12.08.2005

Muss man Religiosität respektieren?

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Muss man Religiosität respektieren?

Über Glaubensfragen und den Stolz einer säkularen Gesellschaft von Jan Philipp Reemtsma

Wo der Mensch sich nicht relativieren oder eingrenzen lässt, dort verfehlt er sich immer am Leben: zuerst Herodes, der die Kinder von Bethlehem umbringen lässt, dann unter anderem Hitler und Stalin, die Millionen Menschen vernichten ließen, und heute, in unserer Zeit, werden ungeborene Kinder millionenfach umgebracht.“ So der Kölner Kardinal Joachim Meisner in einer Predigt. Der Satz erregte Aufsehen. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, sprach von einer Beleidigung von Millionen von Holocaust-Opfern und von Frauen, die sich in einer Notlage entscheiden müssten. Der Kardinal sagte daraufhin, er sei missverstanden worden, und ließ bei der Drucklegung seiner Predigt den Namen Hitler weg.

Für einen gläubigen Katholiken beginnt das menschliche Leben mit der Empfängnis. Für ihn gibt es hinsichtlich der Verwerflichkeit des Tuns keinen Unterschied zwischen der Tötung eines Embryos, eines Kindes oder eines Erwachsenen. Wo hundertfach, tausendfach, millionenfach abgetrieben wird, wird dieser Auffassung nach Massenmord begangen, und es gibt überhaupt keinen Grund, diesen Massenmord nicht mit einem anderen Massenmord in der Geschichte zu vergleichen, auch mit dem Holocaust. So ist für einen gläubigen Katholiken an dem Satz des Kardinals gar nichts skandalös. Er hat nur seinen religiösen Überzeugungen Ausdruck verliehen, so, wie es seines Amtes ist. Man kann natürlich seine religiösen Überzeugungen skandalös finden. Aber was dann? Eine säkulare Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Religion zwar im privaten wie im öffentlichen Raum gelebt werden kann, dass der öffentliche Raum aber durch keine Religion bestimmt wird. Auch wo Religion öffentlich stattfindet, ist sie Privatsache. In einer säkularen Gesellschaft findet Religion in der Öffentlichkeit statt, weil sie Privatsache ist und weil in einer säkularen Gesellschaft vielerlei private Ansichten in der Gestaltung des öffentlichen Raumes eine Rolle spielen können.

Was verstehe ich unter Religiosität? Ich brauche natürlich einen weiten Begriff, der nicht nur Christen, Juden und Muslime, sondern auch Zeugen Jehovas und Animisten einschließt oder jedenfalls nicht von vornherein ausschließt. Religiosität besteht in der Überzeugung, dass die Welt nicht aus sich heraus verstanden werden kann. Natürlich sind auch die meisten Nichtreligiösen der Ansicht, dass mehr zwischen Himmel und Erde ist, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Aber das hat mit Religiosität nichts zu tun. Religiös ist auch nicht derjenige, der meint, neben den uns bekannten Naturkräften gäbe es noch andere (etwa die in homöopathischen Arzneien wirksamen), und religiös ist auch nicht derjenige, der meint, es gebe Geister, Telepathie, Telekinese und was nicht alles.

Die Zweiteilung der Welt in das Zugängliche und das Transzendente

Religiös ist derjenige, der meint, was immer wir auf diesem oder jenem Wege noch über die Welt herausbekommen können: Das, was die Welt im Innersten zusammenhält, das Geheimnis der Welt, ihr Sinn – also irgendwie das Eigentliche –, wird es nicht sein. Und auf dies Eigentliche kommt es an. Denn wer sagt, die Wissenschaften könnten auf alle diese Fragen keine Antwort geben, aber er empfinde das auch keineswegs als Mangel, ist deutlich nicht religiös. Religiös ist derjenige, der die Welt aufteilt in das, was unserem Wissenwollen zugänglich und gerade darum nicht das Wesentliche ist, und das andere, Wesentliche, zu dem es einen anderen Zugang geben muss.

