13.01.2012

Staatstheater in Moskau

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Staatstheater in Moskau

von Peter Pomerantsev

Staatstheater in Moskau
Die Ära eines Puppenspielers

Anfang März steht der nächste Akt im russischen Staatsschauspiel bevor: Wladimir Putin und Dmitri Medwedjew werden hinter den Kulissen, im grünen Salon des Kreml, einen fliegenden Kostümwechsel vornehmen und in vertauschten Rollen auf die Bühne zurückkehren: Putin erneut als Präsident, Medwedjew als Ministerpräsident. Der Rollentausch manifestiert die „gelenkte Demokratie“ – ein Ausdruck ihrer Erfinder – und belegt den Erfolg des Mannes, der Autor wie Regisseur dieser Show ist.

Wladislaw Surkow gilt vielen als „Demiurg des Kreml“, andere sehen ihn als „Puppenspieler, der das politische System Russlands privatisiert hat“. Ende Dezember 2011 wurde der Chefideologe aus dem Kreml geschasst. Medwedjew machte ihn zum stellvertretenden Ministerpräsidenten, wobei noch unklar ist, welche konkreten Aufgaben Surkow künftig haben soll. Bislang war der 47-Jährige jedenfalls der eigentliche Genius der Putin-Ära. Wer Surkow und seine Rolle versteht, hat nicht nur das heutige Russland verstanden, sondern auch einen ganz neuen Typ Machtpolitik: ein Modell autoritärer Herrschaft, das viel subtiler ist als seine Vorläufer des 20. Jahrhunderts.

Surkows weiches, glattes Gesicht hat etwas Engelhaftes, doch sein Blick ist leicht dämonisch. Der ehemalige Leiter eines Amateurtheaters wechselte nach einem wirtschaftswissenschaftlichen Studium ins PR-Fach. Bis zum 27. Dezember 2011 war er zwar nur „Stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung“, faktisch hat aber niemand die russische Politik so stark geprägt wie er. Surkow ist der Erfinder der „souveränen Demokratie“, was demokratische Institutionen ohne jegliche demokratische Freiheiten bedeutet; er hat das staatliche Fernsehen zu einem Kitsch produzierenden, Putin verklärenden Propagandaapparat gemacht; er hat die kremlhörigen Jugendgruppen gegründet, die sogenannten Naschi (Die Unsrigen), die sich selbst gern mit der Hitlerjugend vergleichen und es sich zur Aufgabe gemacht haben, Ausländer oder oppositionelle Journalisten zu verprügeln und „unpatriotische Bücher“ auf dem Roten Platz zu verbrennen.

Der Kreml-Ideologe mit einer Schwäche für Gangsta-Rap

Doch das ist nur der halbe Surkow. Nebenher schreibt er Essays über Konzeptkunst und Songtexte für Rockgruppen. Seine besondere Leidenschaft gilt dem Gangsta-Rap: Auf seinem Schreibtisch steht, neben einem Putin-Porträt, ein Foto des US-Rappers Tupac Shakur. Surkow soll auch den Bestseller „Nahe Null“1 geschrieben haben. Dafür spricht das Pseudonym Natan Dubowizki, unter dem der Roman 2009 erschienen ist – Surkows Frau heißt Natalja Dubowizkaja. Offiziell hat er selbst nur das Vorwort verfasst, in dem er bestreitet, der Autor des Romans zu sein. Doch in Interviews hat er seine Autorenschaft mehr oder weniger eingestanden. Ob Surkow nun jedes Wort von „Nahe Null“ geschrieben hat oder nicht, jedenfalls hat er viel getan, um das Buch mit seiner Person in Verbindung zu bringen.

