10.08.2012

Europa als Mythos und Fischreuse

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Europa als Mythos und Fischreuse

Kleine Geschichte eines schwer definierbaren Kontinents von Neal Ascherson

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Auf der Weltkarte ist Eurasien eine riesige, zottige Landmasse, die irgendwo zwischen China und Wolga beginnt und sich bis zum Atlantik erstreckt, wobei sie nach Westen zu deutlich schmaler wird und in unregelmäßige, tentakelartige Halbinseln ausläuft. Der Umriss erinnert an eine Fischreuse: ein kegeliges Korbgebilde, geflochten von einer Frau, die in der Steinzeit an der Donau oder im 19. Jahrhundert auf den Orkney-Inseln gelebt hat. An der richtigen Stelle eingesetzt, füllt sich die Reuse mit glitzernden, zappelnden Fischen, die der nachdrängende Schwarm gegen das Gittergeflecht presst.

Wann die ersten großen Wanderungsbewegungen – von Asien nach Westen über die Wolga und die pontische Steppe bis weit in die sich verengende europäische Halbinsel hinein – eingesetzt haben, wissen wir nicht genau – wahrscheinlich irgendwann im zweiten vorchristlichen Jahrtausend. Die ersten schriftlichen Zeugnisse von Migrationsströmen stammen aus einer viel späteren Zeit, als Hirtennomaden aus dem indoiranischen und später aus dem turkomongolischen Kulturkreis in die Schwarzmeerregion und bis in die östlichen Randgebiete des Römischen und Byzantinischen Reichs vordrangen. In den darauffolgenden gut tausend Jahren zwängten sich Nomaden oder Vertriebene sesshafter Kulturen immer enger in dieser Reuse zusammen, bedrängt und geschoben von landhungrigen Völkern.

Vielleicht ist der Gedanke nicht ganz abwegig, dass der extreme Druck auf die Gesellschaften, die in den äußersten Westen Europas hineingepresst wurden, zur Herausbildung bestimmter „europäischer“ Reaktionsmuster beigetragen haben könnte – die Fixierung auf Veränderungen etwa oder die psychopathischen Schübe, die immer wieder zerstörerische Kräfte freigesetzt haben.

Aber wahrscheinlich ist das zu weit hergeholt. Und dennoch: Die lange Vorgeschichte permanenter Völkerwanderungen hat viele Spuren hinterlassen. Im Westen bewirkte der schiere Druck einer wachsenden Bevölkerung – bei knappen Ressourcen, vor allem an urbarem Land –, dass die einzelnen Gemeinschaften entweder verschmolzen oder als gute Nachbarn miteinander lebten.

Die alte „kulturhistorisch“ geeichte Archäologie war darauf versessen, vermeintlich eigenständige ethnische Gruppen anhand ihrer kulturellen Artefakte zu unterscheiden. Heute wissen wir, dass von separaten Ethnien keine Rede sein kann. Ich erinnere mich noch gut an die Verärgerung deutscher Archäologen, als sie bei Ausgrabungen in der Nähe von Berlin entdecken mussten, dass slawische und germanische Siedler einst zusammengelebt und mit den gleichen ärmlichen Gerätschaften hantiert haben. Der Druck in der demografischen Fischreuse zwang die nachrückenden Gruppen – die weder vor noch zurück konnten – zu Anpassung, Vermischung und schließlich Verschmelzung.

Ganz anders im Osten, wo die Räume sich weiteten und der Bevölkerungsdruck abnahm. Hier trifft man noch heute auf Siedlungsmuster, die durch ethnische Separierung gekennzeichnet sind. Zum Beispiel im südlichen Russland: hier ein Kosakendorf, daneben ein armenisches Dorf, dann eine Kleinstadt, die vor dem Holocaust ein jüdisches Schtetl war. Dann wieder ein Dorf, in dem die Bauern noch heute dasselbe altertümliche Schwäbisch sprechen wie ihre von Katharina der Großen ins Land geholten Vorfahren. Oder eine Siedlung von Pontosgriechen, die nach 1945 aus ihren Verbannungsorten in Kasachstan zurückgekehrt sind.1

Die verschiedenen Gemeinschaften treiben untereinander Handel – die Armenier mit Gemüse, die Kosaken mit Wodka –, pflegen aber auch ihre gegenseitigen Vorurteile. Diese Landschaft ist kaum zu verstehen, wenn man nur die westlichen Nationalstaaten samt ihren Zwangsvorstellungen über ethnische Homogenität und nationalen Zusammenhalt im Kopf hat. Aber auch dieser Pointillismus gehört zu Europa.

