10.02.2012

Unterricht mit Werbepausen

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Unterricht mit Werbepausen

Schulmisere in Mexiko von Anne Vigna

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Als die Algebrastunde zu Ende geht, erklingt, wie jede Viertelstunde, ein Jingle. Er kündigt die von den Schülern sehnlichst erwartete Werbeunterbrechung an. Im ersten Spot sieht man Familien, die vor einer Häuserflucht Aufstellung genommen haben. „Diese Regierung hat drei Millionen Häuser für die Ärmsten gebaut!“, ertönt es aus dem Off. Dann folgt eine Sequenz wie aus einem Hollywoodfilm: Finstere Ganoven foltern einen angeketteten Mann. Die Stimme aus dem Off fährt fort : „Der Schutz der Menschenrechte ist ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung.“

Für die Kinder aus dem Dorf Amatlán de Quetzalcóatl zwei Stunden südlich von Mexiko-Stadt hat gerade ein neuer Schultag begonnen. Wir befinden uns im Bundesstaat Morelos, wo vor einhundert Jahren, während der mexikanischen Revolution, die von Emiliano Zapata angeführten Bauern kostenlose und solide Bildung für alle gefordert hatten. Heute wird hier, wie in zahlreichen anderen mexikanischen Dörfern auch, der Unterricht per Satellitenfernsehen erteilt – daher der Name „Telecolegio“ (Teleschule).

Man erkennt sie schon von Weitem an der Parabolantenne auf dem Dach. Die weißen Wände der beiden Klassenräume sind fast nackt. Eine gewellte Landkarte von Mexiko baumelt neben der kleinen Tafel, an die schon lange nichts mehr geschrieben wurde. Mitten im Raum thront der Fernseher, der Unterricht im Viertelstundentakt verabreicht, unterbrochen von Werbepausen. 18 Schüler aus den drei Klassen der Mittelstufe1 sitzen hier mit zwei Lehrern. Und was tun die Lehrer? Sie sollen „die Übergänge gestalten“, wenn der Fernseher ausfällt, „was praktisch jeden Tag vorkommt“, klagt Schuldirektor Ricardo Ventura, der die mittlere Klasse unterrichtet (die etwa der 8. Klasse in Deutschland und der Schweiz entspricht). Tatsächlich fällt auch diesmal nach 40 Minuten das Satellitensignal aus – die Schule ist für heute beendet.

Dem Beobachter dieses Lernsystems kommen schnell Zweifel auf: Die Schüler der 1. Klasse hatten zwar ununterbrochen Unterricht, aber mit den Scherzen der Moderatorin, die aus ihrem Studio in der Hauptstadt das Fach Erdkunde lehrt, konnten sie offenbar nicht so viel anfangen. Währenddessen haben die Schüler der 3. Klasse im selben Raum geschlafen oder auf ihren Stiften herumgekaut. Bevor sie an die Reihe kamen, mussten sie die Sendungen für die 1. und 2. Klasse über sich ergehen lassen.

Es gibt kein Buch, keine Aufgabe, die diese endlosen Minuten füllen könnten. Manche werfen einen gelangweilten Blick auf die Mattscheibe: „Die Stunde vom letzten Jahr“, bemerkt eine Schülerin. Aber ohne Ton – der ist heruntergedreht, damit die 1. Klasse arbeiten kann. Ein Blick auf den Fernseher zeigt dem Lehrer, dass die Stunde für die 2. Klasse vorbei ist und er sich nun den Größeren widmen kann. Er holt die Geschichtsbücher heraus, aber die junge Moderatorin, begleitet von Musik und dramatisch ausgeleuchtet, verkündet den Beginn der „lang erwarteten“ Mathematikstunde. „Sie schicken uns den Stundenplan übers Internet, aber ich konnte meine Mails nicht abrufen“, entschuldigt sich der Lehrer. Diesmal schaffen es die Schüler gerade einmal drei Minuten zu arbeiten, bis der Empfang abermals gestört ist und alle in die Pause gehen. Kann der Lehrer den Unterricht nicht ohne Fernseher fortsetzen? „Nein, die Stunde wird nächste Woche wiederholt. Es ist doch besser, mit medialer Unterstützung zu unterrichten.“

