14.03.2008

So verrückt wie wahr

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So verrückt wie wahr

Kalifornische Verhältnisse zwischen Hollywood und Golden Gate von Wendy Lesser

Seit es Kalifornien gibt, hat es immer schon zwei Kalifornien gegeben, die sich auf unterschiedliche Weisen voneinander abgrenzen lassen. Historisch stand am Anfang das Kalifornien der unberührten Wildnis, in dem weit verstreut ein paar Indianerstämme lebten. Zu dem „anderen“ Kalifornien wurde es, als das Land mit den europäischen Siedlern, die sich hier niederließen, geteilt werden musste.

Innerhalb dieser kolonisierten Region gab es wiederum ein zum spanischen Reich gehörendes Kalifornien – dessen letztes Überbleibsel die heute mexikanische Halbinsel Baja California ist – und ein englisch besiedeltes Kalifornien, das der berühmte Forscher und Entdecker Sir Francis Drake als einer der ersten Europäer betrat.

Mit dem 1849 einsetzenden Goldrausch entstand das raubeinige, überwiegend männliche Goldschürfer-Kalifornien, als dessen Gegenpol sich das „zivilisierte“ Kalifornien der neu entstehenden Städte herausbildete. Daraus hat sich ein weiteres, bis heute bestehendes Gegensatzpaar entwickelt: das küstenferne, ländliche Kalifornien und das städtische Kalifornien, das mitsamt seinen wuchernden Vorstädten die ganze Küstenregion dominiert.

Der wahrscheinlich dauerhafteste Gegensatz im Staat Kalifornien ist jedoch der zwischen dem Süden und dem Norden. Und der ist tatsächlich so grundlegend, dass in fast jedem Wahlkampf wieder darüber geredet wird, ob der Staat nicht auch offiziell in einen – republikanisch dominierten – Süden und einen – demokratisch dominierten – Norden geteilt werden sollte. Wobei beide politischen Lager behaupten: Wenn wir die andere Hälfte los wären, könnten wir jede Wahl gewinnen.

Es wäre zu einfach, diese Zweiteilung auf den Gegensatz konservativ versus liberal, Republikaner versus Demokraten, Arnold Schwarzenegger versus Jerry Brown zu reduzieren. Dabei vermag die Gegenüberstellung von „The Terminator“ und „Governor Moonbeam“ – der langjährige demokratische Gouverneur von Kalifornien Jerry Brown setzte sich für eine kalifornische Raumforschung und einen eigenen Nachrichtensatelliten ein – durchaus einiges zu erklären. Aber eben nicht alles. Denn trotz der Ansammlung rechter Wähler in Bezirken wie Orange County findet man auch in den städtischen Regionen des Südens größere Nester liberaler Wähler. Das gilt vor allem für Hollywood, wo sich viele engagierte Filmgrößen für die Demokraten starkmachen, oder für West-Hollywood mit seiner Schwulen-Community oder für Santa Monica, wo es viele Ökoaktivisten gibt. Umgekehrt leben auch in Nordkalifornien eine Menge republikanische Hinterwäldler und unpolitische libertäre Geister, die sich nur für ihr eigenes Wohlleben interessieren.

Die Grenze verläuft also nicht strikt entlang der politischen Linien und auch nicht eindeutig zwischen Arm und Reich: Sowohl in Beverly Hills im Süden wie im Silicon Valley im Norden leben extrem reiche Leute, und große Armenghettos gibt es in Los Angeles und San Diego genauso wie in Oakland und San Francisco. Auch die ethnische Zugehörigkeit ist kein entscheidender Faktor: Die größten Minderheiten sind im Norden wie im Süden die Hispanics und die Asian Americans, während die Afroamerikaner nur in Oakland (bei San Francisco) eine wichtige Rolle spielen. Was genau macht also den Unterschied zwischen Norden und Süden aus? Wenn es nicht so flippig-flockig kalifornisch klingen würde, könnte man versucht sein, von einem „Geisteszustand“ zu sprechen.