Der Roman ist eine Satire auf das heutige Russland, sein Held Jegor verkauft sich unbeschwert an jeden, der ihn für seine Dienste bezahlt. In Sowjetzeiten hatte Jegor „eine Stelle als einfacher Redakteur in einem riesigen Staatsverlag in einer Unterabteilung für Nichtpublizierbare Amerikanische Poesie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“.2 Inzwischen hat er es zum „Büchermagier“ gebracht: Er kauft die Manuskripte verarmter Untergrundautoren, um die Rechte an neureiche Bürokraten und Gangster mit künstlerischen Ambitionen zu verticken, die diese dann unter ihrem Namen veröffentlichen. Die im Roman dargestellte Welt ist ein gefährliches Pflaster: Verlagshäuser halten sich eigene Gangs, die den Kampf um die Rechte von Nabokov oder Puschkin mit der Knarre austragen; diese Gangs sind wiederum von den Geheimdiensten unterwandert, die ihre eigenen undurchsichtigen Ziele verfolgen. „Nahe Null“ zählt also zu der Sorte von Büchern, die Surkows Jugendgruppen auf dem Roten Platz verbrennen.

Der Held Jegor ist als Sohn einer alleinstehenden Mutter in der russischen Provinz aufgewachsen. Von der Talmi-Ideologie der späten Sowjetunion enttäuscht, wurde er zum lesehungrigen Hipster. In den 1980er Jahren zog es ihn nach Moskau und in die dortigen Boheme-Kreise, bis er in den 1990er Jahren zum PR-Guru wurde.

Jegors Werdegang erinnert an den von Surkow, über den kaum jemand etwas wusste, bevor die Zeitschrift Nowoje Wremja Anfang April 2011 darüber schrieb. Demnach ist die Mutter des 1964 geborenen Surkow eine Russin, sein Vater ein Tschetschene, der aber schon früh aus dem Leben des Sohnes verschwand. Ehemalige Schulkameraden erinnern sich an einen Jungen, der sich im Komsomol über die Lieblinge seines Lehrers lustig machte, Samthosen und lange Haare trug wie Pink Floyd, Gedichte schrieb und ein Mädchenschwarm war. Aber er war auch ein hervorragender Schüler, dessen Aufsätze im Lehrerzimmer vorgelesen wurden. Nicht nur er selbst hatte also den Eindruck, dass er zu intelligent war, um an die potemkinsche Inszenierung seiner sozialen und politischen Umwelt zu glauben.

In den 1980er und frühen 1990er Jahren erlebte Russland kurz hintereinander sehr unterschiedliche politische Systeme: Auf die Stagnation der Breschnew-Ära folgte die Perestroika von Gorbatschow, die zum Zusammenbruch der Sowjetunion, zu marktliberaler Begeisterung und schließlich in die ökonomische Katastrophe führte. Surkow hat in dieser Umbruchphase mehrere Anläufe zu einer akademischen Karriere gemacht (er studierte unter anderem Metallurgie und Theaterregie), verbrachte kurze Zeit in der Armee, trieb sich auf Künstlerpartys herum und war wiederholt in schwere Schlägereien verwickelt (wegen einer wurde er von der Schauspielschule verwiesen).

In einem der von Wikileaks veröffentlichten Berichte der Moskauer US-Botschaft heißt es, Surkow habe sich immer für ein verkanntes Genie gehalten. Allerdings brauchte er einige Zeit, um seine Berufung zu finden. Beim Training in einem Kampfsportklub lernte er Michail Chodorkowski kennen. Der junge Bizness-Star stellte ihn als Leibwächter an, erkannte aber bald, dass er Surkows Grips besser brauchen konnte als seine Muskeln, und machte ihn zu seinem PR-Manager.

Schon bald hatte sich herumgesprochen, dass Surkow nicht nur raffinierte PR-Kampagnen zu ersinnen wusste, sondern auch mit Charme, Aggressivität und Bestechungsgeldern die entscheidenden Leute dazu bewegen konnte, die Kampagnen in den großen Medien zu platzieren. Der Politologe Dmitri Oreschkin bescheinigt Surkow die Fähigkeiten des Tschekisten: „Es gelingt ihm immer, den schwachen Punkt des anderen zu wittern.“3 Es folgten Spitzenpositionen bei Banken und Fernsehsendern. 1999 wurde Surkow in Jelzins Beraterstab geholt, wo er schon deshalb auffiel, weil er inmitten von Bürokraten wie ein Designer wirkte. Dabei wurde er zu einem der wichtigsten Meinungsmacher, die Putin als Kandidaten für die Präsidentenwahlen des Jahres 2000 aufbauten.

