14.03.2008

Kein Mathe, kein Wasser in Stoliponowo

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Kein Mathe, kein Wasser in Stoliponowo

Die bulgarischen Roma leben im Ghetto von Nikoleta Popkostadinowa

Im Roma-Ghetto von Sofia ist der Asphaltbelag auf den Straßen nur noch eine Erinnerung. Entlang der engen Straßen stehen elende Behausungen, zusammengeschustert aus Lehm und zufälligen Ziegelbrocken, dicht an dicht. In offenen Abwassergräben fließt eine zähe stinkende Pampe. Wer hier mit wem verwandt ist, kann man an den illegalen Stromleitungen ablesen, die sich von einer Hütte zur nächsten ziehen. Was man gemeinhin als „Infrastruktur“ bezeichnet, ist von dieser Siedlung so weit entfernt wie „Astrophysik“. Und „Stadtverwaltung“ ist ein Schimpfwort.

Was aussieht wie ein Slum irgendwo in der Dritten Welt, ist der Stadtteil Faculteta der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Ähnliche Stadtansichten finden sich an vielen Orten in Bulgarien wie auch im benachbarten Rumänien, das wie Bulgarien am 1. Januar 2007 der EU beigetreten ist. In beiden Ländern hat der jüngste Wirtschaftsboom die Nachfrage nach Arbeitskräften explodieren lassen und die Arbeitslosigkeit fast über Nacht beseitigt. Aber dieser Trend ist an den einheimischen Roma völlig vorbeigegangen. Wegen eines verbreiteten Rassismus, wegen Bildungsdefiziten und fehlenden Qualifikationen blieben sie von dem ökonomischen Aufschwung total ausgeschlossen.

Und nichts spricht dafür, dass sich das ändern könnte. Obwohl die meisten der 45 000 Bewohner von Faculteta arbeitslos sind, hat man in Bulgarien begonnen, zur Konsolidierung des Wirtschaftswachstums ausländische Arbeiter zu importieren.

Offiziell leben in Bulgarien 370 000 Roma. Einige Nichtregierungsorganisationen allerdings gehen von 800 000 aus, das wären 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. In den letzten fünfzehn Jahren sind viele Roma aus den verarmten ländlichen Gebieten in die Städte gezogen und haben sie sich in armen und überfüllten Vierteln niedergelassen, die so zu regelrechten Ghettos wurden. Heute leben mehr als die Hälfte der Roma in diesen mahali, wie sie auf Bulgarisch heißen. Und drei von vier Bewohnern, die hier geboren sind, werden ihre mahala nie verlassen.

Georgi Krastew leitet die Arbeitsgruppe für Integration der Roma im Ministerium für Arbeit und Soziales. Er leugnet keineswegs, dass es in Bulgarien eine tief greifende ökonomische Apartheid gibt. Denn obwohl die bulgarische Arbeitslosenquote auf 7 Prozent gesunken ist, liegt sie bei den Roma immer noch bei 90 Prozent. In Sofia sind die Roma mittlerweile fast die einzigen Arbeitslosen. 60 Prozent von ihnen haben keine Arbeit.

Keine der postkommunistischen Regierungen in Sofia hat je etwas unternommen, was die ökonomische Mobilität der Roma verbessert hätte. Alle waren zu sehr mit anderen Problemen der Transformationsperiode beschäftigt. Und keine hatte den Mumm, sich für die Rechte einer unbeliebten Minderheit einzusetzen.

In Bulgarien wie in anderen Beitrittsstaaten bedauern heute viele Leute, dass in der Vorlaufphase des EU-Beitritts in dieser Frage nicht mehr Druck auf die eigene Regierung gemacht wurde. Die Instanzen in Brüssel bestehen darauf, dass die Integration der Roma in Bulgarien und Rumänien – wie in der gesamten EU – eine vorrangige politische Aufgabe bleiben müsse. Aber die bewilligten Finanzmittel dürften kaum ausreichen, um die Hindernisse zu beseitigen, die nach wie vor die soziale Mobilität der Roma-Bevölkerung blockieren. Das hat sich auch bei den Roma-Gemeinden in anderen Balkanländern herumgesprochen, die auf einen baldigen EU-Beitritt hoffen.

