07.05.2015

Brief aus Riga

zurück

Brief aus Riga

von Thomas Taterka

Audio: Artikel vorlesen lassen

Der alte Strom, die Düna, ist nicht wegzudenken aus den Geschicken unseres bescheidenen Landstrichs am südöstlichen Ufer der Ostsee, hoch oben, weit rechts auf der Karte Europas. Es ist der Strom, auf dem im Hochmittelalter Deutsche von der Ostsee her die baltischen Lande aufsegelten. Sie machten sie damit zur „ältesten deutschen Kolonie“, wie man ihnen sehr viel später nachrühmen sollte: Kaufleute mit ihren Waren, Kleriker mit ihren Wahrheiten, Kreuzfahrer mit ihren Waffen.

Zum „Schicksalsfluss des lettischen Volkes“ freilich, wie der Ehrenname der Düna lautet, wurde der Strom erst viel später. Dass er dazu wurde, hat weniger mit ihm selbst zu tun als mit dem lettischen Nationalmythos. Da dieser Mythos ein Kind des 19. Jahrhunderts ist, lässt sich seine Verfertigung gut beobachten. Im Jahr 1856 übertrug Juris Alunans, ein deutsch sozialisierter, aber nationallettisch gesinnter Student, Heines „Loreley“ ins Lettische. Seine wunderbar eingängige und sonst treue Übertragung ersetzt im Vers „Und ruhig zieht der Rhein“ den deutschen Strom durch die „Daugava“, wie die Düna auf Lettisch heißt.

Bis dahin war sie den Letten ein Fluss wie manch anderer gewesen. Nun setzte die Verschiebung vom Rhein zur Düna eine Mythomotorik in Gang, die aus dem deutschen Rhein unseligen Angedenkens eine bis heute sehr lebendig empfundene lettische Düna hervorgehen ließ. Sie wurde zu einem Kernstück der Nationalideologie eines Volkes, das in den von einer schmalen deutschen Oberschicht dominierten Ostseeprovinzen des russischen Zarenreichs über Jahrhunderte das leibeigene Landvolk und die städtischen Unterschichten gebildet hatte. Diese emanzipativ angetretene Ideologie nahm alles in Dienst, was als protonationale Ressource taugte, Geschichte und Folklore vor allem anderen. Als ihr Zentralsymbol installierte sie, nicht anders als sonst in Europa, auf den Spuren Herders und Jacob Grimms die als Integral des Nationalen verstandene Muttersprache.

Beides, Ideologie des Nationalen und Kult der Muttersprache, blieb folgenreich für das Selbstbild des Landes und seiner Bewohner, als das einstige Unterschichtsvolk zur Titularnation eines eigenständigen Staatswesens aufrückte, erst in den Jahren von 1918 bis 1940, dann erneut 1991, nach einem halben Jahrhundert unter sowjetischer und deutscher und wieder sowjetischer Herrschaft.

Am gravierendsten sind die Folgen jener ethnozentrischen Nationalideologie aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, die 1991 wiederbelebt wurde und, vielleicht aus Bequemlichkeit, die Staatsidee des 21. Jahrhunderts geblieben ist, für die etwa 40 Prozent der heute knapp zwei Millionen Bewohner des Landes, die sich beim besten Willen nicht für ethnische Letten halten können. Vor allem möchten sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht auf den öffentlichen Gebrauch ihrer Sprache verzichten, die in aller Regel das Russische ist.

Das 1992 erlassene, 1999 novellierte Sprachgesetz freilich will es anders. Es bestimmt das Lettische zur alleinigen Amtssprache. Daneben privilegiert es, als „autochthone Sprache“, das Livische, die finnougrische Reliktsprache eines winzigen, einst strandbewohnenden Völkchens. Die letzte Sprecherin, die dieses Idiom muttersprachlich beherrschte, verschied im Sommer 2013. Hingegen lebten 1992 in Lettland mehr als eine Million Menschen, die das Russische als ihre Muttersprache betrachteten. Das Sprachgesetz manifestiert offenbar eher eine symbolische Ordnung denn eine kommunikative.

2012 sprach sich in einem Referendum eine klare Mehrheit gegen das Russische als zweite Amtssprache aus. Ebenso deutlich war die Mehrheit, die zwei Jahre später im Parlament für eine erweiterte Präambel der Verfassung stimmte. Während die Verfassungsväter 1922 weise vom „Volk Lettlands“ – ohne ethnische Bestimmung – gesprochen hatten, wird nun seit 2014 der „lettischen Nation“ mit ihrer Sprache und Kultur im ersten Satz – und wie gepanzert durch eine Ewigkeitsklausel – Verfassungsrang zugesprochen. Damit erhebt ein Teil der Einwohnerschaft des Landes sich selbst zum Staatsziel. Was diese Selbstprivilegierung einer Gruppe für die andere Gruppe und für den Zusammenhalt aller bedeutet, kann man sich ausmalen.

Die Düna ist aber nicht nur der Schicksalsfluss des lettischen Volkes. Sie ist auch – und das vielleicht sogar mit mehr Recht – der Schicksalsfluss der Hauptstadt. Unsere gute Stadt Riga nämlich verdankt dem Strom ihre Gründung durch deutsche Kolonisten im Jahr 1201. Das liegt daran, dass die Düna so freundlich ist, den Ort mit der Ostsee zu verbinden. Damit macht sie ihn von einer Stadt am Strom, von denen es etliche gibt, zu einer veritablen Seestadt.