Seitdem hat es Surkow geschafft, sich den Anforderungen seines Herrn und Meisters anzupassen und im Geschäft zu bleiben, während viele seiner Kollegen längst in Ungnade gefallen sind. „Slawa ist ein leeres Gefäß“, meint der prominente Oppositionspolitiker Boris Nemzow, „unter Jelzin war er Demokrat, unter Putin ist er Autokrat.“

Als Spekulationen aufkamen, er strebe nach dem Präsidentenamt, befürchtete Surkow, dass ihm der Erfolg zum Verhängnis werden könnte. Er neutralisierte das gefährliche Gerücht unverzüglich, indem er erstmals durchsickern ließ, dass sein Vater Tschetschene war. Damit wolle er sich selbst von einem Spitzenamt ausschließen, hieß es damals. Es war seine Art zu sagen: „Ich kenne meine Grenzen.“ Ein ehemaliger Chef schilderte ihn als „verschlossenen Menschen mit vielen Dämonen“. Surkow sehe sich nie auf derselben Ebene wie die anderen: „Er muss über ihnen stehen, oder zur Not auch unter ihnen – Boss oder Sklave.“

Zynismus ist angesagt

Am aufschlussreichsten sind die Passagen in „Nahe Null“, in denen der Autor die Gesellschaftssatire hinter sich lässt und sich der Innenwelt seines Helden zuwendet. Dabei wird Jegor zu einer Art „ordinärem Hamlet“, der die Oberflächlichkeit seiner Zeit durchschaut, aber zu keinerlei Gefühlen gegenüber irgendjemanden oder irgendetwas imstande ist. Sein Ich ist „wie in einer Nussschale eingeschlossen“, er empfindet sich selbst als in sich gekehrt, fast autistisch, horcht in seine Gesprächspartner hinein, um „im tosenden Moskau ein Buch, Essen, Geld, Kleidung, Sex, Macht und andere nützliche Dinge zu bekommen“.4 Der Roman nimmt ständig Bezug auf Hamlet (obwohl sich Prospero eher anbieten würde), und die meisten seiner Protagonisten sind wie die bei Shakespeare auftretenden Schauspieler bereit, je nachdem ein Erbauungsstück, eine Tragödie oder irgendwas dazwischen aufzuführen.

Der Romanautor Eduard Limonow sagt von Surkow, er habe „Russland in ein fantastisches postmodernes Theater verwandelt, in dem er mit alten und neuen politischen Modellen experimentiert“. Da ist etwas dran. Im heutigen Russland kommt – anders als in der alten Sowjetunion – ständig etwas Neues auf die Bühne: am Morgen eine Diktatur, gegen Mittag eine Demokratie, am Abend eine Oligarchie, derweil hinter der Bühne Ölkonzerne enteignet, Journalisten umgebracht und Milliarden beiseitegeschafft werden. Und im Mittelpunkt der Show steht mit Wladislaw Surkow ein Mann, der an einem Tag nationalistische Skinheads finanziert und am nächsten Menschenrechtsgruppen unterstützt. Diese Strategie setzt darauf, jede denkbare Opposition in ständiger Verwirrung zu halten.

Die Mischung aus Despotismus und Postmodernismus, in der es keine gesicherte Wahrheit mehr gibt, macht sich auch darin bemerkbar, dass die russische Elite auf Psychotechniken wie Neurolinguistische Programmierung (NLP) oder Erickson’sche Hypnose abfährt. Diese in den 1960er Jahren in den USA entwickelten Methoden zur Manipulation des Unterbewusstseins basieren weitgehend auf dem Versuch, das Gegenüber zu verwirren. In Moskau gibt es zahllose Ausbildungszentren für NLP und Erickson’sche Hypnose, und wer in die Machtelite aufsteigen will, verpulvert tausende Dollars, um der nächste Meister der Manipulation zu werden.