Auf den Genozid folgte die Zwangsassimilation

Aber nicht nur in Bulgarien stecken die Politiker den Kopf in den Sand. Ähnliche Verhältnisse wie in Faculteta sind in ganz Mittel- und Südosteuropa anzutreffen. Das Problem wurzelt tief in der Vergangenheit, sagt Rumjan Setschkow, Historiker an der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften, der die Initiative „Aufbruch zu alternativen zivilgesellschaftlichen Initiativen“ leitet. Schon als die Roma im 15. Jahrhundert aus Indien einwanderten, sei die anfängliche Neugier der Europäer rasch in offene Feindseligkeit umgeschlagen.

Damals flüchteten sich viele Roma in die europäischen Territorien des Osmanischen Reichs, wo sie nicht unbedingt mit offenen Armen aufgenommen, aber auch nicht verfolgt und ausgerottet wurden. Während des Zweiten Weltkriegs wurde etwa eine halbe Million Roma von der deutschen Nazi-Besatzung und ihren lokalen Verbündeten in den neuen Nationalstaaten Zentral- und Osteuropas ermordet.

Nach 1945 waren die Überlebenden des Genozids der Zwangsassimilation durch die kommunistischen Regime unterworfen. In Bulgarien wurde die Sprache der Roma unterdrückt, ihre Musik durfte nicht mehr öffentlich gespielt werden. Vor allem aber wurde ihr nomadisches Lebens durch ein Gesetz beendet, dass seit 1957 alle Bürger verpflichtete, unter einer festen Adresse gemeldet zu sein. Noch schlimmer kam es in der Tschechoslowakei, wo Roma-Frauen zwangssterilisiert wurden, um das Wachstum der unerwünschten Bevölkerungsgruppe einzudämmen.

Als dann mit Beginn der 1990er-Jahre im ehemaligen Ostblock der politische und ökonomische Wandel einsetzte, wurden die Roma als eigenständige ethnische Minderheit anerkannt.

Doch diese positive Entwicklung fiel mit dem Kollaps vieler sozialer Institutionen zusammen, der die Roma als die ökonomisch verwundbarste Gruppe am härtesten traf. Dadurch hat sich die Kluft zwischen Minderheit und Mehrheitsgesellschaft noch weiter vertieft.

Mit dem EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien wurden die Roma zur größten ethnischen Minderheit innerhalb der Union. Doch 8 bis 10 Millionen Menschen verfügen nicht automatisch über die entsprechende Macht. In den neuen Mitgliedstaaten sind die Roma nach wie vor in dem alten Teufelskreis von Diskriminierung, Missachtung und Exklusion gefangen.

„Ich sage nicht, das alle Roma gefährlich sind, aber die meisten schon“, sagt Anton Iwanow, ein 22-jähriger Bulgare aus dem Sofioter Statteil Krasna Poljana, der an das Roma-Ghetto Faculteta grenzt. Im August 2007 wurden fünf Männer schwer verletzt, als sie von einer Gruppe Roma angegriffen wurden, in Revanche für den Überfall auf einen Jungen ihrer Sippe. Der Bezirk ist berüchtigt. Hier entladen sich häufig die Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen, die es offiziell gar nicht gibt. „Wir leben mit den Bulgaren von Krasna Poljana ganz normal zusammen“, meint Marko Popow, ein 17-jähriger Roma aus Faculteta. Aber dann macht er deutlich, was „normal“ bedeutet: Hass und Verachtung zwischen Roma und ethnischen Bulgaren, Brandstiftung und Schlägereien, fast jeden Tag.

Die Behörden leugnen, dass solche Vorfälle rassistisch motiviert sind. Die Zusammenstöße vom August 2007 etwa waren für sie eine ganz normale Schlägerei. Und als kurz darauf in einer Kleinstadt südlich von Sofia ein 17-jähriger Roma von einem ethnischen Bulgaren zu Tode geprügelt wurde, legte die Polizei den Vorfall als „Kampf zwischen jugendlichen Banden“ zu den Akten.