In den Regelschulen teilen sich acht Lehrer die verschiedenen Fächer untereinander auf. In der Teleschule gibt es dafür nur eine Lehrperson. Theoretisch sind die Unterrichtszeiten identisch (von 8 bis 13 Uhr), aber am Tag unseres Besuchs fing der Unterricht wegen der gestörten Verbindung erst um 10 Uhr an. In den drei restlichen Stunden haben die Schüler kaum etwas gelernt: Manche haben gezeichnet, andere übers Handy Musik gehört, eine kleine Gruppe hat die Schule geputzt. Die beiden Lehrer erklären erneut, der Unterricht würde am nächsten Tag wiederholt und sie könnten dann alles nachholen. Am folgenden Tag fällt der Satellitenempfang jedoch ganz aus, und die Lehrer improvisieren einen Schulausflug, bevor sie alle Kinder wieder nach Hause schicken.

Fernsehunterricht – dieses im Jahr 1968 in Mexiko erfundene Modell wird seit ungefähr zwanzig Jahren in nahezu allen Ländern Amerikas eingesetzt. „Zunächst war das eine provisorische Lösung, um die Zeit zu überbrücken, bis genügend Schulen gebaut sind. Aber es hat sich durchgesetzt – so flächendeckend, dass heute jeder fünfte mexikanische Schüler ein Telecolegio besucht“, erklärt die Pädagogin Etelvina Sandoval von der Nationalen Pädagogischen Universität (UPN). Seit der Machtübernahme der christdemokratischen PAN (Partido Acción Nacional) ist die Zahl solcher Schulen noch einmal gestiegen: Unter Präsident Fox (2000 bis 2006) stieg sie um 117 Prozent und hat sich seit dem Amtsantritt von Felipe Calderón im Jahr 2006 nochmals verdoppelt. Heute lernen 1,3 Millionen Kinder an öffentlichen Mittelschulen vor dem Fernseher, insbesondere auf dem Land und in den Vorstädten.

Fernsehen ohne Strom und Bildschirm

Die Teleschulen schneiden bei den Enlace-Untersuchungen – einer Evaluation, die jährlich in allen öffentlichen und privaten Schulen durchgeführt wird – am schlechtesten ab, doch es gibt nur wenige Studien, die sich genauer mit den Problemen der Schüler beschäftigen. Im Jahr 2000 hat Annette Santos vom nationalen Bildungsevaluationsinstitut 59 Telecolegios in Gegenden mit unterschiedlicher Sozialstruktur untersucht. Ergebnis: Die meisten Schüler erwarben kaum die Grundkenntnisse in Spanisch und Mathematik.2 „Das Telecolegio verstärkt die sozialen Ungleichheiten auf besonders krasse Weise: Die ärmsten Schüler haben die schlechtesten Ergebnisse“, stellt die Forscherin fest. In den besonders benachteiligten Gebieten gibt es denn auch die meisten Telecolegios als Einheitsschule mit nur einem Lehrer für alle Klassen. Das Bildungsministerium sagt ohne Umschweife, diese Schulen hätten keine Mittel: Nach der letzten Statistik des Hauses aus dem Jahr 2003 verfügten 5 180 dieser Schulen, also 30 Prozent, über keinen Fernseher; und 2 000 hatten nicht einmal Strom.3

