10.03.2016

Kampf der Kulturen in Israel

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Kampf der Kulturen in Israel

Die zunehmend autoritäre Regierung versucht mit allen Mitteln ihre Kritiker mundtot zu machen

von Charles Enderlin

Von rechts außen unter Druck: Ministerpräsident Netanjahu RONEN ZVULUN/reuters
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Keine Woche vergeht, ohne dass die extreme Rechte in Israel verkündet, man habe neue „Verräter“ entlarvt. Mit Vorliebe werden linke NGOs als „vom Ausland finanzierte Maulwürfe“ diffamiert und der Kollaboration mit dem „palästinensischen Feind“ bezichtigt, aber es kann auch israelische Schriftsteller, Künstler oder politische Persönlichkeiten treffen. Sie alle sind Ziel von „Shaming“-Attacken im Netz, also Einschüchterungen und Demütigungen, die oft mit rassistischen Beleidigungen und Drohungen einhergehen. Ihr Vergehen besteht darin, Widerstand gegen die Besatzung der palästinensischen Gebiete zu leisten oder schlicht für die Demokratie einzustehen.

Im Dezember 2015 wurde selbst Staatspräsident Reuven Rivlin zum Opfer einer solchen Hetzkampagne. Er hatte auf einer von der linken Tageszeitung Haaretz organisierten Konferenz in New York gesprochen, an der auch Mitglieder der NGO Breaking the Silence1 teilgenommen hatten. Dieser Organisation von ehemaligen israelischen Soldaten, die über ihren Dienst in den besetzten Gebieten berichten, wird vorgeworfen, dem Ansehen Israels und seiner Armee zu schaden. So habe sie der UN-Untersuchungskommission zum Gaza-Krieg 2014 Beweismaterial geliefert. Im Bericht dieser Kommis­sion ist die Rede von möglichen Kriegsverbrechen sowohl aufseiten der israelischen Armee als auch der bewaffneten paläs­ti­nen­si­schen Gruppen.2 Die israelische Regierung hatte sich strikt geweigert, mit dieser Kommission zusammenzuarbeiten.

Am 8. Februar stimmte das israelische Parlament in erster Lesung mit 50 zu 43 Stimmen (bei 120 Sitzen) für den Entwurf eines „Transparenz“-Gesetzes in Bezug auf NGOs. Die Vorlage hatte Justizministerin Ajalet Schaked von der Partei Jüdisches Heim eingebracht. Sie sieht vor, dass jede Organisation, die mehr als 50 Prozent ihrer finanziellen Unterstützung von ausländischen Regierungen (oder der EU) bezieht, die Identität ihrer Geldgeber offenlegen muss. Bei einem Verstoß gegen die Auflagen drohen Bußgelder in Höhe von bis zu 29 200 Schekel (etwa 6800 Euro).

Von dem Gesetz – das noch zwei weitere Lesungen passieren muss – wären vor allem linke NGOs und Menschenrechtsorganisationen betroffen, die von europäischen Regierungen oder der US-Administration unterstützt werden; nicht jedoch jene Organisa­tio­nen des rechten Spektrums, die für eine Ausweitung der Siedlungen eintreten und größtenteils von der Finanzierung privater Geldgeber im Ausland profitieren. Der Gesetzentwurf, der von der EU und den USA kritisiert wurde, spiegelt das Misstrauen gegenüber einem Teil der israelischen Zivilgesellschaft. Aber vor allem ist er symptomatisch für das politische Projekt von Premierminister Benjamin Netanjahu.

Die Hetzereien verschiedener rechter und rechtsextremer Bewegungen gegen linke NGOs und Menschenrechtsorganisationen, die teilweise sogar von Mitgliedern der Regierung unterstützt werden, haben massiv zugenommen. Die aktivste dieser Bewegungen ist die studentische Organisation „Im Tirtzu“. Übersetzt bedeutet der Name in etwa „Wenn ihr es wollt“, eine Referenz an den bekannten Satz von Theodor Herzl.3

Die Organisation wurde 2006 gegründet – nach einem Treffen zwischen Ronen Shoval, der ihr bis 2013 vorstand, und Moti Karpel, einem der Führer der Siedlerbewegung und Autor des Buchs „Revolution durch Glauben“. In dieser 2003 veröffentlichten Schrift propagiert Karpel den Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels und Israels Souveränität über das gesamte „Heilige Land“ (siehe Artikel auf Seite 19),das den Palästinenser nur noch den Status eines „Ger Toshav“ zubilligt: eines „fremden Bewohners“ ohne politische Rechte.