Dabei bilden Vorurteile von jungen Leuten wie Anton Iwanow den fruchtbaren Boden, auf dem rechtsradikale Elemente gedeihen. Iwanows großer Held ist Bojan Rasate, der Chef der Nationalistenpartei Bulgarische Nationale Union. Rasate kündigte an, eine „Nationalgarde“ zu gründen, um die bulgarische Bevölkerung „vor Belästigung durch Roma und bei Naturkatastrophen“ zu schützen. „Es ist höchste Zeit, dass jemand etwas gegen sie unternimmt“, meint Anton Iwanow und seine Augen funkeln begeistert. „Deshalb sind wir ja auch so dankbar, dass es Bojan Rasate gibt“.

Bevor Bulgaren und Rumänen in die EU aufgenommen wurden, hatte die Brüsseler Kommission sie aufgefordert – wie schon 2004 die ersten osteuropäischen Beitrittsstaaten –, den Rassismus in ihrem Land kompromisslos zu bekämpfen. Dazu gehört auch die „gerichtliche Untersuchung von Vorfällen in Roma-Siedlungen und Maßnahmen gegen die Misshandlung von Menschen“, erläutert Katharina von Schnurbein, Pressesprecherin von EU-Kommissar Wladimir Spidla, in dessen Aufgabenbereich „Soziale Angelegenheiten“ die Probleme der Roma fallen.

Doch mit dem EU-Beitritt hat sich kaum etwas geändert. Nach wie vor ist es politisch tabu, den Rassismus in diesen Ländern zu erwähnen. Und so bleiben die Maßnahmen, zu denen sich Bulgarien verpflichtet hat – zum Beispiel im Rahmen des „Jahrzehnts der Integration der Roma“ – auf dem Papier stehen.

Das spürt man auch beim Gang durch die Straßen von Stolipinowo. Das mit 35 000 Einwohnern zweitgrößte Roma-Ghetto Bulgariens liegt am Rand der Großstadt Plowdiw. An einem normalen Werktag herrscht hier um die Mittagszeit ein reges Treiben. Kinder spielen im Dreck, Männer eilen geschäftig von Gruppe zu Gruppe, zwischen den Wohnblöcken hängen Frauen ihre Wäsche auf. Doch Stolipinowo ist alles andere als eine Idylle. „Seit zehn Jahren sind wir hier, und es gibt immer noch kein fließendes Wasser“, klagt eine zarte Frau mit blauen Augen und hochgesteckten Haaren. „Letzten Sommer hatten meine drei Kinder alle Hepatitis. Läuse haben sie auch, ich kann ihnen nicht die Haare waschen. Manche Leute halten mir vor, dass ich sie nicht zur Schule schicke. Aber in diesem Zustand? So lasse ich sie nicht gehen.“

Ähnliche Zustände herrschen in Marchewo. Das Dörfchen in den Rhodopen, im Süden Bulgariens, existiert erst, seit sich hier in den 1960er-Jahren – in Befolgung des Dekrets von 1957 – eine Sippe von Korbmachern niederließ. Doch wegen der sanitären Verhältnisse ist die Siedlung seit langem ein Herd von Epidemien.

„Man hätte nur eine 500 Meter lange Leitung legen müssen, um die mahala an das Wassernetz der Stadt Garmen anzuschließen“, erklärt Kalina Bosewa, Vorsitzende der Interethnischen Initiative für Menschenrechte in Bulgarien. „Dafür war eigentlich die Stadtverwaltung zuständig, aber der Anschluss wurde erst vor kurzem gelegt, nachdem eine NGO die Sache in die Hand genommen hat.“ Die städtischen Bebauungspläne haben die von Roma bewohnten Gebiete üblicherweise als Industriegebiete ausgewiesen, damit die Behörden nicht für die nötige Infrastruktur sorgen mussten.

