14.01.2011

Kaimane in Delaware

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Kaimane in Delaware

von Jan Fichtner

Dass der Ort nach extrem gefährlichen Kreaturen benannt ist, merkt man bei einem Spaziergang durch George Town kaum. Die geschäftigen Straßen sind von Palmen gesäumt, entspannte Touristen schlendern am örtlichen Hard Rock Café vorbei, ganzjährig herrschen angenehme Temperaturen, im Durchschnitt 25 Grad.

George Town liegt in der Karibik und ist die Hauptstadt der Kaiman-Inseln. Den Namen der Inselgruppe assoziiert heute kaum jemand mit den bissigen Echsen, nach denen sie der englische Freibeuter Francis Drake 1586 benannt haben soll. Die meisten Leute denken eher an Steuerschlupflöcher und hier ansässige Hedgefonds. Für die hat Franz Müntefering vor einigen Jahren die umstrittene Bezeichnung Heuschrecken geprägt, um ihre maßlose Gefräßigkeit zu geißeln. Mindestens 4 000 dieser zumeist hoch spekulativen Finanzinvestoren haben ihren juristischen Sitz auf der Inselgruppe, die nur 50 000 Einwohner hat. Damit sind auf den Caymans etwa 40 Prozent aller Hedgefonds zu Hause – mehr als irgendwo sonst auf der Welt.

Der südlich von Kuba gelegene Archipel wird aber auch als Offshore-Finanzzentrum mit laxer Regulierung geschätzt. Davon zeugen die über 85 000 ausländischen (Briefkasten-)Firmen. Allein im vierstöckigen Ugland House, das mit seinem türkisen Dach und den roten Balkonen eher an ein Hotel als einen Firmensitz erinnert, sind fast 19 000 Unternehmen gemeldet. Barack Obama konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen, dass dies „entweder das größte Gebäude der Welt oder der weltweit größte Steuerbetrug“ ist. Wobei der US-Präsident geflissentlich übersieht, dass keine hundert Meilen von seinem Weißen Haus entfernt ein ähnliches Phänomen existiert.

Wilmington ist mit 73 000 Einwohnern die größte Stadt des Ostküsten-Bundesstaats Delaware, der flächenmäßig nur doppelt so groß wie das Saarland ist. Auf den ersten Blick hat das biedere Städtchen nichts mit der karibischen Heuschrecken-Kolonie zu tun. Doch der Staat Delaware hat sein Rechtssystem stark auf die Interessen der Finanzwirtschaft zugeschnitten, und das schon seit dem späten 19. Jahrhundert. „Die dortigen äußerst großzügigen Aufsichtsregeln machen den Bundesstaat faktisch zu einer Offshore-Region“, sagt Jörg Huffschmid.1 Unternehmen werden geradezu magisch von diesem schmalen Küstenstreifen angezogen. Auf jeden der knapp 900 000 Einwohner von Delaware kommt etwa eine registrierte Firma, die in der Regel nur aus einem Briefkasten und einer Faxnummer besteht. In Wilmington sind allein unter der Adresse 1209 Orange Street, einem unscheinbaren Flachbau in einer ruhigen Nebenstraße, um die 200 000 Unternehmen registriert – zehnmal mehr als im Ugland House von George Town, das 2 300 Kilometer weiter südlich liegt. Über den „Steuerbetrug“ von der Orange Street hat Präsident Obama bislang noch kein Wort verloren. Und erst recht nicht sein Vizepräsident Joseph Biden, der von 1973 bis 2009 Senator von Delaware war.