Spätestens hier muss ich darauf hinweisen, dass ich dies alles aus einer überwiegend nordkalifornischen Perspektive schreibe. Ich bin zwar in Los Angeles geboren, habe aber die prägenden Jahre meiner Kindheit in Palo Alto südlich von San Francisco und fast mein ganzes Erwachsenenleben in Berkeley verbracht. An Los Angeles bewundere ich immer noch einiges – seine Musterbeispiele gediegener, moderner Architektur, sein experimentierfreudiges Theater und seine aufregende Kunstszene – aber die Stadt selbst macht mich, wann immer ich dort bin, regelrecht krank.

Mein Mann und ich besuchten vor ein paar Jahren meine Schwester und deren Mann in Sherman Oaks, einer Wohnstadt am Ostrand des Großraums Los Angeles, des sogenannten Valley. Ich liebe meine Schwester, aber nach wenigen Tagen verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, mich nach Berkeley zurückzuflüchten. Während wir den schnurgeraden Highway 5 nach Norden in Richtung Heimat fuhren, spielten wir die berühmte Frage durch, ob wir für eine Million Dollar nach Los Angeles ziehen würden (damals war eine Million Dollar noch richtig viel Geld, heute wird man in Kalifornien kaum mehr ein Haus für weniger als eine Million finden). Meine Antwort lautete: „Ausgeschlossen. Ich würde ja für eine Million Dollar auch nicht ins Gefängnis gehen.“

Wer den Anblick von San Francisco gewöhnt ist, wird Los Angeles nur als eine bedrückende, heruntergekommene Stadtlandschaft wahrnehmen. Das betrifft natürlich nicht die architektonischen Meisterleistungen wie die großartige Disney Hall von Frank Gehry oder das schöne alte Bradford Building; gemeint ist vielmehr die endlose, sich Meile um Meile hinziehende Kette von öden Einkaufszentren, Fastfood-Tempeln und billigen Apartmenthäusern, die viel zu breite, grell beleuchtete Straßen säumen. Im Süden sehen die Neubauten allesamt schon nach sechs Monaten schäbig aus, was wohl mit dem gleißenden Licht und der Vorliebe für Pastellfarben zu tun hat, aber auch damit, dass den Gebäuden hier etwas Provisorisches anhaftet. Ist ja auch kein Wunder: Wo man für einen Film ganze Straßenzüge oder Wildweststädte aufbaut und innerhalb weniger Tage oder Wochen wieder einreißt, um für eine andere Straßenkulisse oder Wildweststadt Platz zu machen, da kann man kaum echte, auf Dauer gebaute Wohnviertel erwarten.

Natürlich sieht es auch um die San Francisco Bay jeden Tag ein bisschen mehr nach Los Angeles aus, wie die Einheimischen gern beklagen. Und den Embarcadero, die breite Straße, die vom Hafen die Bucht entlang führt, haben sie inzwischen auch schon zu einem von Palmen gesäumten Boulevard gemacht. Als vor Jahren an einer der großen Durchgangsstraßen über Nacht die ersten ausgewachsenen Palmen auftauchten, meinte ein Witzbold: „Es sieht ja ganz hübsch aus, aber es passt einfach nicht. Das ist so, als ob man eines Morgens aufwacht und sieht im Schlafzimmer auf einmal lauter Nachtklubtischchen stehen.“ Inzwischen haben wir Smog wie in L. A., zu viele Autos und chaotische Verkehrsverhältnisse wie in L. A. Vielleicht empfinden wir unseren Verkehr und unsere Staus als etwas angenehmer und nicht ganz so bedrückend, aber das rührt sicher nur von dem sentimentalen Lokalpatriotismus, der unser aller Blicke trübt.

Und dennoch: San Francisco ist nach wie vor ungleich schöner als Los Angeles, wenn man eine Stadt, in der Fußgänger nicht vorgesehen sind, überhaupt als solche bezeichnen will (statt von einem Ballungsraum oder einer Metropole zu sprechen). Man steige auf einen der vielen Hügel, auf denen San Francisco erbaut ist, und schaue über die steil abfallenden Straßen hinweg auf die gleißende Bucht, oder man fahre bei Sonnenuntergang über die Bay Bridge oder die Golden Gate Bridge auf das glitzernde Lichtermeer zu, oder man blicke von der Steilküste des Lincoln Park mit ihren gigantischen Fichten auf die Meerenge, die den Pazifik mit der San Francisco Bay und sämtlichen Binnengewässern Nordkaliforniens verbindet. Dann wird man die Überzeugung, dass es keinen schöneren Platz auf Erden gibt, nicht allzu vermessen finden.