Ein Religiöser kann darum nicht durch einen Nichtreligiösen eines diesbezüglichen Irrtums überführt werden: Virchow hat bei seinen Sektionen keine Seele gefunden, aber das war, sagt der Religiöse, nicht nur nicht zu erwarten, sondern ganz unmöglich, und keine Raumsonde wird jemals die Nichtexistenz Gottes und kein chemisches Experiment wird das Nichtvorhandensein des Dao zeigen können. Umgekehrt ist einer, der durch irgendein Ritual seinen Gott zu beweisen unternimmt, nicht religiös. Er kann, wie der verstorbene Papst, der meinte, die Mutter seines Gottes habe eigenhändig die für ihn bestimmte Kugel des Attentäters abgelenkt, irgendein Ereignis als Beleg für das Vorhandensein transzendentaler Mächte nehmen, aber mehr auch nicht.

Religiös ist also nicht, wer meint, mehr und anderes über die Welt zu wissen als viele andere, sondern derjenige, der überzeugt ist, dass in letzter Instanz solches Wissen die Welt in ihrer Gesamtheit – oder in ihrem Kern oder ihrem Sinn – nicht erfassen kann. Dass es aber auf dieses Erfassen ankommt und es auch in gewissem Sinne möglich ist, wenn auch nur über einen bestimmten Zugang, dessen wesentlicher Bestandteil die Empfindung dieser Zweiteilung ist. In dieser Empfindung treffen sich die Religionen – in der Art und Weise, wie sie mit dieser Empfindung in Ritualen, Überzeugungen, Lehren, Schriften, sozialem Verhalten umgehen, unterscheiden sie sich. Religiosität bedeutet die Überzeugung, über einen privilegierten Zugang zu einer nur in diesem Zugang als einheitlich zu verstehenden Welt – sagen wir: zur Wahrheit – zu verfügen.

Die Öffentlichkeit einer säkularen Gesellschaft kennt die Vorstellung eines solchen privilegierten Zugangs zur Wahrheit nicht. Die säkulare Gesellschaft ist keine profane Theokratie: Die „wissenschaftliche Weltanschauung“ tritt in ihr nicht an die Stelle einer Religion, auch wird der Religiöse aufgrund seiner Ansichten von sich selbst, seiner Idee, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben, nicht für wahnsinnig gehalten oder sonst wie diskriminiert. Aber das erfolgt nicht deshalb, weil Religiosität es sozusagen verdiene, dass man so mit ihr umgeht. Es erfolgt deshalb, weil eine säkulare Gesellschaft eine säkulare Gesellschaft ist. Sie gäbe sich selbst auf, wenn sie eine besondere nichtreligiöse Weltanschauung auszeichnete und ihr das Deutungsmonopol übertrüge, denn dieses bekäme durch eine solche Rolle selber religiöse Züge. In einer säkularen Gesellschaft – nur darum geht es – ist der Zugang eines Bürgers zur Öffentlichkeit nur durch seinen Status als Bürger definiert und nicht dadurch, was er denkt.

Die falsche These vom Sinndefizit einer säkularen Gesellschaft

Damit kümmert sich eine säkulare Gesellschaft um genau das nicht, was einem religiösen Menschen – wenn er es ernst meint – das Wichtigste sein muss. Für einen religiösen Menschen ist eine säkulare Gesellschaft eine Gesellschaft des Irrtums. Diese Ansicht teilt die Geistlichkeit Teherans mit der (orthodoxen) Geistlichkeit Jerusalems und der Geistlichkeit Roms. Diese säkulare Gesellschaft zu bekämpfen ist ein klares Ziel islamistischer Gruppen überall in der Welt, sie in Israel zu bekämpfen ist Ziel eines Teils des dortigen politischen Spektrums, und sie weltweit zu bekämpfen war das erklärte Ziel des vor kurzem verstorbenen Papstes Johannes Paul II.

Ich sage nicht: Sie zu bekämpfen ist das Ziel jedes religiös empfindenden Menschen. Festgehalten werden muss aber doch, dass eine gewisse Spannung besteht zwischen einer Gesellschaft, zu deren Öffentlichkeitsverfassung gehört, dass es keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit gibt, und Menschen, deren Leben von der Vorstellung erfüllt ist, es gebe dergleichen und sie seien im Besitz dieses Zugangs.