In der Selbstdarstellung auf der Im-Tirtzu-Webseite schreibt sich die Organisation die Aufgabe zu, „die zionistische Ideologie und ihr Denken zu erneuern und die Verleumdungskampagnen gegen den israelischen Staat zu bekämpfen, indem man Antworten auf die Phänomene des Post- und des Antizionismus findet“.3 Weil manche die Organisation als „faschistisch“ bezeichnet haben, hat Im Tirtzu wegen Rufschädigung prozessiert, bislang allerdings erfolglos.4

Mit Hilfe von Abgeordneten aus dem rechten Lager hat sich Im ­Tirztu allerdings in einigen Fällen durchge­setzt, insbesondere gegen Breaking the Silence. Nachdem sie die Gruppe – fälschlicherweise – beschuldigt hatte, die internationale BDS-Kampagne (Boycott, Divestment and Sanctions)5 zu unterstützen, wurde deren Mitgliedern der Zutritt zu Schulen und Militärkasernen untersagt.

Gestärkt durch diesen Erfolg ging Im Tirtzu in die Offensive. Mit Hilfe eines engen Beraters des Bildungsministers namens Moshe Klughaft und des Parteivorsitzenden von Jüdisches Heim, Naftali Bennett, produzierte die Organisation ein Propagandavideo.6 Darin tritt ein Mann auf, der mit einem Messer vor der Kamera herumfuchtelt; dazu aus dem Off der folgende Kommentar:

„Bevor dieser Terrorist Sie ersticht, weiß er, dass Jischai Menuhin vom Komitee gegen Folter – ein Maulwurf im Dienste der Niederlande – ihn vor dem Schin Bet beschützen wird. Der Terrorist weiß auch, dass Avner Gvaryahu von Breaking the Silence – ein deutscher Maulwurf – den Soldaten, der das Attentat zu verhindern versucht, als ‚Kriegsverbrecher‘ bezeichnen wird. Der Terrorist weiß auch, dass Sigi Ben-Ari vom Zentrum für die Rechte des Individuums – ein Maulwurf der norwegischen Regierung – ihn vor Gericht verteidigen wird. Bevor der Terrorist Sie ersticht, weiß er, dass Hagai El-Ad von B’Tselem – ein Maulwurf der Europäischen Union – Israel beschuldigen wird, Kriegsverbrechen zu verüben. Jischai, Avner, Sigi und Elad sind Israelis. Sie leben unter uns. Und sie sind Spitzel. Während wir den Terrorismus bekämpfen, bekämpfen sie uns.“

Zu den Förderern der Organisation gehört eine Reihe angesehener Persönlichkeiten, wie etwa der Mathematiker Robert Aumann, der 2005 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, oder der Franzose Georges-Elia Sarfati, Professor an der Pariser Sorbonne. Auch die Anwältin Daphne Netanjahu, Schwägerin des israelischen Premierministers, gehört zu den Im-Tirtzu-Unterstützern.

Durch solchen Zuspruch gestärkt, ging die Organisation Ende Januar einen Schritt weiter und attackierte einige der bekanntesten Schauspielerinnen und Autoren. Als „Maulwürfe“ verunglimpft wurden jetzt auch die Schriftsteller Amos Oz („Judas“,  2015), Abraham B. Jehoschua („Spanische Barmherzigkeit“, 2013) und David Grossmann („Kommt ein Pferd in die Bar“, 2016).