Philosophisches Gewicht bekommt das Surkow’sche Machtmodell durch die Klassiker der Postmoderne. So wurde der französische Theoretiker François Lyotard just zu dem Zeitpunkt ins Russische übersetzt, als Surkow seinen Regierungsposten bekam, nämlich erst Ende der 1990er Jahre. Auch der Autor von „Nahe Null“ beruft sich gern auf Theoreme Lyotards, etwa auf den Zusammenbruch der großen zivilisatorischen Narrative und die Fragmentierung der Wahrheit. So etwas klingt in Russland immer noch neu und originell. Ein Blogger bemerkte vor Kurzem, dass „die Zahl der Bezüge auf Derrida im politischen Diskurs ins Wahnwitzige wächst“. Er verwies dabei auf eine Rede des Duma-Abgeordneten Iwanow, in der Derrida dreimal und Lacan zweimal zitiert wurde. Russland hat also eine modische, vorgeblich libertäre intellektuelle Bewegung aus dem Westen übernommen und in ein Instrument der Unterdrückung verwandelt – was an das Schicksal der sozialistischen Idee im frühen 20. Jahrhundert erinnert.

Zu sowjetischen Zeiten glaubten die meisten Funktionäre noch wenigstens pro forma an den Kommunismus. Heute verkündet Wladimir Kulistikow – der Mitte der 1990er Jahre Korrespondent für Radio Free Europe war und jetzt Chef des größten russischen Fernsehsenders (JSC NTV) ist – voller Stolz, er könne „mit jeder Macht zusammenarbeiten, wenn ich gesagt bekomme, dass ich mit ihr zusammenarbeiten soll“.

Solange man im entscheidenden Moment Loyalität beweist, kann man nebenher machen, was man will: Einer der wichtigsten Moskauer Galeristen berät den Kreml in Propagandafragen und stellt in seiner Galerie kremlkritische Arbeiten aus. Ein angesagter Filmregisseur produziert eine populäre Satire über das Putin-Regime und tritt in die Putin-Partei ein. Und Surkow schreibt einen Roman über das korrupte System und regimekritische Rocksongs, für die er früher verhaftet worden wäre.

Wer im alten Sowjetrussland ein Stück vom Kuchen abbekommen wollte, musste jeglichen Anspruch auf künstlerische Freiheit aufgeben. Im heutigen Russland kann man, Talent und Cleverness vorausgesetzt, durchaus beides haben. So entsteht eine einzigartige Verbindung von primitiven feudalen Unterwerfungsgesten und gerissener postmoderner Ironie. Perfekt illustriert wird diese Haltung durch eine Immobilienreklame, die Anfang 2011 überall im Moskauer Stadtzentrum zu sehen war: Sie zeigt im Stil eines Nazi-Plakats zwei sehr germanisch anmutende Jugendliche vor einem fantastischen Alpenpanorama und darunter den Slogan: „Das Leben wird besser.“ Das Plakat sollte nicht unbedingt witzig sein, war aber auch nicht ganz ernst gemeint. In gewisser Weise war es beides. Seine Botschaft: Dies ist die Gesellschaft, in der wir leben (eine Diktatur), aber wir betrachten sie als eine Art Spiel (wir können Witze über sie machen), das wir jedoch auf ernsthafte Weise spielen (wir verdienen damit unser Geld und werden nicht zulassen, dass jemand die Regeln unterläuft).

Vor einigen Monaten fand in einem berühmten Moskauer Nachtklub eine riesige „Putin Party“ statt, mit Stripperinnen, die im Chor stöhnten: „Ich will dich, Premierminister.“ Das ist dieselbe Logik. Die Ranschmeiße an den Kremlchef ist völlig echt, aber weil wir alle befreite Menschen des 21. Jahrhunderts sind, die auf die Filme der Coen-Brüder abfahren, haben wir noch beim Ranschmeißen ein ironisches Grinsen auf dem Gesicht, wohl wissend, dass wir ziemlich schnell tot wären, wenn wir uns mit dem Kreml anlegen würden.