Das Problem des Respekts liegt in dem Umstand begründet, dass viele – vor allem Religiöse – der Ansicht sind, die säkulare Gesellschaft brauche das religiöse Element, weil nur darin etwas zu finden sei, was jede Gesellschaft dringend nötig habe, die säkulare Gesellschaft aber aus sich heraus nicht produzieren könne. Auf Nachfrage, was das sei, bekommt man zu hören: „Sinn“ oder „verbindliche Werte“ oder „Orientierung“. Ich weise darauf hin, dass hier etwas wiederkehrt, was mit der Grundstruktur von Religiosität zu tun hat – um es mit dem Titel eines James-Bond-Films zu sagen: Die Welt ist nicht genug.

Wenn es zuträfe, dass die säkulare Gesellschaft ohne Religiosität in ihr nicht wirklich lebensfähig wäre, folgte daraus, dass der Religiosität tatsächlich Respekt entgegengebracht werden müsste, denn man sollte nicht das missachten, worauf man angewiesen ist. Man kann meinen, dass, wer einen Gott brauche, eben sehen müsse, wo er einen herbekomme, und das sei ausschließlich seine Sache. Oder aber man kann meinen, dass Menschen nicht gut leben könnten ohne transzendentale Orientierungen und es eine Gemeinschaftsaufgabe sei, eine Kultur zu pflegen, in der solche Orientierungen geboten werden. Nur in letzterem Falle kann man sinnvollerweise davon sprechen, dass Religiosität respektiert werden müsse.

Meiner Meinung nach gibt es drei Möglichkeiten, die These vom Sinndefizit säkularer Gesellschaften zu verstehen. Der erste Sinn, den man der These zuweilen gibt, ist der eines Ursprungsproblems. Bestimmte für säkulare Gesellschaften wichtige Begriffe, Normen und Werte seien religiösen Ursprungs – wir zehrten gleichsam von diesem religiösen Grund, auf dem Vorstellungen wie etwa die von der Gleichheit der Menschen – vorher: vor Gott, später: vor dem Gesetz – gewachsen seien. Dieser Gedanke führt nicht weit, denn Ideen sind nicht ihren Entstehungskontexten verpflichtet, sie entstehen in unterschiedlichen Kontexten immer wieder, und ob die Idee der bürgerlichen Gleichheit vor dem Gesetz tatsächlich die säkularisierte Version der christlichen Idee der Gleichheit aller Menschen vor Gott ist, darf auch in Frage gestellt werden.

Der zweite Sinn, den man der These vom Sinndefizit geben kann, ist der, dass in einer säkularen Gesellschaft eben keine verbindlichen Sinnangebote gemacht werden, Menschen aber solche brauchten. Nun ist der erste Teil dieser Interpretation die Definition von „säkularer Gesellschaft“ und heißt, kombiniert mit dem zweiten, nichts weiter als: Menschen sind für säkulare Gesellschaften nicht geschaffen. Das ist, wie der historische Erfolg des Modells der säkularen Gesellschaft zeigt, falsch. Der dritte Sinn der These könnte eine Variante dieser Fassung sein. Er wäre nicht normativ-anthropologisch, sondern empirisch. Viele Menschen haben das Bedürfnis nach vorgegebenen Sinnorientierungen und sind mit der Wirklichkeit einer Gesellschaft, die sagt: „Wenn du Derartiges brauchst, haben wir’s im Angebot, such dir’s aus!“, überfordert.

Es stimmt, dass es viele Menschen gibt, die sich von der Moderne überfordert fühlen, die eine Gesellschaft funktionaler Differenzierung mit Rollenpluralismus, unklarer Wertehierarchie, rollenabhängigen Inklusionsmodi etc. zu sehr anstrengt und die deshalb danach streben, ihre Weltsicht drastisch zu vereinfachen. Im Extremfall werden sie Mitglied einer Bande, die klar zwischen Gut und Böse unterscheidet, sich zum Guten in der Welt erklärt und dem Rest der Welt den Krieg erklärt – die Banden heißen dann al-Qaida, Rote Armee Fraktion, Manson Family oder Aum. Es geht auch weniger militant bis hinunter zu milderen Formen weltanschaulicher Paranoia à la Michael Moore. Oder sie wenden sich ebenjenen Angeboten kollektiver Sinnstiftung zu, die die traditionellen Religionen oder die modernen Kulte anzubieten haben.