Während die Regierung und die israelische Rechte diese Verleumdungskampagnen bislang nicht kommentiert hatten, äußerten sich nach diesem erneuten Vorstoß zum ersten Mal kritische Stimmen: „Auf diese Weise angebliche Verräter zu brandmarken, ist eine alte faschistische Taktik; ebenso hässlich wie gefährlich“, warnte Benny Begin, Sohn von Menachem Begin und langjähriges Mitglied in der Netanjahu-Partei Likud.

Selbst Naftali Bennett verurteilte die Im-Tirtzu-Aktion als „unangenehm und unnötig“. Indessen erklärte Regierungschef Netanjahu : „Ich sträube mich, das Wort ‚Verräter‘ zu gebrauchen, um diejenigen zu beschreiben, mit denen ich mich nicht verstehe. Wir sind eine Demokratie, und es gibt eine Vielzahl von Meinungen.“ Gleichzeitig verurteilte er Breaking the Silence als eine Organisation, „die Israels Namen vor aller Welt beschmutzt“.7

Auch Miri Regev, Ministerin für Kultur und Sport, meldete sich zu Wort: Zwar habe die Öffentlichkeit ein Recht darauf, informiert zu werden. Jedoch müsse man Kommentare vermeiden, „die zu Gewalt anstiften könnten“. Allerdings nimmt die umtriebige Likud-Ministerin selbst linke Künstler aufs Korn, wie ihr Ende Januar vorgestellter Gesetzentwurf über „kulturelle Lo­ya­li­tät“ zeigt. Darin sieht Regev ein Subventionsverbot für Künstler vor, die Symbole des Staats in Verruf bringen, Terrorismus unterstützen oder die Identität Israels als jüdischer und demokratischer Staat öffentlich infrage stellen.8

Viele Vorschriften aus Regevs Entwurf sind bereits Bestandteil des sogenannten Nakba-Gesetzes von 2011, die es dem Finanzministerium erlaubt, Hilfen für Kulturorganisationen zu streichen, wenn diese „gegen die Prinzi­pien des Staats“ handeln. Dazu gehört auch das Gedenken an die „Nakba“ (Arabisch: Katastrophe), wie die Palästinenser ihre massenhafte Vertreibung nach der Staatsgründung Israels 1948 nennen. Regevs neuer Gesetzentwurf sieht nunmehr vor, die Entscheidungsgewalt über die Streichung von Mitteln auf das Kulturministerium zu übertragen und die Strafen massiv zu erhöhen.

Bereits Anfang Juni 2015 drohte die Ministerin, staatliche Zuwendungen für das Elmina-Theater in Jaffa zu stoppen, nachdem dessen Leiter sich geweigert hatte, in einer israelischen Siedlung im Jordantal aufzutreten. Laut einer Umfrage des Israel Democracy Institute vom Juni 2015 unterstützen 59 Prozent der jüdischen Israelis Regevs harte Linie.9 Die israelischen Menschenrechtsorganisationen sind nicht besonders populär: Im Oktober 2013 waren 52 Prozent der Befragten der Meinung, dass sie dem Staat Schaden zufügen.

Die „Messer-Intifada“, die Welle pa­läs­ti­nen­si­scher Attacken auf israelische Zivilisten und Mitglieder des Sicherheitsapparats, trägt zur Verhärtung der Fronten bei. In ihrem Bericht über Rassismus und Hetze im Internet vom Dezember 2015 zählte die Berl-Katznelson-Stiftung pro Monat durchschnittlich 500 000 hetzerische oder rassistische Onlinekommentare.10

Der Journalist Nahum Barnea vergleicht die Situation im heutigen Israel mit der Zwischenkriegszeit in Deutschland (1918 bis 1933): „Es erinnert an die Weimarer Republik. Es ist das gleiche Krebsgeschwür. Israel ist nicht die Weimarer Republik, aber was im Moment passiert, erinnert in vielerlei Hinsicht an das, was dort geschah.“ Das angenehme Leben, das die Israelis – im Vergleich zu den Nachbarländern – genießen können, mache sie blind.