Außerdem teilt die Düna in ihrem Dahinziehen unsere Stadt in zwei durch zahlreiche Brücken verbundene und doch sehr ungleich gebliebene Hälften. Auf dem rechten, dem östlichen Ufer, liegt die altehrwürdige Hansestadt mit ihren Backsteinkirchen, Giebelhäusern und Gassen, das weitläufige Zentrum mit seinen prächtigen Jugendstilbauten an Boulevards und Parks sowie schließlich die einst vor allem von Juden, Russen und Altgläubigen bewohnte Moskauer Vorstadt. Hier war es, in einer bis heute nicht gut beleumdeten Gegend, dass die Deutschen, als sie auf ihrem Feldzug gegen Moskau im Sommer 1941 erneut ins Land kamen, ein Ghetto errichteten – um genau zu sein, zwei durch eine schmale Fahrbahn getrennte Ghettos, ein kleineres für die wenigen noch nicht erschlagenen Juden Lettlands und das größere für „Juden aus dem Reich“, aus Köln, Düsseldorf, Hannover oder Kassel und später auch aus Prag und Theresienstadt.

Kurz: Auf dem rechten, dem bis zum Überdruss von Geschichte getränkten Ufer findet sich das, was Historiker im Sinn haben werden, wenn sie an Riga denken. Von all diesem Treiben zeigt sich das geschichtsabgewandte linke Ufer der Düna, der Daugava oder Dwina, wie sie auf Russisch heißt, wenig beeindruckt.

An einem Tag im Jahr aber geht die Geschichte über den Strom. Dann belebt sich der Siegesboulevard, der von der Düna zum Siegespark führt, wo das Siegesdenkmal mit der Inschrift „1941–1945“ aufragt. Dieser eine Tag ist der 9. Mai. Wenn das Nachbarland Russland den Tag des Sieges begeht, mit großem Pomp wie weiland die Sowjetunion, die all die siegverkündenden Namen zurückgelassen hat, dann ist ein großer Teil der „Russen“, die in Riga die Hälfte der Bevölkerung bilden und mit Nils Usakovs den allzeit alerten Bürgermeister stellen, mit von der Partie.

An der Feier selbst hängt dabei wenig. Sie ist, mit wechselnden Akzenten, alle Jahre wieder ein Mittelding aus Kundgebung, Volksfest und Staatsfeiertag für all jene, die der Sowjetunion als ihrem wahren Vaterland nachtrauern und sich im EU- und Nato-Land Lettland, das 2014 den Euro eingeführt hat, als Fremdkörper fühlen, als Strandgut der Geschichte. Der 9. Mai ist ihr Tag. Es ist ein Tag des Rollentauschs, ein Tag, an dem man sich als Sieger der Geschichte fühlen und im Einklang mit ganz Europa die welthistorische Bedeutung der Sowjetunion feiern kann, die gern mit Russland in eins gesetzt wird, zumal mit Putins neu verändertem Russland.

Im Gegenzug sitzt die Titularnation an diesem Tag im eigenen Land wie im Exil. In ihrem Geschichtsbild bezeichnen 1941 und 1945 nicht Anfang und Ende eines „Großen Vaterländischen Krieges“, von einem Sieg ganz zu schweigen. Vielmehr stehen die beiden Jahreszahlen für die Ablösung eines namenlosen Unglücks durch ein anderes, für das Auf und Ab der Besatzungsherrschaft der 1940 miteinander verbündeten und 1941 ineinander verbissenen Terrorregime Hitlers und Stalins.

Die sowjetische Okkupation und Annexion mit dem Kältepol der Massendeportationen vom Juni 1941 (0,74 Prozent der Gesamtbevölkerung, darunter 1,9 Prozent der jüdischen Bevölkerung) und vom März 1949 (2,38 Prozent der Gesamtbevölkerung), an die ein verwitterter Viehwaggon vor einem stillen Vorstadtbahnhof kaum 500 Meter hinter dem Siegesdenkmal erinnert, haben sich dem kollektiven Gedächtnis der Letten tiefer eingebrannt als der Krieg.

Ein weiteres Trauma im Trauma ist es, dass 100 000 Letten auf deutscher Seite kämpften, als „Freiwillige“ in der Uniform der Waffen-SS, während um die 115 000 Letten die Uniform der Roten Armee trugen. Die allermeisten von ihnen zwängten sich widerwillig in den einen oder den anderen Rock und waren eher zufällig unter die eine oder die andere Fahne geraten.

Dies geht einem im Frühling des Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkriegs durch den Kopf, wenn man über die Düna schaut, aus dem Baltica-Lesesaal des Neubaus der Nationalbibliothek, der sich am Siegesboulevard grauglänzend über den Strom erhebt. Wenige Meter tiefer, in den unteren Geschossen der Bibliothek, und einen Kilometer vom Siegesdenkmal entfernt residiert in diesem Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft.

Unwillkürlich fragt man sich, wie die Vergangenheiten des Landes wohl in Zukunft zu Geschichte gemacht werden und mit welchen Folgen für seine Bewohner, für die einen und für die anderen und für alle miteinander. Und gern würde man wissen, welche Gestalt sie in dem monumentalen Schicksalsgarten annehmen werden, der in drei Jahren zum Jubiläum der Staatsgründung eingeweiht werden soll, eine Stunde dünaaufwärts auf einer Insel mitten im Strom.

Thomas Taterka lehrt deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Universität Lettlands in Riga. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.05.2015, von Thomas Taterka