Rund 27 Prozent aller Hedgefonds dieser Welt sind juristisch in Delaware angesiedelt. Damit liegt der US-Bundesstaat auf Platz zwei der Heuschrecken-Liga, noch vor den British Virgin Islands und Bermuda, wo 7 respektive 5 Prozent aller Hedgefonds registriert sind. Bei diesen beiden Gebieten handelt es sich – wie bei den Kaiman-Inseln – um sogenannte British Overseas Territories. Alle drei haben also ein eigenes Rechsitzentssystem und genießen eine weitgehende innenpolitische Autonomie, unter anderem bei der Steuergesetzgebung. In letzter Instanz unterstehen sie aber dem britischen Staatsoberhaupt, der Queen. Insgesamt haben damit fast 80 Prozent aller Hedgefonds ihr rechtliches Domizil in Gebieten, die der Souveränität Großbritanniens oder der USA unterliegen.

Als der wichtigste Standortvorteil der vier genannten Gebiete gilt das außerordentliche Maß an Geheimhaltung und Intransparenz, das die örtlichen Behörden gewähren. Damit werden sie gerade für Hedgefonds attraktiv, bei denen geringe Transparenz zum Kern des Geschäftsmodells gehört. Die Organisation Tax Justice Network hat erstmals im Jahr 2009 den sogenannten Financial Secrecy Index (FSI) für sechzig Gebiete und Territorien berechnet. Dieser Index kombiniert das Maß an Intransparenz mit dem relativen Anteil der Gebiete am globalen Handel mit Finanzdienstleistungen. Der FSI macht also zum ersten Mal die wirklich relevanten schwarzen Schafe des internationalen Finanzsystems erkennbar. Das Ergebnis: Nach dem Kriterium, welche Gebietskörperschaft am meisten Intransparenz ermöglicht, liegt Delaware weltweit einsam an der Spitze. Die notorischen Kaiman-Inseln landen bei diesem Index auf dem vierten Platz, hinter Luxemburg und der Schweiz.

Auf Platz fünf dieser wenig ehrenhaften Intransparenztabelle liegt die altehrwürdige City of London. Der historische Kern der britischen Hauptstadt, der kurioserweise eine eigene juristische Gebietskörperschaft darstellt, genießt seit Jahrhunderten eine hohe Autonomie und hat sogar eine separate Polizeibehörde. Die Gremien der City of London Corporation werden mehrheitlich von Abgesandten der dort ansässigen Firmen gewählt, die wenigen verbliebenen Einwohner stehen mit ihrem geringen Stimmenanteil auf verlorenem Posten. Oberstes Ziel dieses eigenartigen politischen Gebildes ist die Förderung des Finanzsektors in der City. Das wird auch freimütig eingestanden, zum Beispiel wenn die City of London Corporation jegliche Auskunft an ausländische Behörden ablehnt. Die frühere Ermittlungsrichterin und jetzige Abgeordnete des EU-Parlaments, Eva Joly, hat die City of London deshalb als „Staat im Staate“ bezeichnet, „der noch nie auch nur den geringsten verwendbaren Beweis an einen ausländischen Richter übermittelt hat“.2

Heuschrecken und andere Monster

Die City of London liegt im Wettbewerb um den Titel des weltgrößten Finanzzentrums Kopf an Kopf mit der New Yorker Wall Street. Dahinter folgen mit deutlichem Abstand Finanzplätze wie Hongkong oder Tokio und noch weit dahinter Frankfurt. Diese Dominanz wird auch deutlich, wenn man sich anschaut wo, Hedgefonds-Manager arbeiten. Allein in der Region New York/Boston sind geschätzte 64 Prozent tätig, weitere 21 Prozent arbeiten in London. Insgesamt sind fast 90 Prozent aller weltweiten Hedgefonds-Manager in den USA und Großbritannien ansässig, zahlen also auch ihre Steuern in diesen beiden Staaten.