Aber für Barnea hat die Situation auch etwas Gutes: „Vielleicht wird diese Welle von Hasspropaganda den Israelis klarmachen, wie rutschig der Abhang ist, auf dem sie sich befinden.“ Er schreibt über die Begegnung mit einem Schriftsteller, der auf einer der ‚Ver­räter‘-Listen steht. Der habe ihm gesagt: „Netanjahu steuert unser Flugzeug direkt in einen Berghang.“ Darauf habe er geantwortet: „Das ist eine schlechte Nachricht. Aber die gute ist, dass wir in der Business Class sitzen.“11

Netanjahu ist nach sieben Jahren an der Spitze der Regierung davon überzeugt, dass er das Land in die richtige Richtung führt. Unbeirrt hält er an seinem Rechtskurs fest, sowohl in der Wirtschafts- und Sozialpolitik als auch gegenüber den Palästinensern und seinen politischen Gegnern. Für ihn steht fest, dass die israelische Linke sich schon immer geirrt hat.

Schon 1995, kurz nach der Unterzeichnung der Oslo-Verträge, hat Netanjahu in einem Buch der ­israelischen Linken vorgehalten, sie neige dazu, „die Argumente der arabischen Propa­gan­da über die ‚unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volks‘ aufzusaugen“, damit begünstige sie „die Entstehung eines palästinensischen Staats an der Seite eines geschrumpften Israels“. Diese Neigung sei Ausdruck einer chronischen Krankheit, die das jüdische Volk seit Beginn des 20. Jahrhunderts befallen habe: der Krankheit des Marxismus, der die linken, linksextremen und kommunistischen jüdischen Bewegungen in Osteuropa durchdrungen habe.

Dies erklärt laut Netanjahu, dass „intelligente, moralische und kultivierte Personen behaupten, Israel müsse die ‚Gebiete‘ verlassen.“ Und das in einer Zeit, in der „wir das Anwachsen des Antisemitismus erleben, eine mächtige Welle des Hasses gegen Israel aufgrund eines sich verstärkenden Islamismus, während zugleich die Assimilierung der jüdischen Diaspora rasch voranschreitet.“ Doch all dies interessiere die linke politische Führung12 nicht sonderlich, behauptet Netanjahu. Die verfolge vielmehr weiter das Ziel, die Palästinenser von der angeblichen Last der israelischen Besatzung zu befreien, wodurch sie „das Herz der Heimat des jüdischen Volkes“ aufgebe.

Solche Einschätzungen des Regierungschefs belegen für den Journalisten Eldad Yaniv die „absolute Kohärenz zwischen seiner Ideologie und seinem politischen Handeln“. Netanjahu sei überzeugt, „dass die Machtübernahme durch eine linke Regierung und selbst durch andere Führer der Rechten eine Katastrophe für Israel wäre. Er sieht sich selbst als persönlichen Schutzpatron des Landes.“13

Kritische Künstler wurden auch schon früher gegängelt. So ließ Netanjahu im Juli 2011 in der Knesset über ein Gesetz gegen den Boykott der Siedlungen abstimmen. Die damalige Ini­tia­tive ging auf den Likud-Abgeordneten Zeev Elkin zurück und war eine Reaktion auf die Weigerung ­Dutzender Künstler, in Siedlungen aufzutreten. Der mit 47 zu 38 Stimmen angenommene Text erlaubte strafrechtliche Ermittlungen „gegen jede Person oder Institution, die sich weigert, mit einer Person oder Organisation aufgrund von deren Beziehung zum Staat Israel, seiner Institutionen oder den Regionen unter seiner Kontrolle, wirtschaftliche, soziale oder akademische Vereinbarung zu treffen“.

Linke NGOs, die damals gegen dieses Gesetz beim obersten Gerichtshof Klage erhoben, wurden abgewiesen. Die Richter strichen lediglich einen Artikel, der es den Gerichten ermöglicht hätte, unbegrenzte Strafen gegen jeden zu verhängen, der zum Boykott der Siedlungen aufruft.