Schwarz ist Weiß, und Weiß ist Schwarz

Das ist die Welt, die Surkow geschaffen hat. Eine Welt der Masken und Posen, farbenfroh, aber leer, ohne substanziellen Kern – außer der Macht um der Macht willen und der Anhäufung riesiger Reichtümer. Russland lebt nach dem Skript des einstigen Möchtegernregisseurs. Aber „Nahe Null“ ist nicht der einzige Bestseller, den ein Mitglied der politisch-ökonomischen Elite Russlands in letzter Zeit verfasst hat. Surkows ehemaliger Freund Michail Chodorkowski, der frühere Ölmagnat, der sich zum prominenten politischen Dissidenten gemausert hat und dafür im Gefängnis sitzt, hat im Januar 2011 eine Sammlung seiner Aufsätze und Interviews veröffentlicht.

Surkow und Chodorkowski verbindet eine komplizierte persönliche Geschichte. Der Oligarch, heißt es, habe Surkow nie ganz vertraut, weshalb er dem jungen PR-Manager einen Korb gab, als dieser in seinen Öl- und Bankkonzern einsteigen wollte. Das führte zum Bruch, und viele Leute behaupten, dass unter anderem diese Feindschaft Chodorkowski ins Gefängnis gebracht hat. Heute stehen die Bücher der beiden stellvertretend für die intellektuellen Lager, in die Russland aufgeteilt ist.

Chodorkowskis Aufsätze beschäftigen sich vor allem mit der Zukunft seines Landes. Der Oligarch ist im Gefängnis zu einem Sozialdemokraten geworden und verurteilt den Raubtierkapitalismus, der ihm zu seinem Reichtum verholfen hat. Seine Ideen sind nicht originell, bemerkenswert an dem Buch ist seine ruhige, würdige, maßvolle Tonlage. Chodorkowski greift seine Kerkermeister nicht an, aber er ist auch nicht zu dem Kniefall bereit, den sie von ihm erwarten.5 Das ideale Szenario für den Kreml wäre eines, auf das sich die meisten anderen Oligarchen eingelassen haben: Chodorkowski gibt auf, bittet um Gnade, unterschreibt ein falsches Geständnis. Dass er sich dieser alten KGB-Strategie verweigert, hat ihm die Sympathie und Unterstützung der Liberalen eingebracht. Niemand glaubt, dass er in den 1990er Jahren mit harmloseren Methoden an seine Milliarden gekommen ist als all die anderen, aber seine heutige Haltung macht Eindruck, zumal im Kontrast zu Surkows Konformismus.

Bei seinem jüngsten Prozess wurde Chodorkowski zu sechs weiteren Jahren Haft verurteilt, weil er irgendwie das Öl seiner eigenen Firma gestohlen haben soll. Und obendrein erklärte der Richter, zwei ehemalige Minister, die zugunsten von Chodorkowski ausgesagt hatten, würden in Wahrheit den Angeklagten belasten. Schwarz ist Weiß, und Weiß ist Schwarz. Aber diese Absurdität ist die entscheidende Botschaft: Der Kreml hat die volle Kontrolle über die Realität, und was er sagt, und sei es noch so grotesk, ist die Wahrheit.

Nach dem letzten Chodorkowski-Urteil regte sich leiser Protest von unerwarteter Seite. Die Pressesprecherin des Gerichts räumte ein, der Richter habe ein vom Kreml verfasstes Schlusswort verlesen müssen. Und Michail Prochorow, der prominenteste noch nicht eingebuchtete Oligarch, nannte Surkow einen „Puppenspieler“, worauf er aus der von Präsident Medwedjew berufenen „Modernisierungskommission“ hinauskomplimentiert wurde.

Das Foto Chodorkowskis, auf dem er durch die Gitter seiner Haftzelle starrt, vermittelt inzwischen eine andere Botschaft. Als der Oligarch 2003 festgenommen wurde, stand es für die Allgewalt Putins, der die mächtigen Oligarchen auf einen Schlag an die Kandare gelegt hatte. Es besagte: „Vom Titelbild des Managermagazins Forbes bis zur Gefängniszelle ist es nur ein kleiner Schritt.“ Damals gehörte es zu Surkows Aufgaben, dieses Foto so weit wie irgend möglich zu verbreiten. Acht Jahre später sitzt Chodorkowski immer noch im Knast, aber das Bild vermittelt heute eher die Botschaft: „Solange ich hinter Gittern bin, ist ganz Russland ein Gefängnis.“