Diese Unzulänglichkeiten dauern an, aber sie sollen bald der Vergangenheit angehören: „Präsident Calderón hat das Projekt ‚Digitaltechnik für alle‘ ins Leben gerufen, mit dem alle Telecolegios künftig Internetzugang erhalten“, verspricht Maria Edita Bernáldez vom Bildungsministerium. Doch wann das Projekt startet und welche Mittel dafür zur Verfügung stehen, ist nicht in Erfahrung zu bringen – obwohl Felipe Calderóns Amtszeit bereits im Dezember 2012 endet. Cristóbal Cobo Romaní vom Internetinstitut der Universität Oxford, der etliche Studien über den Einsatz neuer Medien in Mexikos Bildungslandschaft durchgeführt hat, meint, es sei „völlig utopisch anzunehmen, die Telecolegios könnten so schnell ans Internet angeschlossen werden. Mexiko wird noch lange Zeit Probleme mit seinen Internetverbindungen haben. Selbst in Europa ist es auf dem Land manchmal noch schwierig, obwohl mehr als 65 Prozent des Kontinents Netzzugang haben.“

Die Lösung dieser Infrastrukturprobleme würde Mexiko viel Geld kosten. Zudem ist zwischen 2001 und 2008 der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt von 5,3 auf 5 Prozent gesunken.4 Zum Vergleich: Das Budget der Polizei ist heute sechsmal so hoch wie 2006. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stellte in einer Studie über den Zustand der mexikanischen Schulen 2010 fest, dass das Land pro Schüler deutlich weniger ausgibt als die Mitgliedsländer: In jeden Grundschüler investiert Mexiko 2 111 Dollar, während die übrigen Länder im Schnitt das Dreifache (6 741 Dollar) veranschlagen.5 Die Mittelschulen, zu denen auch die Telecolegios gehören, erhalten sogar nur ein Viertel der andernorts üblichen Gelder: In Mexiko sind es pro Schüler 1 814 Dollar, während die OECD-Staaten im Schnitt 7 598 Dollar aufwenden. Die Organisation kritisiert zudem, dass die Eltern in den öffentlichen Schulen zur Kasse gebeten werden. In Amatlán sagt der Schulleiter: „Die Eltern bezahlen alles, vom Toilettenpapier bis zur Stromrechnung. Wir haben überhaupt keine Mittel für laufende Ausgaben.“

Die Regierung Calderón hat sich durchaus im Bildungsbereich engagiert, doch sie kümmerte sich vor allem um Familien, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken – das sind 2,3 Millionen Schüler im Verhältnis zu 23,1 Millionen an öffentlichen Schulen. Im Februar 2011 verkündete der Präsident, die monatlich zu entrichtenden Schulgebühren seien künftig steuerlich absetzbar, und kam damit einer alten Forderung der katholischen Kirche nach. „Das ist ein Geschenk für die Mittelklasse, aber eine neue Katastrophe für das Land, denn die gesellschaftlichen Ungleichheiten werden weiter zunehmen“, meint der Hochschullehrer Octavio Rodríguez Araujo.

Ansonsten folgen die Regierungsprojekte, die man unter dem Namen „Nationales Bündnis für Bildungsqualität“ zusammengefasst hat, dem Vorbild des Förderprogramms „No child left behind“ („Kein Kind soll zurückbleiben“) der Bush-Administration, das von der damaligen Staatssekretärin im Bildungsministerium, Diane Ravitch, zunächst mit initiiert, später aber scharf kritisiert wurde.6 Hinter diesem Programm steht die Idee, die Schulen und Lehrer, die bei der Enlace-Evaluation die besten Ergebnisse erzielen, mit einem finanziellen Bonus zu belohnen. „Damit werden die bereits bestehenden Ungleichheiten vertieft: Die Grundschulen und Telecolegios in ärmeren Gegenden bekommen immer weniger Mittel, weil sie bei der Evaluation immer schlechtere Ergebnisse erzielen“, erklärt Sandoval.

Die Regierung sucht die Verantwortung bei den Lehrern. Die Bildungsexperten hingegen beklagen, dass die Probleme der Lehrer unter den Tisch gekehrt würden. „Man kann nicht alle über einen Kamm scheren. Wenn man in die Schulen geht, sieht man sehr unterschiedliche Lehrer, und häufig findet man auch sehr engagierte Pädagogen“, meint Cristóbal Cobo Romaní.

