folglich gaben die Künstler bei ihrem Tod die Kunst fast unverändert so weiter, wie sie sie vorgefunden hatten, was ebenso paradox wie langweilig ist.

Der Vorwurf des Ästhetizismus an die Kunst, die als nicht engagiert galt, betrifft große Teile des 20. Jahrhunderts, und weil er so heftig vorgetragen wurde, provozierte er entsprechende Reaktionen – wie Gottfried Benns spöttische Bemerkung vor mehr als einem halben Jahrhundert (in „Der Ptolemäer“): „Wenn dir jemand Ästhetizismus und Formalismus zuruft, betrachte ihn mit Interesse: es ist der Höhlenmensch, aus ihm spricht der Schönheitssinn seiner Keulen und Schürze.“

Außer Frage steht, dass gelungene „engagierte Kunst“ wie „Die Höhen von Macchu Picchu“ aus dem „Canto General“ von Pablo Neruda, gegen solche Vorwürfe gewappnet ist: Sie besticht durch ihren Gegenstand und ihre Ästhetik. Hier handelt es sich um eine Feier des verborgenen Lateinamerikas in Versen, die eine Landschaft, eine Geschichte und das anonyme Heldentum eines Volkes besingen und in ihrem Klang mythisch anmuten.

„Engagement“, ob mit oder ohne Anführungszeichen, ist legitim. Aber (immer folgt ein Aber) der Künstler muss dem spezifischen Material, an dem er arbeitet, verpflichtet bleiben, und das bezieht sich auf das Wie: Strukturen, Formen, Setzungen, damit der behandelte Gegenstand mit neuen Assoziationen in Verbindung gebracht, unbekannte Sichtweisen eröffnet werden, so dass daraus tatsächlich ein neues oder wenigstens erneuertes Resultat entsteht. Der Künstler, sofern er einer ist (das heißt, sofern er seiner künstlerischen Erfahrung selbst Aufmerksamkeit schenkt), darf nicht vergessen, dass die Gegenwart sich stets über die Form zum Ausdruck bringt, und dass durch diese Form der Künstler Stellung zu seiner Zeit nimmt. Die Kunst, die ihre eigene Sicht auf die Welt hat, kann mit ihrer Zeit leichter in Beziehung treten, wenn sie bestimmte formale Aspekte erfüllt: Das Formale bezeichnet so die Grenze zwischen der Schöpfung (poiesis) und der bloßen Wiederholung von Formen. Demnach wird die Politisierung der Kunst (ihr „Engagement“) nicht durch den Gegenstand relevant, den sie behandelt, sondern durch ihre Verpflichtung gegenüber der Sprache: durch deren Fähigkeit, die reale Welt – mitsamt den der Geschichte stets innewohnenden irrealen Komponenten (Mythen, Legenden) – künstlerisch zu erfassen.

Die künstlerische Evolution ist der Grund, warum Octavio Paz vor mehr als vierzig Jahren von der „Tradition des Bruchs“ sprach. Er bezog sich auf die fortwährende Suche nach formaler Erneuerung, die fast das ganze 20. Jahrhundert prägte. Paz erkannte und benannte auf diese Weise, dass der fortgesetzte Bruch mit dem Alten die Tradition geformt hatte, und wies auf einen augenfälligen Widerspruch hin: Diejenigen, die unerbittlich für die Abkehr von allen Traditionen eintraten, hatten eine neue Tradition begründet.

Das Thema der Erneuerung ist eng mit der Frage des Engagements verwoben – schließlich handelt es sich um zwei Aspekte desselben schöpferischen Willens. Um es aus einer gewissen Distanz heraus neu zu betrachten, muss man sich bewusst machen, dass parallel zur „Tradition des Bruchs“ immer auch eine gegenläufige, vielleicht sogar wichtigere Linie verfolgt wurde, die man als „Tradition der Konstruktion“ bezeichnen könnte. Es ist eine uralte Linie mit großem historischen Ballast, die sich immer dann erneuert, wenn ein Künstler neue Strukturen versucht, nicht um zu zerstören, sondern einfach weil die alten ausgedient haben. Das Goldene Zeitalter in Spanien hätte es nie gegeben ohne die kastilische Version des italienischen Elfsilbers, von Garcilaso de la Vega und Boscán von der einen Halbinsel auf die andere übertragen; die Moderne nicht ohne das Aufkommen des freien Verses; die derzeit verbreitete lyrische Sensibilität nicht ohne die Formen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erarbeitet wurden.

Alles ist Material

Nicht alle Künstler hatten, wie der Futurist Marinetti, das Ziel, zu zerstören, um zu sehen, was bei dem Zusammenbruch herauskommen würde. Viele haben eher versucht, überholte Ausdrucksformen durch andere zu ersetzen. Dichter wie Mallarmé, Apollinaire, T. S. Eliot, Marianne Moore, Saint-John Perse, Carlos Drummond de Andrade, Rubén Darío oder César Vallejo, um einige wenige zu nennen, waren Konstrukteure par excellence: Sie haben uns das Bestreben vermacht, zu konstruieren, zu rekonstruieren, auch mit gebrauchten Materialien, wenn sie noch tauglich waren. Denn auf diese Weise arbeitet die Menschheit seit jeher: indem sie alles benutzt.