Von den vielen Fehlern und Versäumnissen, die man der bulgarischen Regierung vorhalten muss, hatte keiner so katastrophale Folgen wie die absolut verfehlte Schulbildung. Die faktische Apartheidpolitik in diesem Bereich hat Generationen von Roma der Möglichkeiten zur beruflichen Qualifikation und damit ihrer Chancen auf dem Arbeitsmarkt beraubt.

In der kommunistischen Ära gab es für Roma-Kinder nur Schulen in ihren eigenen Vierteln. Diese Ausbildung reichte lediglich für unqualifizierte Arbeiten, Fächer wie Mathematik und Geschichte wurden einfach weggelassen. Noch heute gehen 70 Prozent der Roma-Kinder auf solche de facto segregierten Schulen. Für Krasimir Kunew, den Vorsitzenden des bulgarischen Helsinki Komitees, erklärt dies, warum die Roma in der Transformationsperiode am stärksten vom ökonomischen Verfall und der hohen Arbeitslosigkeit betroffen wurden.

Obwohl der Staat in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre das Ausmaß des Problems endlich erkannte, hat er nicht viel mehr getan, als Sozialhilfe zu zahlen. „Das hat überhaupt nichts gebracht“, resümiert der Historiker Setschkow, „es war nur der bequemste Weg. Aber ohne Qualifikation blieben die Menschen marginalisiert.“ Zudem empfanden viele „normale“ Bulgaren die finanziellen Zuwendungen an die Roma als unfair, was die sozialen Spannungen weiter anheizte. Das Problem hat sich seitdem noch verschärft und eine Kultur der Abhängigkeit entstehen lassen. „Das ist heute wirklich zum nationalen Problem geworden“, meint Setschkow: „Mittlerweile ist eine ganze Generation herangewachsen, die noch nie erlebt hat, dass ihre Eltern morgens aufstehen und zur Arbeit gehen.“

Nach der Statistik des Arbeitsministeriums für 2006 bezogen 58 Prozent aller Roma-Haushalte die eine oder andere Form von Sozialhilfe. Das soll sich jetzt ändern: Seit dem 1. Januar 2008 ist der Zeitraum für den Bezug staatlicher Unterstützung auf 18 Monate begrenzt. Die neue Regelung soll den Missbrauch einschränken, aber sie wird ein Fehlschlag sein, wenn man nicht zugleich etwas gegen die schlechte Ausbildung und damit gegen die Arbeitslosigkeit unternimmt.

Rosa Zewanowa sitzt am Rinnstein vor ihrem Haus in Stolipinowo. Während sie sich ein paar Krümel Tabak zu einer Zigarette rollt, erzählt die 54-jährige Frau mit dem leuchtend pinkfarbenen Kopftuch, wie sie und ihre fünf Kinder von Sozialhilfe leben. Rosa hat keine Arbeit, ihr Mann sitzt im Gefängnis. Als sie hört, dass man ihr bald die staatliche Beihilfe streichen wird, kommt die Wut hoch: „Sind die verrückt? Sie wollen mich und meine Kinder ausrotten! Niemand wird eine 50-jährige Frau einstellen, die nur die Volksschule gemacht hat. Kapieren die das nicht?“

Nach der Volkszählung von 2001 ist jeder fünfte Roma über zwanzig Analphabet. Obwohl dieser Anteil noch weiter ansteigt, hat das Erziehungsministerium offenbar kein Konzept, wie man dem Problem beikommen soll. Vor gut fünf Jahren erließ die Regierung eine Verordnung, nach der die Schüler der ethnischen Minderheiten in das allgemeine Schulwesen integriert werden sollen. Aber sie hat es versäumt, die Stadt- und Gemeindeverwaltungen auf dieses Ziel zu verpflichten. Und die haben, so das Helsinki-Komitee in seinem Report von 2006, die staatlichen Vorgaben einfach missachtet.