Dass Menschen dies tun können und dürfen (insofern sie nicht, wenn sie etwa für den Terrorismus optieren, gegen Gesetze verstoßen), garantiert ihnen die säkulare Öffentlichkeit. Diese stellt im Gegensatz zu theokratisch verfassten Gesellschaften sicher, dass das Angebot an Lebenssinn so vielfältig ist wie die Bedürfnisse danach vielgestaltig. Die Vorstellung, die säkulare Gesellschaft bedürfe der Kompensation ihrer Sinndefizite durch Religiosität, ist einfach eine falsche Beschreibung der Sachlage. Nur in der theokratisch verfassten Gesellschaft wird Sinn verordnet – und nur dieser Verordnung mangelt es der säkularen Gesellschaft. Aber dieser Mangel ist ihre Würde. Und es ist dieser Mangel, der verbürgt, dass jeder glauben kann, was er will – und dass er auch keinen Glauben heucheln muss, wenn er an gar nichts glaubt.

Der Respekt, den die säkulare Gesellschaft dem Religiösen entgegenbringt, ist derselbe, den sie dem Nichtreligiösen entgegenbringt. Es ist der Respekt vor seinem Privatleben. Er besteht in der berühmten Maxime Friedrichs II. von Preußen, es möge jeder nach seiner eigenen Fasson selig werden, oder der von Thomas Jefferson, dass es ihn nichts angehe, ob sein Nachbar an einen, zwei oder gar keinen Gott glaube – das tue ihm nicht weh und mache ihn nicht ärmer.

Was in dieser Weise aus der Perspektive dessen, der die säkulare Gesellschaft nicht nur hinnimmt, sondern für ein Ideal hält, als selbstverständlicher Respekt gilt, ist für den Religiösen eine Demonstration der Unempfindlichkeit dem gegenüber, worauf es eigentlich ankommt. „Du kannst glauben, was du willst“ – dieser liberale Grundsatz erscheint ihm als bloße Gleichgültigkeit – und: eine Verkennung. Wer glaubt, glaubt nicht, dass er glaubt, weil er es sich ausgesucht hat, dies und nicht das zu glauben. Der Akt der Wahl, als der die Entscheidung für einen Glauben dem Nichtreligiösen erscheint, wird vom Religiösen als Vernehmen einer Offenbarung, als Erleuchtung, als tiefere Einsicht gedeutet: nicht als etwas Beliebiges, sondern als etwas zutiefst Notwendiges.

Der neue Papst hat es als Kardinal pointiert so formuliert: „Sinn, der selbst gemacht ist, ist im letzten kein Sinn.“1 Benedikt XVI. hat mit großer Verve gegen die theologische Beliebigkeit in der Religion geschrieben. Glaube, wie er ihn versteht, ist nicht etwas aus dem großen Supermarkt der Sinnangebote. Seine Religion hat es mit der Wahrheit zu tun, und die Vorstellung, dass Wahrheit mit der Zeit zu gehen habe, um sich den Vorlieben der Leute anzupassen, hat für ihn etwas zutiefst Absurdes. Und ich muss zugeben: Wenn jemand der Überzeugung ist, eine bestimmte Sexualethik sei aus Einsicht in den Willen Gottes gewonnen, ist der Hinweis, dass man sich bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit Aids infizieren kann, für ihn kein Einwand.

Die notwendige Achtung vor dem, was anderen heilig ist

Benedikt XVI. verlangt mit deutlichen Worten Respekt vor dem Glauben, für den er steht, auch in einer Gesellschaft, die seine Grundüberzeugungen mehrheitlich nicht teilt. Er spricht von der notwendigen „Achtung vor dem, was dem anderen heilig ist“, und nennt sie einen „für alle Kulturen wesentlichen Aspekt“2 . Da sind der Papst resp. der Kardinal, der er noch war, als er das geschrieben hat, und ich uns einig – wie sagte er zu Jürgen Habermas?: jedenfalls „im Operativen“.