Eigentlich ist das geografische Gebilde Europa ein Unding – ein Viereck mit klaren Grenzen nur nach drei Seiten: Mittelmeer, Atlantik und Arktischer Ozean. Und im Osten? Europa vom Atlantik bis … ja, bis wohin? Konrad Adenauer, der in der Weimarer Zeit als Kölner Oberbürgermeister regelmäßig zu Sitzungen des Preußischen Staatsrats nach Berlin fahren musste, soll sich jedes Mal, wenn er im Zug über die Elbebrücke rumpelte, über den Anblick der „asiatischen Steppe“ beklagt haben. Charles de Gaulle dagegen bestand immer darauf, dass Europa bis zum Ural reiche.

Die Neigung, dem jeweils östlichen Nachbarn die europäische Identität abzusprechen, begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Es war eine Spielart des modernen Nationalismus, die am Ende die fast schon komische Gestalt des „Bollwerkismus“ annahm. Die Franzosen im äußersten Westen erklärten sich zu Verteidigern der christlichen Zivilisation gegen die barbarischen Waldmenschen jenseits des Rheins. Später sahen sich dann auch die Germanen als Verteidiger der europäischen Kulturfront gegen die primitiven kulturlosen Slawen und speziell die dreckigen, durchtriebenen Polen. Die wiederum kultivierten ihre Berufung als vorgeschobene Bastion des katholischen Christentums und der Zivilisation gegen die brutalen asiatischen Horden der orthodoxen Zaren und später der bolschewistischen Atheisten. Und so ging es weiter: Eine der Säulen des russischen Nationalismus war und ist die Selbstdarstellung als Bollwerk, das Europa vor dem Ansturm der asiatischen Horden, also der Mongolen oder Chinesen schützt.

Stets kommen die Fremdlinge aus dem Osten. Sie wollen, was wir haben. Sie sind das Andere. In der Frühzeit der Westwanderung entstand die Abwehrhaltung gegen das Andere in der Regel dann, wenn nomadische Viehzüchter auf sesshafte Bauern trafen. Die Aversion sesshafter Gemeinschaften gegen Gruppen oder Individuen, die sich ständig von hier nach dort bewegen, ist in Europa bis heute tief verwurzelt.

Die ersten Begegnungen zwischen den Einwohnern der griechischen Pflanzstädte an der Nordküste des Schwarzen Meers und skythischen Nomaden fallen ins siebte oder sechste vorchristliche Jahrhundert. Wie uns Herodot berichtet, empfanden die Griechen die kulturelle Differenz zunächst zwar als irritierend und ungewöhnlich, leiteten daraus aber kein Werturteil ab. Die Dämonisierung nichtgriechischer Völker begann erst im Lauf der Perserkriege. Jetzt schrieben ihnen die Athener Dichter in ihren Theaterstücken böse Eigenschaften und Laster zu: Feigheit, Zügellosigkeit, exzessives Wohlleben, Verrat – mithin das genaue Gegenteil angeblich griechischer Tugenden wie Mut, Mäßigung, bescheidene Lebensführung, Aufrichtigkeit. Es war der Beginn des ewigen Diskurses über den Gegensatz zwischen Zivilisation und Barbarei, in dem noch immer die Konfrontation zwischen „ehrlichen“ Bauern und dem „wurzellosen“ fahrenden Volk aufscheint, die wir bis heute, zumindest in Nordeuropa, beobachten.