Arbeitskräfte verzweifelt gesucht – aber keine Roma

Die Experten sind sich einig, dass die entscheidende Voraussetzung für bessere soziale und ökonomische Perspektiven der Roma das Ende der Massenarbeitslosigkeit ist. Paradoxerweise werden in Ländern wie Bulgarien ja verzweifelt Arbeitskräfte gesucht. Die Weltbank prophezeit dem Land sogar ein Nachlassen des Wirtschaftswachstums, wenn es den Mangel an ungelernten Arbeitern wie an Fachkräften nicht überwinden kann. Deshalb empfiehlt die Weltbank zwei Maßnahmen: erstens eine bessere Ausbildung und Nutzung der einheimischen Arbeitskräfte, „indem man das Bildungssystem reformiert und die innere Mobilität verbessert“; zweitens aber auch die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte.

Im zweiten Punkt ist Jewgeni Iwanow vom bulgarischen Arbeitgeber- und Unternehmerverband anderer Meinung. Er hält es für idiotisch, ausländische Arbeiter anzuheuern, während das eigene Arbeitskräftepotenzial ungenutzt bleibt: „Bulgarien verfügt über alle nötigen finanziellen und menschlichen Ressourcen, um die Roma in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren.“

Iwanow schätzt, dass das bulgarische Arbeitsministerium für ein Programm zur gezielten Förderung der Roma etwa 1 Milliarde Euro aus den Strukturfonds der EU bezieht. Und doch, meint er resigniert, „ weist nichts darauf hin, dass man das Thema im Ministerium wirklich anpackt. Die reden darüber nur im Futur.“

Wenn es nach Iwanow ginge, müssten die Unternehmer konkrete Maßnahmen unterstützen, die den Roma zu Jobs verhelfen: „Für uns als Arbeitgeber zählen nur die persönlichen Fähigkeiten, die ethnische Abstammung oder die Nationalität ist uns egal.“ Aber die Regierung hat bislang kein Rezept, das die Chancen der Roma verbessern würde. Auch die sogenannten Jobmärkte, die man in Bulgarien (nach rumänischem Vorbild) seit 2005 in Wohnzentren der Roma veranstaltet, waren noch kein nennenswerter Erfolg. Und mit den staatlich organisierten Ausbildungskursen, gibt Georgi Krastew vom Arbeitsministerium zu, hat man bislang nur 4 000 Roma erreicht.

Für Georgi Georgiew ist das alles nur Stückwerk. Der 46-jährige Roma hat vor zwei Jahren einen Jobmarkt besucht, der in der Schule von Stolipinowo stattfand. Damals fand er zusammen mit seinem zwanzig Jahre alten Sohn Ilja einen Job in Plowdiw. Auf einer Baustelle durften sie den Müll wegräumen. Als das Gebäude nach ein paar Monaten hochgezogen war, gingen beide in ihr Ghetto zurück. Heute sitzen sie wieder den ganzen Tag beim Kartenspiel.

Georgiew hat damals auf dem Jobmarkt nur wenig Leute aus seinem Viertel gesehen: „Fast niemand wusste Bescheid, wann und wo der Jobmarkt stattfindet. Und da sind dann auch hauptsächlich Leute vom Ministerium, Arbeitgeber und Journalisten aufgetaucht, jedenfalls mehr als die paar Roma.“

Auch der Druck aus Brüssel reichte nicht aus, um einen wirklichen Wandel herbeizuführen. Und seit Bulgarien und Rumänien in der Union sind, hat dieser Druck sogar nachgelassen. Auf dem Papier erfüllen beide Länder inzwischen die EU-Anforderungen in Sachen Menschenrechte, Beschäftigung, Ausbildung und Wohnverhältnisse. Kalina Bosewa von der Interethnischen Initiative für Menschenrechte befürchtet, dass der schleichende Fortschritt, die vor dem EU-Beitritt erzielt wurden, jetzt mangels äußeren Drucks auf die Regierung vollends erlahmt. Ihre und andere NGOs dringen darauf, dass die EU die Integration der Roma an die Spitze ihrer politischen Prioritätenliste rückt.