Solche wie im Telecolegio José Vasconcelos in der Vorstadt Nezahualcóyotl, kurz „Neza“ (die Eigensinnige) genannt, zwölf U-Bahn-Stationen vom historischen Zentrum von Mexiko-Stadt entfernt. Die bittere Armut dieser Millionensiedlung spiegelt sich auch in der Schule wider: Die Decken drohen einzustürzen, von den Mauern rieselt der Putz, die Fenster sind kaputt. In winzigen Räumen drängen sich etwa hundert Schüler. Der Hof wurde noch verkleinert, um eine Kantine aus Fertigteilen einzubauen – „dank der Eltern, die uns geholfen haben“, wie Schulleiter José Figueroa erzählt. Vor 43 Jahren, als er frisch von der Universität kam, lud man ihn zu einer Konferenz ein, um die ersten Telecolegios zu gründen. „Damals gab es in Neza auch nicht mehr Geld, aber die Unterrichtssendungen, die alle von Professoren der Nationalen Pädagogischen Universität gemacht wurden, waren sehr gut“, erinnert er sich.

Heute schalten die acht Lehrer der Schule den Fernseher kaum noch ein. Sie halten ihren Unterricht wie in einer herkömmlichen Mittelschule: „Natürlich muss man sich besser vorbereiten, aber die Schüler lernen mit dem Fernseher einfach nichts. Diese Sendungen sind wirklich eine Schande. Es geht weniger um Pädagogik als um Spezialeffekte.“ Wie in allen Telecolegios wird nur bis mittags unterrichtet. Um die Leistungen der Schüler zu verbessern, organisieren die Lehrer außerschulische Aktivitäten. Da ihnen dafür keinerlei Mittel zur Verfügung stehen, haben sie beschlossen, den Rückzug des Staats durch ehrenamtliches Engagement auszugleichen. Durch die Literatur- oder Theater-AGs halten sich die Kinder länger in der Schule auf – die bei der Enlace-Evaluation gute Ergebnisse erzielt.

Die Regierung setzt derweil auf neue Technologien und begeistert sich für alles, was „innovativ“ – und billig ist. Während der Staat massenhaft Lehrerbildungsanstalten schließt, preist das private Lateinamerikanische Institut für Bildungskommunikation (Ilce), das Unterrichtssendungen an die Telecolegios verkauft, neue digitale Verbreitungswege an, um das Niveau der Schulen zu verbessern: „Wir denken an Unterrichtsprogramme, die der Lehrer per Handy oder auf dem iPad abrufen kann. Wir überlegen auch, wie wir dieses Material über Facebook und Twitter verbreiten können; darum geht es gerade in unseren Gesprächen mit dem Ministerium“, erzählt die Institutsleiterin Patricia Cabrera.

Neue Technologien als Lösung für die vielen Unzulänglichkeiten des mexikanischen Bildungssystems: Das hatte man doch schon.

Fußnoten: 1 Zum mexikanischen Schulsystem: mexiko-lexikon.de/mexiko/index.php?title=Kategorie:Bildung_und_Schulwesen. 2 Annette Santos, „Oportunidades educativas en telesecundaria y factores que las condicionan“, in: Revista latinoamericana de estudios educativos, Centro de estudios educativos, Mexiko 2001. 3 „Situación actual de la telesecundaria en México“, Subsecretaría de Educación Básica, 2003. 4 Wirtschaftsorganisation für Lateinamerika und die Karibik (Cepalc), Dezember 2010. 5 „Mejorar las escuelas: Estrategias para la acción en México“, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Paris 2010. 6 Vgl. Diane Ravitch, „Why I Changed My Mind About School Reform, Wall Street Journal, 9. März 2010: online.wsj.com/article/SB10001424052748704869304575109443305343962.html und: „Volte-face d’une ministre américaine“, in: Le Monde diplomatique, Oktober 2010. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Anne Vigna ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 10.02.2012, von Anne Vigna