Dabei herrscht zwischen New York und London keineswegs eine erbitterte Konkurrenz. Fast alle bedeutenden Unternehmen des Finanzsektors haben Niederlassungen am Hudson und an der Themse. Der Begriff „Nylon“, in dem die Städtenamen New York und London zu einem Wort verschmelzen, steht für die außerordentlich enge und „reißfeste“ Beziehung der beiden einzigen globalen Finanzmetropolen. Kein Wunder, dass die unentbehrlichen Dienstleister für die Hedgefonds-Branche in „Nylon“ konzentriert sind. Zum Beispiel die „Prime Broker“, die Milliardenumsätze mit Hedgefonds machen, indem sie ihnen Kredite gewähren oder Wertpapiere leihen, die diese für ihre Leerverkäufe benötigen. Dieses äußerst lukrative Segment wird von den US-Großbanken Goldman Sachs, JP Morgan Chase und Morgan Stanley dominiert.

Zwar setzen längst nicht alle Hedgefonds auf extrem riskante Geschäfte, aber immer wieder waren „Heuschrecken“ in Finanzkrisen verwickelt oder machten mit waghalsigen Deals von sich reden. Mittels Kooperation können Hedgefonds enorme Summen bewegen und damit starke Verwerfungen an den Märkten auslösen. In der Branche spricht man in solchen Fällen von einem „Wolfsrudel“. Die folgenreichste „Rudelbildung“ fällt in das Jahr 1992, als der Quantum Funds von George Soros gemeinsam mit anderen Hedgefonds gegen das britische Pfund spekulierte. Die enormen Risiken wurden auch 1998 deutlich, als der Kollaps des riskanten Hedgefonds Long Term Capital Management (LTCM) das internationale Finanzsystem an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Zum ersten Mal war ein Hedgefonds „too big to fail“ – zu groß, um pleitezugehen. LTCM musste auf Initiative der US-Zentralbank gerettet werden.

2008 spekulierte der Hedgefonds Paulson & Co. erfolgreich auf den Zusammenbruch des US-amerikanischen Immobilienmarkts, was ihm innerhalb dieses Jahres über 500 Prozent Rendite einbrachte. Der Chef des Fonds, John Paulson, kam dank einer persönlichen Erfolgsbeteiligung auf ein Jahreseinkommen von 3,7 Milliarden US-Dollar. Pikanterweise hatte Paulson die Investment Bank Goldman Sachs bei der Bündelung von riskanten Immobilienkrediten zu scheinbar soliden Wertpapieren beraten. Anschließend wurden diese „toxischen“ Finanzprodukte dann an willfährige Opfer verkauft, zu denen auch deutsche Landesbanken gehörten, die am Ende auf Milliardenverlusten sitzen blieben.

Auch im Jahr 2010 gab es mehrfach Gerüchte, wonach Hedgefonds mit Hilfe von Credit Default Swaps (CDS) auf den Staatsbankrott Griechenlands gewettet haben, was die Risikoprämien griechischer Staatsanleihen dramatisch in die Höhe trieb. Griechenla für uns nd ließ daraufhin offenbar sogar seinen Geheimdienst EYP gegen große Hedgefonds ermitteln, um dem Verdacht auf einen „Angriff“ gegen das Land nachzugehen.3 Nachdem diese Gewinnmöglichkeit ausgereizt war, fand sich nach Berichten des Wall Street Journals im Februar ein großes „Wolfsrudel“ zusammen: Bei einem „Ideendinner“ in New York sprachen sich maßgebliche Hedgefonds-Manager ab, darauf zu setzen, dass der Euro fällt – was der dann auch bis Anfang Juni tat.

Diese Episoden machen deutlich, dass Hedgefonds mit ihrem erklärten Bestreben, kurzfristig einen maximalen Gewinn für ihre Investoren zu erzielen, bisweilen enorme Risiken erzeugen, die sogar Staaten an den Rand des Bankrotts bringen können. Exkanzler Helmut Schmidt spricht im Hinblick auf solche Praktiken von „Raubtierkapitalismus“ und forderte bereits 2007: „Beaufsichtigt die neuen Großspekulanten!“4 Exbundespräsident Horst Köhler, bis 2004 geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF), kennzeichnete die internationalen Finanzmärkte sogar als ein „Monster“, das in die Schranken gewiesen werden müsse.