Mit den „psychopathischen Schüben“ und der „zerstörerischen Kraft“ habe ich übrigens nicht die Gewalteruptionen der großen Kriege des 20. Jahrhunderts gemeint. Mich interessiert viel mehr die in Westeuropa ausgeprägte Neigung zu dem, was das Wort furia ausdrückt: eine wüste Lust an mörderischen Gewalttaten, die Einzelne oder kleine Gruppen mit übermenschlich anmutenden Kräften begehen. Der Held einer gälischen Legende aus Ulster (Nordirland) ist ein Krieger, der auf seinem Streitwagen zu doppelter Größe anwächst, während sein Kopf um die Körperachse rotiert und seine Augen rundum flammende Blitze schleudern. Eine Figur, bei der uns unwillkürlich das Wort „Berserker“ einfällt. Furia im Sinne vernichtender Aggression und extremer Grausamkeit haben die Europäer bei ihren frühen Expeditionen in vielen anderen Weltregionen praktiziert. Die Kreuzzüge kann man als letzte „Invasion von Barbaren“ sehen, jetzt allerdings mit Stoßrichtung nach Südosten über den Balkan in die Levante. Lange bevor der politische Begriff „Europa“ offiziell an die Stelle des Worts „Christenheit“ trat, haben die Kreuzritter ihre überlegenen Feinde immer wieder mit einer blinden, ja tollwütigen Brutalität überwältigt, die ihrer Berufung auf das „Lamm Gottes“ Hohn sprach.

Ein extremer Fall von furia war das Vorgehen von Vasco da Gama und seiner Bande, als sie 1502 zum zweiten Mal den indischen Subkontinent heimsuchten. Der lokale Hindu-Herrscher von Kalikut, dessen militärische Kräfte den Portugiesen weit überlegen waren, hatte die Fremden bei ihrer ersten Ankunft 1498 noch willkommen geheißen. Bei seiner Rückkehr im Oktober 1502 ließ Vasco da Gama, um den Herrscher und auch die muslimische Bevölkerung einzuschüchtern, ein Pilgerschiff in Brand setzen. Die 380 Passagiere wurden unter Deck eingesperrt, wo sie elend verbrannten. Kurze Zeit später wurden 38 Fischer an den Masten der portugiesischen Schiffe aufgeknüpft und ihre Leichen anschließend zerstückelt. Derartige Brutalitäten hatten die Menschen in Kalikut zuvor weder erlebt noch sich vorstellen können. Aber sie brachten die Portugiesen ihrem Ziel näher: der Kontrolle über die Malabar-Küste.2

Dank Vasco da Gama machte der freundliche Herrscher Bekanntschaft mit einer neuen europäischen Waffe – der Kanone. Nachdem die Europäer ihre militärtechnische Überlegenheit dann ausgebaut hatten, konnten sie auf die furia mehr und mehr verzichten. Die ungehemmte Aggressivität gehörte zu der Epoche, in der die einheimischen Armeen den Eroberern fast ebenbürtig waren (Speere oder Pfeil und Bogen gegen Schwerter und unzuverlässige Luntengewehre). Spätestens als die Europäer das Maschinengewehr erfunden hatten, brauchten sie nicht mehr wie Berserker aufzutreten.

Das alles soll nicht heißen, dass die Europäer ein Monopol auf Massenmorde und scheußliche Grausamkeiten hatten. Ein Blick auf die Geschichte der Azteken und der Mayas oder auf das Königreich Buganda (im heutigen Uganda) zu Beginn des 20. Jahrhunderts3 wird uns eines Besseren belehren. Und doch haben die Europäer seit dem frühen Mittelalter offenbar eine sehr spezielle Form von „shock and awe“ entwickelt: der wilde, überfallartige Angriff, der den Kampfeswillen des Gegners brechen soll. Man denke etwa an die „Hunnenrede“, die Kaiser Wilhelm II. vor dem deutschen Expeditionskorps hielt, das 1900 zur Niederschlagung des Boxeraufstands nach China entsandt wurde, um „der Kultur den Weg ein für allemal“ zu ebnen („Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht“).

Eine derart eingeschüchterte Welt nahm den Europäern alles ab, was die im Angebot hatten: schottische Dampfschiffe, deutsche Geschütze, Baumwollkleidung aus Lille oder Manchester, französische Elektrogeräte, Cognac, Whisky und katholische Missionare. Das alles ist bekannt. Doch die Europäer exportierten nicht nur Waren und Siedler, sondern auch Institutionen, und die waren schlicht und einfach ungeeignet. Um mit dem Zug den Sambesi-Fluss überqueren zu können, muss man eine Eisenbahnbrücke bauen – das ist eine vernünftige Lösung. Aber wozu in Uganda ein Mädcheninternat gründen? Oder im südlichen Afrika Grenzzäune durch die Savannen ziehen, in denen Herden und Hirtenvölker ständig umherwandern? Oder im Kongo einen losen Verbund verwandter Völker zu einem einzigen „Stamm“ mit einem „Häuptling“ homogenisieren und den Schulen einen von vielen Dialekten als exklusive Schriftsprache aufdrücken? Hier sehen wir das Paradox, dass sich vagabundierende Lösungen ihre willfährigen Probleme suchen.