Es ist ein merkwürdiges, aber psychologisch vielleicht verständliches Phänomen, dass San Francisco mit seiner traumhaften Urbanität eine so kraftvolle und faszinierend realistische Literatur hervorgebracht hat, während die endlosen, topfebenen Straßen von L. A. mit ihren trostlosen Flachbauten etliche Autoren angeregt haben, eine Literatur von überbordender und zuweilen allegorischer Fantasie zu produzieren. Ich denke dabei an Romane wie „McTeague“ von Frank Norris (1899; dt. „Gier nach Gold“), an Jack Londons „Martin Eden“ (1908) oder an John Steinbecks „East of Eden“ (1952; dt. „Jenseits von Eden“), die alle im San Francisco des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielen. Und eben an klassische Los-Angeles-Romane wie „The Day of the Locust“ (1933; dt. „Tag der Heuschrecke“) von Nathanael West und „The Loved One“ (1948; dt. „Tod in Hollywood“) von Evelyn Waugh.

Die beiden zuletzt genannten Romane haben einen überaus prägnanten Stil, zugleich aber so völlig überdrehte und traumhaft irreale Züge, als sei die Realität von Los Angeles – und ihrer Filmindustrie oder ihrer Friedhöfe – nur dadurch zu erfassen, dass man seine fünf Sinne vorübergehend ausschaltet. Die nordkalifornischen Romane dagegen halten sich eng an das Leben, vor allem an das der Armen, deren Existenz sie nachzuempfinden versuchen.

Der Protagonist von Norris’ Roman „Gier nach Gold“ ist ein ungebildeter, brutaler Zahnarzt, der in der Polk Street von San Francisco sein Gewerbe betreibt, für das er weder eine Ausbildung noch ein Examen hat, indem er seinen Patienten die faulen Zähne mit den bloßen Fingern herausreißt.

Der nachdenkliche Held von Jack Londons „Martin Eden“ ist ein der Arbeiterklasse entstammender Autodidakt aus Oakland, der anfangs zur See fährt, dann den bürgerlichen Werten von Bildung und Erziehung nachstrebt, schließlich ein erfolgreicher und damit auch gesellschaftsfähiger Schriftsteller wird und am Ende doch resigniert.

John Steinbecks Roman „Jenseits von Eden“ schließlich, dessen Handlung abwechselnd in San Francisco und dem südlich der Stadt gelegenen Salinas Valley spielt, enthält das vielleicht einzige nichtrassistische Porträt eines „Chinaman“, das es vor den Romanen der 1940 geborenen Maxine Hong Kingston in der US-Literatur gab: Steinbecks gewissermaßen stereotyper Chinamann Lee spricht mit Pidgin-Akzent, sobald er mit den Weißen etwas auszuhandeln hat, aber mit seinen Freunden redet er stets in lupenreinem Shakespeare-Englisch.1

Im Literaturkanon der USA sind die kalifornischen Autoren stets Außenseiter gewesen. Selbst die Schulkinder hier lasen – zumindest in meiner Jugend – viel eher Hawthorne, Melville und die anderen von D. H. Lawrence in seinen „Studies in Classic American Literature“ aufgeführten Klassiker. Ich habe sogar Zweifel, ob Gertrude Stein, die immerhin in Oakland aufgewachsen ist, jemals die realistischen Romane von Norris, London oder Steinbeck gelesen hat. Denn dann hätte sie in ihrem 1934 erschienenen Essay „What is English Literature?“ nicht so ohne weiteres behaupten können, die amerikanische Literatur sei stets allegorisch und transzendent, die englische dagegen an einem konkreten Ort verwurzelt.