Mitte 2010 operierte die Hedgefonds-Branche mit insgesamt etwa 1 700 Milliarden Dollar. Ein Großteil davon wird ihnen von Superreichen und institutionellen Anlegern aus den USA und Großbritannien anvertraut. Diese Summe liegt zwar immer noch deutlich unter dem Höchststand von über 2 000 Milliarden im Jahr 2007, doch der Rückschlag durch die globale Finanzkrise ist überwunden: Es geht wieder aufwärts mit der umstrittenen Branche. Während das Jahr 2008 mit einem Minus von 14 Prozent für die Finanzinvestoren noch das schlechteste seit Beginn der Datenerhebung 1990 war, so legten die Hedgefonds 2009 schon wieder um durchschnittlich 19 Prozent zu – das beste Ergebnis seit über zehn Jahren.

Dieses Auf und Ab zeigt, dass auch Hedgefonds sich nicht völlig von der allgemeinen Stimmung an den Finanzmärkten abkoppeln können. Dennoch haben sie es geschafft, in jedem einzelnen Jahr seit 2000 die „Performance“ der internationalen Aktienmärkte zu überbieten. Der Hedgefonds-Manager Richard Bookstaber analysiert in seinem Buch, dass es sich hier um ein Nullsummenspiel handelt: „Wenn die Hedgefonds erheblich größere Erträge herausziehen, bezahlt jemand anderes dafür mit vergleichsweise zu niedrigen Erträgen.“5 Die Verlierer können Millionen Deutsche mit ihren Kapitalmarkt-gestützten Riesterrenten sein, aber auch Investoren wie die Landesbanken, die sich von den Erfolgsbilanzen der privaten Großbanken zu riskanten Geschäften verleiten ließen, obwohl ihnen die einschlägige Expertise fehlte.

Die hohen Risiken und die extremen Kursausschläge, die auf die Operationen von Hedgefonds zurückgehen, können prinzipiell in allen Staaten mit offenen Finanzmärkten auftreten. Doch die enormen Gewinne und die damit fälligen Steuerzahlungen kommen zu weit überproportionalen Teilen den USA und Großbritannien zugute. Dieses maßgebliche Eigeninteresse der „Nylon“-Finanzplätze darf man bei den aktuellen Diskussionen über die „Regulierung“ der Aktivitäten von Heuschrecken, Wolfsrudeln, Kaimanen und anderen Finanz-„Monstern“ nicht aus den Augen verlieren. Kommt es zu keiner wirkungsvollen Regulierung, warnt der ehemalige Wall-Street-Insider Bookstaber, werden die quasi unkontrolliert und unbeschränkt agierenden Hedgefonds die konventionellen Investoren immer mehr verdrängen. Das würde die Volatilität an den internationalen Finanzmärkten weiter erhöhen und damit das systemische Risiko für eine Weltwirtschaft verschärfen, die mit den Folgen der globalen Finanzkrise noch längst nicht fertiggeworden ist.

Fußnoten: 1 Jörg Huffschmid, „Heuschrecken: Die neue Debatte über die Hedgefonds“, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, W&E Hintergrund, Mai 2007, www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org. 2 Nicholas Shaxson, „Poisoned Wells: The Dirty Politics of African Oil“, Basingstoke (Palgrave Macmillan) 2007. 3 Handelsblatt, „Hedge-Fonds greifen weitere Krisenländer an“, 22. Februar 2010. 4 Die Zeit, „Beaufsichtigt die neuen Großspekulanten!“, 1. Februar 2007. 5 Richard Bookstaber, „Teufelskreis der Finanzmärkte: Märkte, Hedgefonds und die Risiken von Finanzinnovationen“, Kulmbach (Börsenmedien) 2008.

Jan Fichtner lehrt im Fach Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und forscht über Hedgefonds. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 14.01.2011, von Jan Fichtner