Ähnliches gilt für einen anderen europäischen Export: Auch der Kommunismus hat sich stets als ein Rezept erwiesen, das mit den lokalen Bedürfnissen schwerlich zu vereinbaren war. Und der Faschismus – auch so eine europäische Erfindung – wurde auf anderen Kontinenten zwar ab und zu nachgeäfft, fand aber im Grunde außerhalb von Europa keinen Absatzmarkt.

Lange bevor Europa seine problematischen Lösungen zu exportieren begann, gab es schon einen inneren Markt für politische Modelle, die den Kontinent sicherer und stabiler machen sollten. Die konnten sich aber nur durchsetzen, wenn die Europäer ihre Reiche, Fürstentümer und Stadtstaaten als Teil einer größeren politischen Einheit sahen. Manchmal war diese Einheit nur ein Hirngespinst, wie etwa die Vorstellung, das im Nebel der Geschichte versunkene Römische Reich sei nur in Tiefschlaf verfallen und könne irgendwann zu neuem Leben erwachen. Zuweilen knüpfte die Einheitsidee auch an die universale (katholische) Institution der mittelalterlichen Kirche an.

Als politischer Begriff kam Europa nur selten vor. Das änderte sich im 16. und 17. Jahrhundert, als die humanistischen Denker der Renaissance und der Reformation begannen, den Kontinent unabhängig vom kirchlichen Dogma, also weltlich zu definieren. Im Prager Strahov-Kloster gibt es eine Karte aus dem 16. Jahrhundert, auf der Europa als eine Frauenfigur dargestellt ist, mit Spanien als Gehirn und Böhmen als Herz. Diese Darstellung bezeugt, dass die Idee der europäischen Einheit und der wechselseitigen Abhängigkeit der christlichen Nationen Europas schon damals im Schwange war.

Gibt es eine Periode, in der Europa seine „wahre“ Gestalt gefunden hat, seiner Selbstverwirklichung am nächsten gekommen ist? Ein stramm katholischer Historiker würde vielleicht eine Antwort wagen. Aber für die meisten Europäer dürfte die Frage so ironisch klingen wie der Titel eines Buchs von Gwyn Alf Williams: „When Was Wales?“

Wann immer irgendwelche Europa-Enthusiasten einem „Goldenen Zeitalter“ nachtrauerten, nach dem es dann nur noch abwärts ging, ist nach den aktuellen politischen Bedürfnissen zu fragen, die derartige Wahnvorstellungen auslösen. Die sind übrigens gar nicht so selten, schon gar nicht unter Archäologen. So wollte uns eine Ausstellung zur Euroeinführung bereits die Bronzezeit als Vorläuferperiode einer Europäischen Union andienen: Schon damals habe es einen gemeinsamen Markt gegeben, ohne Grenzen und mit regem Handelsaustausch zwischen Ostsee und Mittelmeer, mit Bernstein, Gold, Pelzen und Keramik. Und die Kelten-Ausstellung von 1991 in Venedig stellte besonders die La-Tène-Kultur heraus und erzeugte damit den Eindruck, dank der Kelten sei Europa bereits in der Eisenzeit politisch, kulturell und sprachlich geeint gewesen.

Das ist nahezu kompletter Unsinn. Mittlerweile ist der Mythos vom „keltischen Europa“ zwar ziemlich demoliert, aber er hat noch, wie so mancher süße Mythos, eine erstaunliche politische Karriere gemacht. Auf der Swet Knihy, der Prager Buchmesse, hatte ich vor ein paar Jahren eine erstaunliche Begegnung mit der grassierenden Keltomanie: Am Stand der schottischen und walisischen Autoren drängten sich Gruppen junger Tschechen mit Kilts und aufgeschminkten Braveheart-Gesichtern. Da gab es Maler, die uns ihre Porträts des irischen Heldengottes Lugh zeigten und zum keltischen Mitsommernachtfest Beltane einluden, das bei einem nahe gelegenen Steingrab stattfinden sollte. Mit großem Ernst erklärten sie uns, dass die Tschechen nie Slawen gewesen seien; ihre Sprache sei ihnen im ersten Jahrtausend von marodierenden Kriegerhorden aufgezwungen worden. In Wirklichkeit seien sie ethnische Kelten. In römischen Quellen finde man unter den keltischen Stämmen Zentraleuropas bereits die Boii (Böhmen). Jetzt sei es an der Zeit, sich auf diese keltischen Wurzeln zu besinnen. Auf der Messe gab es auch ganze Regale mit den Dark-Age-Schinken von Anna Bauerová, deren erotisch-heroische Romane stets am Hof keltischer Boii-Könige spielen.4 Die Karten für Bauerovás Lesungen waren ausverkauft.