Die Nord-Süd-Teilung zwischen Realismus und Fantasie findet sich sogar bei den berühmten Krimiautoren wieder. Im Süden haben sie zum Beispiel Raymond Chandler. Dieser vornehme Engländer, der zum hartgesottenen Storyteller wurde, hat in Romanen wie „The Big Sleep“ (1939) das L.-A.-Geheimnis stilistisch höchst elegant ins Übersinnliche gesteigert. Im Norden haben wir dagegen Dashiell Hammett, klassisch harter Trinker und KP-Mitglied, der San Francisco mit seinen Romanen „The Maltese Falcon“ (1929) und „The Thin Man“ ein großartiges Denkmal gesetzt hat. Beide Romane vermögen noch heute die Atmosphäre einer Stadt zu beschwören, die wir sonst nur in alten Fotos, Filmausschnitten und anderen zeitgenössischen Dokumenten wiederentdecken.

Zwischen Chandler und Hammett – wenn auch geografisch näher bei Los Angeles – steht Ross MacDonald. Er lebte in Santa Barbara, dem fiktiven Santa Teresa seiner Romane, deren Held Lew Archer als Privatdetektiv Verbrecher jagt. Für meinen Geschmack sind die Krimis von Ross MacDonald die besten Kalifornien-Bücher, die je geschrieben wurden. Romane wie „The Galton Case“ (1959) und „The Blue Hammer“ stürzen uns in eine Handlung, die völlig irre und zugleich glaubhaft ist, jedenfalls für kalifornische Verhältnisse.

Während die Literatur des Südens mehr als die des Nordens zum Fantastischen neigt, ist es bei den Filmen, die für die beiden Regionen stehen, ganz genau umgekehrt. Der beste Film, der je über Los Angeles gedreht wurde, ist wahrscheinlich Roman Polanskis „Chinatown“ (1974), in dem sich alles – ähnlich wie in Ross Macdonalds Krimis – um Freud’sche Tabus und betrügerische Geschäftstricks dreht. Auch wenn das noch nicht unbedingt mit Realismus gleichzusetzen ist – der Polanski-Thriller beruht jedenfalls auf Fakten, denn sein Plot dreht sich um Geschäfte mit Wasser, die in der Geschichte Kaliforniens genau so vorgekommen sind.

Der beste Film über San Francisco wiederum ist zweifellos Alfred Hitchocks „Vertigo“ (1958), der unter anderem der Entstehung von Illusionen und romantischen Gefühlen wie auch der Fabrikation von gefälschter Geschichte und falschen Erinnerungen nachspürt. In eindeutigeren Fantasy-Gefilden befinden wir uns mit Ridley Scotts inzwischen klassischem L.-A.-Science-Fiction-Streifen „Blade Runner“ (1982), der einen konkreten Prototyp der Metropole des 21. Jahrhunderts entwirft. Dagegen wirkt Philip Kaufmans glänzende Neufassung von „Invasion of the Body Snatchers“ (1978), obwohl in den Straßen von San Francisco gefilmt, zutiefst unheimlich und wie aus einer anderen Welt. Das rührt vielleicht daher, dass der Film für Los Angeles etwas sehr Wirkliches ist, während bei uns im Norden nur das geschriebene Wort eine derartige Autorität für sich beanspruchen kann.

Von Kalifornien wird immer wieder behauptet, dass seine Bewohner allesamt von woanders herkämen. Das stimmt natürlich nicht ganz. Viele Leute, mit denen ich täglich zu tun habe – von meinem Friseur über den Zahnarzt bis hin zu dem Typen, der meinen Computer in Ordnung bringt –, sind in Kalifornien geboren. Und viele, die nicht wie der unter der kalifornischen Sonne erblondete Surfbrett-Sonnyboy aussehen – etwa Mexikaner, Armenier, Juden, Japaner, Chinesen, Koreaner, Filipinos – stammen aus Familien, die seit mehreren Generationen hier ansässig sind. Andererseits ist von meinen Freunden und Bekannten an den hiesigen Universitäten nur ein Einziger in Kalifornien geboren. Für gewisse Bereiche dürfte es also zutreffen, dass hier mehr Zugewanderte leben als anderswo. Kalifornien war immer und ist in gewisser Weise bis heute eine Region, die Menschen anzieht, die hier ihr Glück machen wollen oder jedenfalls eine Existenzform suchen, die ihnen an an ihrem Heimatort verwehrt bliebe.

