10.06.2005

EU in Hoffnung

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EU in Hoffnung

von Ignacio Ramonet

Mit seinem deutlichen Nein zum Europäischen Verfassungsvertrag hat das rebellische Frankreich seiner Tradition als „politischer Nation par excellence“ am 29. Mai alle Ehre gemacht. Es hat den Alten Kontinent wachgerüttelt, den Völkern neue Hoffnung gegeben und die Eliten verstört. Es knüpft an seinen „historischen Auftrag“ an und beweist durch den Mut seiner Bürger, dass es sehr wohl möglich ist, sich angeblichen wirtschaftlichen und politischen Sachzwängen zu entziehen.

Dieses Nein stoppt den ultraliberalen Anlauf, überall in der Welt und dem Willen der Bürger zum Hohn ein einheitliches Wirtschaftsmodell durchzusetzen. Gleich Insektenforschern, die sich über eine ausgestorben geglaubte Spezies beugen, suchen die Leitartikler der tonangebenden Medien die Bedeutung des massiven Neins zu verdrehen. Nachdem die meisten von ihnen einseitig für ein Ja zum Verfassungsvertrag geworben und ihren Gegnern Populismus, Demagogie, Fremdenfeindlichkeit und Masochismus vorgeworfen haben, sind sie nun unfähig, ihre Analysen der Schwere ihrer Niederlage anzupassen. Unglaublich die Selbstgefälligkeit dieser Notabeln, die nicht verstehen – und noch weniger ertragen –, dass das Volk (ein Wort, bei dem sie sich ständig auf die Zunge beißen) sich weigert, den Anweisungen des „Zirkels der Vernunft“ in Brüssel Folge zu leisten. Das Volk kehrt auf die politische Bühne zurück: Es hat das Gefühl, enteignet worden zu sein, nun äußert es seinen Willen, sich das Verlorene zurückzuholen.

Die Bürger haben begriffen, dass der ihnen zur Abstimmung vorgelegte Vertrag den gnadenlosen Wettbewerb im Güter- und Dienstleistungssektor ebenso wie den zwischenstaatlichen Wettlauf um Sozialabbau in den Rang einer Verfassungsnorm erheben würde. Die äußerst mageren Fortschritte in Sachen Demokratie, die der Vertrag verhieß, hätten die verfassungsmäßige Festschreibung des ultraliberalen Modells schwerlich aufwiegen können, zumal künftige Parlamentswahlen dadurch jede Bedeutung verloren hätten.

Das Non war ein außergewöhnlich informiertes Votum, das durch tausende private und öffentliche Diskussionen und intensive Lektüre vorbereitet war – die Neuerscheinungen über die Verfassung standen monatelang auf den Bestsellerlisten. Aller Staatspropaganda zum Trotz, die von den meisten Medien weitergetragen wurde, wollten sich die Bürger selbst ein Bild machen. Unterstützt wurden sie dabei durch die unermüdliche Informationsarbeit der zahllosen Initiativen, die überall in Frankreich spontan entstanden, insbesondere durch die lokalen Attac-Initiativen. Dieser aktive Einsatz gereicht der Demokratie zur Ehre.

Aller Staatspropaganda zum Trotz

Dieses Votum war nicht nationalistisch motiviert, sondern mehrheitlich ein proeuropäisches Votum. Die zahllosen Gewerkschafter und Initiativen anderer Unionsländer, die bei sich oder durch ihre Beteiligung an der Kampagne in Frankreich für ein anderes Europa mobilisierten, haben sich hier nicht geirrt. Viele Europäer, die von ihrer Regierung nicht nach ihrer Meinung gefragt wurden, baten die Franzosen, stellvertretend für sie abzustimmen.

Die nun entstandene Situation eröffnet die Möglichkeit, Werte und Regeln des Zusammenlebens in Europa zu überdenken. Unser Zusammenleben darf sich nicht auf den Nullpunkt des freien Kapital-, Güter-, Dienstleistungs- und Personenverkehrs reduzieren. Das Nein vom 29. Mai schlug keine Türen zu – es gibt Anlass zu neuer Hoffnung.

Le Monde diplomatique vom 10.06.2005, von Ignacio Ramonet