Im 19. Jahrhundert waren die tschechischen Nationalisten noch glühende Slawophile gewesen, die ihre Sprache vor der drohenden Germanisierung bewahren wollten. Sie alle hatten Russland als ihre große kulturelle Schutzmacht betrachtet. Und viele Tschechen glaubten noch lange nach dem Münchner Abkommen, die Sowjetunion hätte sie gerettet, wenn Briten und Franzosen nicht 1938 vor Hitler eingeknickt wären.

Das alles endete im August 1968 mit der sowjetischen Invasion. Nach 1968 fiel den Tschechen wieder ein, dass Böhmen einst „das Herz Europas“ war, und sie blickten mit neuer Begeisterung nach Westen. Das Europa, nach dem sie sich jetzt sehnten und dem sie angehören wollten, war reich und frei. Frei auch von jedem Bezug zum Slawentum, das sie dem elenden Despotismus des Ostens einverleibt hatte. Das imaginäre Keltentum hatte sich die ganze Zeit über in irgendwelchen Winkeln versteckt gehalten. Und ein Teil der tschechischen Intellektuellen sah nach der Samtenen Revolution von 1989 die neue Freiheit als eine Chance, diese Fantasien zu beflügeln. Ein richtiger Europäer musste keltisch sein, nicht slawisch. Da bot sich eine identitätspolitische Migration an, wie wir sie beim Einsiedlerkrebs am Strand beobachten können, wenn er sein altes Muschelgehäuse aufgibt, nachdem er ein neues komfortableres Zuhause entdeckt hat.

Wie weit diese Entwicklung gehen wird, weiß kein Mensch, aber wahrscheinlich nicht viel weiter. Und doch ist die Idee, dass Menschen freiwillig ihre ethnische Identität wechseln können, sehr europäisch. Und sehr ermutigend. Schon immer sind die Bewohner von Grenzregionen mit ihrer Identität recht flexibel umgegangen – je nachdem, wer in welcher Uniform an die Tür hämmerte. Wenn man Dorfbewohner in den großen Waldgebieten an der polnisch-weißrussischen Grenze auffordert, ihre Nationalität zu bekennen, sagen sie gewöhnlich: „Jestesmy tutejszy.“ „Wir sind Hiesige.“ Eine noch bessere Antwort wäre die Gegenfrage: „Wer will das wissen?“

Fußnoten: 1 Griechen vom Schwarzen Meer (gr.: Pontos) waren vor allem unter Katharina der Großen im südlichen Russland angesiedelt worden. Nachdem man viele von ihnen schon 1941 als „feindliche Nationalität“ deportiert hatte, wurden sie nach der Befreiung 1944 (wie auch die Krimtartaren) nach Kasachstan umgesiedelt. 2 Der Landstrich wurde auch Pfefferküste genannt. Die Portugiesen wollten damals den arabischen Händlern das Monopol des Gewürzhandels streitig machen. 3 Der erste genaue Bericht über das einstige Königreich Buganda stammt von dem anglikanischen Missionar John Roscoe und ist 1911 unter dem Titel „The Baganda“ erschienen. 4 Die Bücher von Anna Bauerová tragen Titel wie „Die Rückkehr zum Berg des goldenen Pferdes“ (Kiepenheuer, Leipzig/Weimar 1985) oder „Der Tod und sieben stumme Zeugen“ (auf Deutsch im DDR-Jugendbuchverlag Neues Leben 1987 erschienen). Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Neal Ascherson ist Journalist und Autor. ©London Review of Books, für die deutsche Übersetzung“ Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.08.2012, von Neal Ascherson