Die von Surkow kontrollierten Medien bezeichnen übrigens die liberalen Anhänger von Chodorkowski als „Demochiza“ (eine Abkürzung für „demokratische Schizophrene“). Sie liefern damit ein hübsches Beispiel dafür, wie Schwarz zu Weiß wird, wo doch die Surkow-Ideologie im Wortsinn schizophren ist, und die Chodorkowski-Freunde diejenigen sind, die auf Konsistenz bestehen. Das Etikett „Demochiza“ dient noch einem weiteren Zweck, nämlich „Demokratie“ mit Geisteskrankheit zu assoziieren.

Das Wort Demokratie hat in Russland einen unguten Klang. Zumeist wird es im Sinne von „billig“ oder „von minderer Qualität“ benutzt: McDonald’s hat zum Beispiel „demokratische“ Preise. Oder ein besonders schäbiger Tanzklub hat „demokratische“ Einlassregeln, was heißt, dass hier jeder reinkommt. Einige wenige Restaurants sind allerdings stolz auf ihr „demokratisches“ Etikett. Sie werden von Kindern ehemaliger Dissidenten betrieben und sind die Orte, an denen liberale Maler, Filmemacher, Journalisten und andere demokratische Schizophrene nächtelang rauchen, essen, trinken und sich wichtigmachen.

In so einem Restaurants landete ich neulich spät abends nach einem Theaterbesuch. Nach wochenlangem Herumtelefonieren, nach Betteltouren und Erpressungsversuchen hatte ich endlich eine Karte für die Theaterfassung von „Nahe Null“ ergattert, das Großereignis in dieser theaterverrückten Stadt. Die billigste reguläre Karte kostet 500 Dollar, auf dem Schwarzmarkt muss man eine vierstellige Summe hinlegen. Der Preis für meine betrug am Ende zwei Flaschen Champagner und das Angebot an eine der Schauspielerinnen, die Wohnung meiner Eltern in London gratis zu benutzen. Das reichte, wie ich dann merkte, nicht mal für einen richtigen Platz. Die Saaldiener ließen mich erst ein, als der Raum schon abgedunkelt war; ich bekam ein Kissen und die Anweisung, mich neben der ersten Reihe auf den Boden zu setzen. Mein Kopf stieß ständig an den parfümierten Oberschenkel eines unglaublich perfekten Models, worüber deren leicht brutal aussehender Gatte offenbar nicht sehr erfreut war.

Im Publikum saßen viele dieser harten, cleveren Typen, die das Land regieren, umkreist von ihren atemberaubenden weiblichen Satelliten. Normalerweise gehen sie nicht ins Theater, aber dieses Stück ist für sie ein Muss. Wenn sie Surkow jemals über den Weg laufen, müssen sie ihm sagen können, wie toll sie sein Stück fanden. Die andere Hälfte des Publikums repräsentierte die Moskauer Kulturelite: Theaterintendanten, Regisseure, Schauspieler. Auch diese Leute können es sich nicht leisten, das Stück nicht gesehen zu haben. Alle wissen schließlich, dass Surkow der Mann ist, der die Zuschüsse an Theater und Festivals vergibt.

In der „demokratischen“ Bar, die ich nach dem Theater aufsuchte, traf ich eine bekannte Journalistin: „Zu so was würde ich nie hingehen“, meinte sie, „ich möchte mit etwas, woran Surkow beteiligt ist, nicht in Berührung kommen. Und dieser Scheiß-Serebrennikow! Wer hätte gedacht, dass er mal so tief sinken würde? Dem Kreml derart in den Arsch zu kriechen!“ Serebrennikow ist der Regisseur des Stücks. Er ist berühmt für seine Inszenierungen von skandalösen, subversiven Stücken und dafür, dass er immer eine Sonnenbrille trägt. Viele halten ihn für ein Genie. Wenn er mit Surkow zusammenarbeitet, ist das etwa so, als hätte Brecht ein Stück von Goebbels auf die Bühne gebracht.