Das damalige Urteil des obersten Gerichtshofs hat Talia Sasson überrascht. Die Juristin hat von 1979 bis 2004 im Büro des israelischen Generalstaatsanwalts gearbeitet. 2005 veröffentlichte sie ihre Untersuchungen über die korrupten Seilschaften im illegalen Siedlungsgeschäft (Sasson-Bericht); heute leitet sie den New Israel Fund, eine US-amerikanische Nonprofit-Organisation, die mehrere Dutzend israelische NGOs finanziell unterstützt.

„Es war mir peinlich, dass der oberste Gerichtshof dieses Gesetz gebilligt hat“, erzählt Sasson. „Man hätte zwischen einem Boykottverbot gegen den Staat Israel und einem Verbot des Boykotts der Siedlungen unterscheiden müssen. Zumal der oberste Gerichtshof mit seinen Urteilen faktisch festgelegt hat, dass das West­jor­dan­land nicht Teil des Staats Israel ist, der dort keine volle Souveränität besitzt.“

Wie entschlossen Benjamin Netanjahu sein Ziel verfolgt, zeigte sich zuletzt bei den Beratungen über das NGO-„Transparenz“-Gesetz. Der Regierungschef änderte nur ein winziges Detail: Er strich eine Vorschrift, nach der NGO-Mitglieder, die von ausländischen Regierungen finanziert werden, bei ihren Besuchen in der Knesset ein spezielles Abzeichen hätten tragen müssen.

Die Abgeordnete Tzipi Livni, die schon mehrere Ministerposten bekleidet hat und heute Vorsitzende der zentristischen Hatnua-Partei ist, erläutert die Funktion des umstrittenen Entwurfs: „Als ich Justizministerin war, hatte ich die Möglichkeit, bei solchen Gesetzentwürfen mein Veto einzulegen oder zumindest die meisten davon abzulehnen. Letztlich hängt jedoch alles vom Regierungschef ab, nicht vom Justizminister. Wenn der Premier seine Koalition zusammenhalten will, lässt er die extremistischen Elemente in seiner Regierung den Ton angeben, was heute leider der Fall ist.“

Livni ist, wie sie betont, gegen solche Gesetzesvorhaben. Ihre Partei versuche sich dagegenzustellen, doch als Oppositionspartei sei ihr Einfluss begrenzt. Für Sasson ist der Gesetzentwurf schlicht „eine Dummheit“. Die Strategie der Rechten sei heute nicht mehr darauf aus, eine Debatte mit der Linken zu führen, sondern nur noch, sie zum Schweigen zu bringen.

Ähnlich sieht es die Professorin Tamar Hermann vom Israel Democracy Institute. Für sie ist die Linke in Israel heute stark geschwächt: „In den 1990er Jahren konnte man noch von zwei Lagern sprechen, die sich gegenüberstanden. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Ich spreche nicht mehr von der ‚Linken‘, sondern von 20 Prozent der erwachsenen jüdischen Bevölkerung, die eine laizistisch-gebildete, urbane und universalistische Gruppe darstellen, die liberale Werte vertritt.“

Laut einer Studie sagten bereits 2009 bei einer Umfrage unter den jüdischen Israelis 51 Prozent aus, sie glaubten an die Ankunft des Messias. Darunter waren nicht nur Religiöse, sondern auch Traditionalisten und Säkulare. Nach derselben Umfrage glaubte eine noch größere Mehrheit von 67 Prozent an die Auserwähltheit des jüdischen Volks.14 Kein Wunder, dass der politische Anhang der Nationalreligiösen immer stärker angewachsen ist: Nach einer Umfrage von 2014 identifizierten sich 22 Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels mit deren Werten.15

Hatnua-Chefin Livni betrachtet die Entwicklung mit großer Sorge: „Die jüdische Öffentlichkeit hat den Eindruck, dass wir von Feinden umzingelt sind. Angesichts der Schwierigkeiten in unserer Umgebung entspricht das auch der Realität. Israel wird vom Terrorismus bedroht; der islamistische Extremismus wird stärker.“ Das führe bei einem Teil der israelischen Gesellschaft leider zu verstärkter Abkapselung. Diese Leute fürchten nach Livni eine Bedrohung nicht nur von außen, sondern auch von innen. Dabei unterstelle man ein Bündnis zwischen arabischen Is­rae­lis, linken Organisationen und ausländischen Regierungen. Auf diese Weise würden Teile der israelischen Gesellschaft „mit dem Feind identifiziert“.