Die Europäische Kommission bestreitet, dass sie dieses Ziel nicht mehr mit demselben Nachdruck verfolgt. Katharina von Schnurbein verweist auf die Gelder, die in den EU-Strukturfonds für die Integration der Roma vorgemerkt sind und betont: „Die Kommission kooperiert mit Bulgarien und Rumänien sehr eng. Damit will sie gewährleisten, dass bei der Planung und Umsetzung der Programme die zentrale Forderung nach Integration der Roma berücksichtigt wird.“

Gruia Bumbu von der rumänischen Nationalen Behörde für Roma macht eine andere Rechnung auf. Die 240 Millionen Euro an EU-Geldern, die in den letzten zehn Jahren in die betreffenden Programme flossen, bedeuten für jeden Angehörigen des Volks der Roma etwa drei Euro pro Jahr. Im Vergleich damit hat die EU für jede Kuh pro Jahr Subventionen in Höhe von 32 bis 35 Euro ausgezahlt.

Nur Bildung kann den alten Teufelskreis durchbrechen

Angesichts dieser düsteren Bilanz fordern einige Experten ein neues Konzept für die Roma in Zentral- und Osteuropa. Am gegenwärtigen, auf staatliche Wohlfahrt konzentrierten Modell kritisieren sie nicht nur, dass es Menschenleben zerstört, sondern auch, dass es zu teuer ist. Der bulgarische Ökonom Latschesar Bogdanow hat zusammen mit Georgi Angelow vom Open Society Institute eine Studie mit dem Titel „Die Integration der Roma in Bulgarien“ verfasst. Darin heißt es, ein Konzept, das stärker auf aktive Beteiligung setzt und mit einem kurzfristigen Anstieg staatlicher Förderungsmittel verknüpft ist, würde mehr Roma für den Arbeitsmarkt mobilisieren. Und hätte zugleich den Effekt, dass der Staat seine Transferzahlungen binnen zehn Jahren wieder zurückfahren kann.

Nach Ansicht der Verfasser könnten die 500 Millionen Euro, die Bulgarien innerhalb der nächsten zehn Jahre für speziell auf die Roma zugeschnittene Programme ausgeben wird, einen Überschuss von 7,5 bis 15 Milliarden Euro produzieren, wenn man die Gelder intelligenter ausgeben würde, das heißt für den Erwerb von Qualifikationen.

Viele Unternehmer würden ein solches Projekt als lohnende Investition ansehen, meint Bogdanow: „Doch die Bulgaren und besonders die Regierungen sehen die Roma nicht als potenzielle Steuerzahler, und ebenso wenig begreifen sie, welchen Beitrag diese Bevölkerungsgruppe künftig zum Arbeitsmarkt und zum Bruttosozialprodukt leisten könnte.“

Zwar geben auch Vertreter der bulgarischen Regierung zu, dass die ökonomische Mobilisierung der Roma eigentlich der richtige Weg wäre, aber anschließend reichen sie die Verantwortung an andere weiter. Georgi Krastew zum Beispiel beeilt sich zu sagen, die ökonomische Integration der Minderheit sei nun mal nicht die Aufgabe der Zentralregierung: „Die Initiative sollte von den kommunalen Behörden ausgehen.“ Dabei vergisst er freilich zu erwähnen, dass die Finanzmittel der bulgarischen Gemeinden von der Zentralregierung bewilligt werden müssen.

Damit ist der Teufelskreis geschlossen: Überall gibt es vernünftige Leute, die durchaus sehen, dass die Mobilisierung des ökonomischen Potenzials der Roma langfristige, kontinuierliche Investitionen in die Entwicklung dieser Gemeinschaft voraussetzt. Aber weder die nationalen Regierungen noch die EU-Kommission scheinen bereit zu sein, eine entsprechende Strategie zu beschließen und umzusetzen. Deshalb werden die Roma-Ghettos in Bulgarien noch auf Jahre hinaus an Elendsviertel der Dritten Welt erinnern.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Nikoleta Popkostadinowa (Sofia) arbeitet für die Zeitung Capital Weekly in Sofia. Für den – hier gekürzten – Text wurde sie mit dem 1. Preis des Balkan Fellowship for Journalistic Excellence ausgezeichnet, einem Förderwettbewerb für Journalisten aus Südosteuropa. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 14.03.2008, von Nikoleta Popkostadinowa