In Moskau gibt es Leute, die so etwas nie verzeihen werden. Aber Serebrennikow hat sich geschickt aus der Affäre gezogen: Seine Inszenierung hat den Romanstoff umgemodelt. Sein Jegor ist ein Faust-ähnlicher Held, der seine Seele an den Teufel verkauft hat, sie dann aber zurückhaben will. Sein leeres Hochglanzleben mit Partys, schnellem Sex und gelegentlichen Erniedrigungen empfindet er als die Hölle auf Erden. Dieser Jegor hat Gefühle und verachtet sich selbst – ganz anders als der kalte Held des Romans. Es gibt neu geschriebene Passagen, die Serebrennikows Schauspieler frontal ins Parkett sprechen, wobei sie dem Publikum vorhalten, eine auf Vetternwirtschaft, Korruption und Gewalt basierende Welt ganz in Ordnung zu finden.

Die Bohemiens unter den Zuschauern lachten eher verlegen. Die harten Männer und ihre Satelliten verzogen keine Miene, als hätte diese Provokation mit ihnen nichts zu tun. Nach der Pause blieben viele weg. Dem großen Regisseur ist auf seine Weise ein Kunststück gelungen, das der Ära Surkow voll und ganz entspricht: Er tut seinen politischen Herren einen Gefallen (Surkow ist Sponsor eines von Serebrennikow organisierten Festivals), wahrt dabei aber seinen liberale Integrität. Ein Fuß im Lager von Surkow, den anderen in dem von Chodorkowski – was für eine gelungene Inszenierung.

„Das Leben in Russland“, erklärte mir die Journalistin in der demokratischen Bar, „ist besser geworden, hinterlässt aber einen beschissenen Nachgeschmack.“ Nach dem ersten Drink fragte sie: „Ist Ihnen aufgefallen, dass Surkow anscheinend nicht älter wird? Er hat keine Falten im Gesicht.“ Nach weiteren Drinks ging es dann um Surkows Hamlet-Fixierung. Die Journalistin kam mit einer Interpretation des Stücks, die sie von einem Literaturprofessor hatte, der inzwischen Rockmusikproduzent ist (eine typisch Moskauer Karriere).

„Wer ist in ‚Hamlet‘ die zentrale Figur? Wer ist der Demiurg, der die ganze Situation im Griff hat?“ Achselzucken. „Es ist Fortinbras, der Kronprinz von Norwegen, dem am Ende der Staat Dänemark zufällt. Horatio und die Schauspieler stehen in seinen Diensten, und ihr Auftrag lautet, Hamlet zu manipulieren, um am Hof von Helsingör Konflikte zu schüren. Denk noch mal über das Stück nach. Hamlets gleichnamiger Vater hat den Vater von Fortinbras getötet, der damit allen Grund zur Rache hat. Wir wissen auch, dass der alte Hamlet ein schlechter König war, wir erfahren, dass Horatio und die Schauspieler jahrelang fort waren. Waren sie womöglich bei Fortinbras in Norwegen?“

Die Journalistin kennt die Antwort: „Am Ende des Stücks spricht Horatio mit Fortinbras wie ein Spion, der den erfolgreichen Abschluss seiner Mission meldet. Im Wissen um die labile Natur des jungen Hamlet haben sie die Schauspieltruppe angeheuert, die ihn zu Handlungen provoziert, an deren Ende das dänische Herrscherhaus ausgelöscht ist. Das erklärt, warum am Anfang alle den Geist tatsächlich sehen können. Als ihn dann später allein Hamlet erblickt, hat er nur halluziniert. Für Moskauer ist das völlig einleuchtend. Der Welt Shakespeares sind wir hier viel näher als anderswo.“

Und in der Tat: Denkt man an all die geheimen Intrigen, vergifteten Spione, bürokratischen Barone und auf Revolution sinnende Exiloligarchen, an den Einflüsterer der Macht namens Surkow und an den immer noch eingekerkerten Chodorkowski, scheint Moskau auf der Landkarte der Zivilisation irgendwo in der Nähe von Helsingör zu liegen.