Diese Glücksucher haben die Vorstellung im Kopf, dass sie hier ein Leben ohne Grenzen und Einschränkungen führen können und die Freiheit haben, sich je nach Bedarf und Wunsch ein neues Ich zu kreieren. Ich weiß nicht, wieso gerade Kalifornien derartige Hoffnungen weckt, aber der gute alte Goldrausch wie auch die Filmindustrie dürften daran nicht ganz unschuldig sein. Und ebenso wenig die Fotografen Ansel Adams und Edward Weston mit ihren grandiosen und glorifizierenden Natur- und Landschaftsaufnahmen in Schwarz-Weiß. Doch sind das ohnehin alles nur leere Versprechungen.

Alteingesessene Kalifornier wissen natürlich, dass ihr Staat seine eigenen Grenzen und Einschränkungen besitzt, und zwar nicht nur in Gestalt der existenziellen Bedrohungen durch Erdbeben und Waldbrände. Die einengenden Konventionen, die hier herrschen, mögen für Außenstehende meist unsichtbar bleiben – und wirken womöglich gerade deshalb restriktiver als die klaren Regeln, die anderswo gelten.

Drei kalifornische Autoren haben das Wesen dieser Einschränkungen auf jeweils unterschiedliche, aber sehr überzeugende Weise beschrieben. Dorothy Baker begleitet in ihrem 1962 veröffentlichten Roman „Cassandra at the Wedding“2 eine Berkeley-Absolventin und deren Zwillingsschwester durch einen schicksalhaften Sommer, den sie fern der Küste auf dem Familienanwesen im ländlichen Osten Kaliforniens verbringen. Dieses atemberaubende Buch handelt vor allem von Eifersucht, Wahnsinn und Narzissmus, aber auch von den minutiösen Regeln im Alltag einer „guten“ kalifornischen Familie, die über mehrere Generationen Geld und Wohlstand angehäuft hat.

Dasselbe Bewusstsein untergründig wirksamer gesellschaftlicher Regeln findet man in Joan Didions jüngstem Buch über Kalifornien, das zugleich ihre eigene Familiengeschichte erzählt: „Where I Was From“ (2003). Erst bei diesem Buch ist mir aufgegangen, dass meine eigene Vorliebe für „antik“ aussehende Haushaltsgegenstände – wie die fleckigen Kochtöpfe von der Firma Revere – ihre Wurzeln in exakt demselben kalifornischen Snobismus hat, den Joan Didion in ihren Erinnerungen an Sacramento beschreibt. Offenbar haben wir beide schon als Kinder das Gefühl eingeimpft bekommen, dass alles, was neu ist, die geschmacklose Seite des kalifornischen way of life verkörpert und dass folglich alles Alte prinzipiell gut sein müsse.

So ähnlich ging es mir mit dem Roman „Holy Land. A Suburban Memoir“ von D. J. Waldie, eine einzigartige, erstaunlich nüchterne und poetisch herbe Schilderung des Lebens in einer kalifornischen Siedlung nach 1945. Obwohl Waldie in einem Siedlungshaus in Südkalifornien aufwuchs, während das Haus meiner Kindheit ein nordkalifornisches Eichler Home3 war – das vom Wohnniveau her etwas darüber lag – wurden mir die Parallelen beim Lesen schmerzhaft bewusst. Die Schönheit des Buchs rührt daher, dass es in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht vor allem von Beschränkungen handelt: von beschränktem Wohnraum in kleinen Häusern, von dem beschränkten Geld, das man mit Dienstleistungs- oder Fabrikjobs verdient, von den beschränkten Wörtern, die auf einer Seite Platz haben, oder von den beschränkten Gefühlen, die man für andere Familienmitglieder übrig hat. Hier wird auf geradezu klassische Weise die gängige Kalifornien-Illusion durchlöchert, zugleich aber auch ihre Anziehungskraft erklärt. Bei Waldie lernt man, was es wirklich heißt, in Kalifornien aufzuwachsen, ebenso wie auch bei Dorothy Baker und Joan Didion, und viel besser als bei Mike Davis, der mit seiner apokalyptischen Vision der kalifornischen Gesellschaft offenbar eine weltweite Anhängerschaft für sich einnehmen konnte.