Netanjahu arbeitet schon seit einiger Zeit auf ein Verfassungsgesetz hin, das den Status Israels als Staat des jüdischen Volks festschreibt und die Legislative darauf verpflichtet, sich an den Prinzipien des Judaismus zu orientieren. Das hieße, dass das politische System Israels offiziell weiterhin demokratisch wäre, aber kollektive Rechte nur den Juden als Staatsvolk zukämen. Für Muslime und Christen, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, würden nur die gesetzlich festgeschriebenen Individualrechte gelten.

Deshalb sieht Talia Sasson den größten Gegensatz innerhalb der is­rae­lischen Gesellschaft heute nicht mehr „zwischen ‚rechts und links‘, sondern zwischen Befürwortern und Gegnern der Demokratie“.

1 Über „Breaking the Silence“ (Schovrim Schtika) siehe Meron Rapoport, „Sprechen über die Besatzung. Israelische Soldaten berichten über ihre Einsätze in den Palästinensergebieten“, Le Monde diplomatique, September 2011.

2 www.ohchr.org/results.aspx?k=Gaza 2014.

3 „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“ Der Satz stammt aus dem 1902 veröffentlichten Roman „Altneuland“, in dem Herzl sein idealistisches Bild eines zukünftigen Judenstaats entwarf.

4 Siehe en.imti.org.il; und Ronen Shoval, „Herzl’s Vision 2.0. Im Tirtzu-A manifesto for renewed sionism“, 2013: imti.org.il.

5 Siehe Julien Salingue, „Auf der schwarzen Liste. Israel kann die Boykott- und Sanktionskampagne nicht mehr ignorieren“, Le Monde diplomatique, Juni 2014.

6 „The Foreign Agents – Revealed!“, Youtube.com, 15. Dezember 2015. Siehe auch Chemi Shalev, „Im Tirtzu and the proto-fascist plot to destroy Israeli democracy“, Haaretz, Tel Aviv, 16. Dezember 2015.

7 Jonathan Lis, „Netanyahu condemns ads attacking left-wing artists: my political opponents are not ‚traitors‘“, Haaretz, 28. Januar 2016.

8 „Regev presents ‚cultural loyalty‘ bill to MKs“, Ynetnews.com, 27. Januar 2016.

9 „Peace Index-June 2015. Prof. Ephraim Yaar and Prof. Tamar Hermann“: www.idi.org.il.

10 hasata.berl.co.il (auf Hebräisch).

11 Siehe Wochenbeilage der Jediot Aharonot, Tel Aviv, 29. Januar 2016.

12 Benjamin Netanjahu, „Fighting Terrorism: How Democracies Can Defeat Domestic and International Terrorism“, New York (Farrar, Straus and Giroux) 1995.

12 Anfang der 1990er Jahre regierte die Awoda-Partei unter Ministerpräsident Jitzhak Rabin, der 1995 auf einer Friedenskundgebung von einem Rechtsextremisten ermordet wurde.

13 Soweit nicht anders vermerkt, stammen das Zitat von Yaniv und auch die folgenden Äußerungen von Sasson, Livni und Hermann aus Interviews.

14 „A portrait of Israeli Jews. Beliefs, observance, and values of Israeli Jews, 2009“, AVI CHAI Isreal Foundation, Jerusalem 2012: en.idi.org.il.

15 Yair Ettinger, „Study: 22 percent of Isreali Jews identify with religios Zionist camp“, Haaretz, 27. Dezember 2014.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Charles Enderlin ist Journalist und Autor von „Au nom du temple. Israël et l’irrésistible ascension du messianisme juif (1967–2013)“, Paris (Seuil) 2013.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2016, von Charles Enderlin