Fußnoten: 1 Natan Dubowizki, „Nahe Null. Gangsta Fiction“, aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Berlin (Berlin Verlag) 2010 (Original: „Okolonulja“). 2 Siehe Anmerkung 1, S. 47. 3 Tschekisten wurden die Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes genannt. Der Name stammt von der 1917 gegründeten Organisation der Bolschewiki, die in die GPU (später KGB) überführt wurde. 4 Natan Dubowizki, „Nahe Null“, siehe Anmerkung 1, S. 46. 5 Siehe Keith Gessen, „Als der Oligarch die Regel brach. Chodorkowski, Putin und der Fall Yukos“, Le Monde diplomatique, April 2010. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Peter Pomerantsev ist Fernsehproduzent und schreibt u. a. für The Daily Beast, openDemocracy, National Review und London Review of Books.

© London Review of Books, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Die Ära eines Puppenspielers

Die russische Protestbewegung fordert ein Ende der „Phantomwahlen“ und damit echte Demokratie. Sie kämpft gegen ein System, das sich längst als „postmoderne Diktatur“ oder „gelenkte Demokratie“ bezeichnen lässt. Dieser neue Typ autoritärer Herrschaft ist eine Erfindung von Putins ehemaligem Chefideologen Wladislaw Surkow.

Die Proteste richten sich nicht einfach gegen Wahlfälschungen, sondern ganz allgemein gegen den Stil der russischen Politik. Die Ära Surkow war geprägt von unendlicher Ironie und Zynismus und davon, dass nichts direkt ausgesprochen wurde. Die Demonstranten dagegen glauben an die klassischen Werte der Demokratie und daran, dass man die Dinge beim Namen nennen sollte.

Nachdem Surkow so lange in der Grauzone der Macht operiert hat, ist sein Name zum Synonym für Scheinwahlen und PR-Tricks geworden. Um die Proteste einzudämmen, hat Putin am 27. Dezember seinen Spindoctor geopfert und von seiner Verantwortung für die Innenpolitik entbunden. Die ersten Reaktionen des Kreml auf die oppositionelle Bewegung waren noch ganz dem Surkow’schen Politikstil verhaftet.

Michail Prochorow, die Karikatur eines Oligarchen, von dem die meisten Russen nur wissen, dass er sich in französischen Skiorten mit Scharen weiblicher Models herumtreibt, hat sich inzwischen als Anhänger der Protestbewegung geoutet und will als Kandidat bei den Präsidentenwahlen antreten. Ein klassischer Surkow-Trick: Das liberale Publikum soll beschwichtigt, zugleich aber Putin gestärkt werden, weil ihm ein Gegner ersteht, der bei den Wahlen leicht zu schlagen ist.

Das Problem ist nur, dass offenbar niemand mehr darauf hereinfällt. Die Oppositionellen kennen Surkows Spielchen inzwischen in- und auswendig. Sie wollen keine Tricks mehr, sie wollen ernsthafte Politik. Die könnten sie schon bald kriegen. Seit Beginn der Protestbewegung hat Putin alte loyale Genossen aus KGB-Zeiten auf Schlüsselpositionen seines Regimes gehievt. Sergei Iwanow wurde zum Chef der Präsidialverwaltung ernannt, Sergei Naryschkin zum Präsidenten der Duma gemacht. Neuer Vizechef der Präsidialverwaltung, als Nachfolger Surkows, wurde Wjatscheslaw Wolodin. Wobei unklar ist, ob er genauso einflussreich wie sein Vorgänger sein wird, denn Surkow hat den Posten erst wichtig gemacht und nicht umgekehrt.

Sollte ein blutiger Showdown mit der Opposition nötig werden, steht die Prätorianergarde also schon bereit. Die Hardliner haben Surkows Spielchen mittlerweile genauso satt wie die Protestbewegung. Sie wollen echte Repression, echte Festnahmen, echtes Blut. Surkow hat eine „postmoderne“ Diktatur geschaffen. Viele Leute befürchten, dass wir nach den Präsidentenwahlen im März in Russland eine traditionellere Diktatur erleben werden. Peter Pomerantsev

Le Monde diplomatique vom 13.01.2012, von Peter Pomerantsev