Wo in diesem Szenario die engagierte Kunst bleibt? Sie ist mittendrin. Das Engagement des Künstlers, das die Zeit am besten überdauert hat, muss sich auf die verborgenen Mechanismen gesellschaftlicher Vorgänge beziehen; nicht dagegen auf die gerade herrschende politische Konjunktur. Es hat Zeiten gegeben, in denen dramatische Ereignisse den Künstler zum unentbehrlichen Zeugen machten (was vielleicht auch wieder einmal geschehen wird, aber in anderer Weise). Doch ist offenkundig, dass sich diese überkommene Vorstellung von Engagement mittlerweile abgenutzt hat.

Erhalten geblieben ist freilich die umfassendste Variante von Engagement: das soziale Bedürfnis der Kunst, ihr Bedürfnis nach Resonanz in der Gesellschaft, wobei die Resonanz der Interessierten oft ganz unvermutet und in unerwarteter Weise erfolgt. Dass die Lyrik von Borges Bewunderung auslöst, muss nicht heißen, dass sie engagiert ist; dass die Lyrik von Francis Ponge als engagiert gilt, muss nicht heißen, dass sie aktuelle Themen aufgreift. Ich beschreibe hier lediglich zwangsläufige Wechselwirkungen: das Geben und Nehmen fließender Materie.

Wir brauchen uns nur in der Welt umzusehen, Ansatzpunkte für engagierte Kunst gibt es genug: Schon das Fernsehen – und nichts ist realer – bietet mit seiner Mischung von schlechtem Geschmack, Banalität und Pornografie, die von einem Universalprinzip namens Profitdenken eher gefördert werden, viel Anlass zum Protest. Doch wahrscheinlich macht uns das Protestieren nicht zu besseren Künstlern, sondern zu Straßenpredigern, vor allem, wenn wir die elementare Frage nach der Form vergessen. Nicht der Protest, der schon längst Eingang in einzelne Gesellschaftsschichten gefunden hat, verleiht künstlerische Legitimität, sondern die alte Überzeugung, dass die Kunst von Verjüngungen lebt. Und das ist es, was, auf die eine oder andere Weise, passieren muss.

Es sei noch gesagt, dass in der Kunst nicht alles Form ist. Dies hier ist kein Plädoyer für das Dekorative oder ein neuestes Modell. Im Gespräch mit Javier Adúriz, einem Lyriker aus Buenos Aires, erhielt ich die Auskunft: „Der Dichter (wir sprachen konkret über Lyrik) muss beeindruckende Dinge sagen.“ Ein ziemlich präzise Anweisung, obwohl man dazu vielleicht erklären muss, dass Adúriz nicht davon sprach, dass ein Drache auftaucht oder ein Verbrechen aus Leidenschaft begangen wird, sondern davon, dass das Gedicht (das Kunstwerk) etwas vor uns aufstellt, das wir noch nie zuvor gesehen haben, das uns zum Staunen bringt. Auf diese Weise sprechen wir über etwas, über ein Thema, nicht wie über jedes andere auch, sondern wie über etwas, das bestimmt ist durch die Worte, die Struktur, die Form sine qua non: durch das, was es zu etwas „Beeindruckendem“ macht, selbst wenn es um die uralten Themen Liebe, Religion, Politik geht. Dann wird Kunst engagiert sein, und zwar mit künstlerischer Legitimität. „Die Höhen von Macchu Picchu“ ist ein Beispiel für das Beeindruckende, aber Neruda selbst hat auch genug Beispiele für das Gegenteil geliefert, wenn er etwa ohne jede künstlerische Anmut vom „Engel des Zentralkomitees“ schwärmt.

Cesare Pavese erzählt in seinem Tagebuch eine Anekdote aus der Nachkriegszeit, als ausdrückliches politisches Engagement zwingend war. Eine Sekretärin im Einaudi-Verlag, wo ein neuer Roman von Pavese erscheinen sollte, meinte: „Der wird weder dem Bürgertum noch dem Proletariat gefallen.“ Pavese notierte dazu: „Gut.“ Ich habe den Verdacht, dieses „Gut“ bedeutete nicht, dass er diese Meinung billigte, sondern dass er einfach hinnahm, dass die Kunst andere Wege hat, um dorthin zu gelangen, wo sie hin soll; und dass er damit recht hatte.

Aus dem Spanischen von Hanna Grzimek Santiago Sylvester ist Lyriker aus Argentinien. Autor unter anderem von: „El reloj biológico“, Buenos Aires (Dock) 2007, und „Oficio de lector“, Córdoba (Alción) 2003.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2011, von Santiago Sylvester