Leute, die nach Kalifornien ziehen, lassen sich gern über die Oberflächlichkeit des Lebens aus. In seinem 1940 verfassten Essay „The Boys in the Back Room“ merkt der Literaturkritiker Edmund Wilson an: „Jeder aus dem Osten der USA angereiste Kalifornien-Besucher kennt den eigenartigen Zauber des Unwirklichen, der die menschliche Existenz an der Küste so hohl erscheinen lässt wie das Leben in einem Trollnest, wo alles, was unter die Erde gehört, auf einmal oben und im Freien stattfindet.“ Viele heutige Besucher empfinden das ähnlich, auch wenn sie sich bisweilen etwas freundlicher ausdrücken – „People are so nice!“ –, wobei sie freilich immer einen gewissen Mangel an Intelligenz oder geistigem Tiefgang unterstellen.

Aus meiner Sicht spricht einiges für diese Einschätzung. Mein heutiges Leben spielt sich zwischen New York und Berkeley ab, und immer wenn ich wieder in Manhattan bin, habe ich das anregende Gefühl, auf harte Kanten und starke Überzeugungen zu stoßen. In Kalifornien dagegen kommt es mir manchmal so vor, als müsste ich mich durch eine erstickende Atmosphäre wattierter, sanfter Unbestimmtheit durchkämpfen, was ebenso kräftezehrend wie aussichtslos ist. Die meisten Menschen in meiner Umgebung bekommen davon allerdings nichts mit. „Bist du aus New York?“, wurde ich zeit meines Lebens von anderen Kaliforniern gefragt. Erst heute beginne ich zu verstehen, warum sie das tun. Es liegt an dem scharfen, rauen Kern, den ich nun mal nicht verbergen will, an der in meinem Innern mahlenden Maschine, die mich von den einheimischen Hedonisten unterscheidet.

Und doch kann selbst ich der kalifornischen Oberflächlichkeit manchmal etwas abgewinnen. Sie macht die Menschen weniger ängstlich und alles in allem freundlicher zu Fremden: weniger bereit, andere zu betrügen oder um sich zu schlagen oder Dinge kaputt zu machen. Aus Kalifornien kommen zwar die ausgeflipptesten, nebulösesten, schwachsinnigsten politischen Bewegungen, aber auch einiges wirklich Gutes, wie etwa Mario Savio4 und das Engagement gegen die Umweltzerstörung. Vielleicht gibt es ja noch so etwas wie eine Hoffnung (jene unendliche Hoffnung, von der Kafka sprach) für diesen verrückten, liebenswerten, ärgerlich optimistischen und sich stets neu erfindenden Staat, den ich meine Heimat nenne.

Fußnoten: 1 Keiner dieser herausragenden Romane wird unterhalb der College-Stufe im Literaturunterricht behandelt. Diesen Werken begegnet man erst in Spezialkursen an der Universität, etwa wenn es um „Kalifornische Literatur des frühen 20. Jahrhunderts“ geht. 2 Es ist Dorothy Bakers einziger Roman, der heute noch greifbar ist, nachdem er erst vor kurzem wieder aufgelegt wurde. New York (NYRB Classics) 2004. 3 Benannt nach dem Architekten Joseph Eichler, der nach 1945 ein modernes und dennoch erschwingliches Einfamilienhaus entwarf, das zu einem Symbol des „amerikanischen Traums“ wurde und bis heute Architekten und Designer inspiriert. 4 Mario Savio (1942–1996) war ein prominenter Aktivist der US-Bürgerrechtsbewegung und Mitte der 1960er-Jahre Protagonist des Berkeley Free Speech Movement

Aus dem Amerikanischen von Niels Kadritzke Wendy Lesser ist Herausgeberin der Threepenny Review, Berkeley, Kalifornien. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 14.03.2008, von Wendy Lesser