Es lohnt sich, die Textstelle weiterzulesen: „[…] insbesondere die Achtung vor dem, was im höheren Sinne heilig ist, die Achtung bzw. Ehrfurcht vor Gott, etwas, das man auch bei Menschen findet, die nicht an Gott glauben. In einer Gesellschaft, in der diese Achtung verletzt wird, geht etwas Wesentliches verloren.“3 Dass der Theologe meine Bereitschaft, seine Religiosität zu achten, als Hinweis auf meine Disposition zum Glauben versteht, versteht sich. Auf dieses Verständnis aber gründet er, der Theologe, seine Achtung, die er dem entgegenbringt, was mir in meinem Leben von Bedeutung erscheint, von dem ich allerdings nicht sagen würde, dass es mir „heilig“ sei. Dort, wo ihm dieses nicht von Glauben in unentwickeltem Stand zeugt, sondern nur von beliebigen Idiosynkrasien, ist allenfalls Achtung minderen Grades angebracht. Nun steckt darin ein Differenzierungbemühen, dem man sich kaum verschließen kann: Nicht jeder Unfug, nur weil einer ihn für wichtig hält, kann Achtung verlangen, wenn man unter Achtung mehr versteht, als ihn einfach machen zu lassen, sofern er keinen Schaden damit anrichtet.

Reden wir über Respekt. Es ist klar: Weder seine noch meine Bereitschaft zum Respekt ist unbedingt. Da sind wir uns einig. Ich achte Frömmigkeit, Religiosität, Theologie nicht bloß darum, weil sie vorhanden sind. Ich respektiere keine geistigen Gehalte, die für mich bedeutungslos sind oder die ich für Unfug halte – interessanten Unfug vielleicht, aber eben Unfug. Ich respektiere auch nicht, wenn sich jemand ohne Not das Leben schwer macht. Und doch spielen diese Faktoren eine Rolle beim Respekt.

Meinerseits ist dieser Respekt von der Ansicht geleitet, dass wir, um Christoph Martin Wieland zu zitieren, „nicht alle durch dasselbe Schlüsselloch in die Welt sehen können“ und das Leben schwer genug ist, als dass man es einfach leicht nehmen könnte. Getragen ist er von der Überzeugung, dass wir auf der Basis solchen wechselseitigen Respekts besser miteinander leben können als ohne ihn. Und damit kommt ein Moment der Reziprozität ins Spiel, das ganz entscheidend wird.

Tatsächlich kann ich vor Fanatikern keinen Respekt haben. Ich kann sie nicht achten wie eine Art ritterlichen Feind – man schlägt einander vielleicht tot, respektiert sich aber. Das mag in den Haushalt kriegerischer Tugenden gehören, in den ziviler gehört es nicht. Respekt erhält man für Respekt. Und damit wird klar, dass ich den Religiösen nicht für das respektiere, worauf es ihm ankommt. Ich empfinde keine Achtung vor dem, was ihm im höheren Sinne heilig ist, sondern vor ihm, zu dessen Lebensentwurf gehört, Empfindungen des Heiligen zu forcieren. Wenn er das im Rahmen bürgerlicher Dezenz tut.

Die Einhaltung der Regeln des Zusammenlebens vorausgesetzt, respektiere ich den Sinn, den jeder seinem Tun gibt. Ich respektiere die Art und Weise, in der er selbst seinem Leben Sinn geben will – er allerdings wird diesen Lebenssinn nicht als einen verstehen, den er selbst seinem Leben gegeben hat. Das sehen wir unterschiedlich, und wir dürfen vom anderen nicht verlangen, dass er unsere Sicht der Dinge übernimmt. Was ich aber verlangen darf, ist, dass der Religiöse sich so verhält, dass als Resultat seines Verhaltens dasselbe herauskommt wie bei meinem. Er wird sich etwas anderes denken dabei, er wird mich innerlich allenfalls darum respektieren, weil er in dem Teil von mir, den er respektiert, etwas zu erkennen meint, wovon ich nichts weiß. Er respektiert es darum, weil er darin das erkennen möchte, worum es ihm geht. Er respektiert mich als potenziellen Träger eines Glaubens, ich respektiere ihn als Mitbürger. Das ist wie Öl und Wasser. In einer säkularen Gesellschaft gibt – tendenziell wenigstens – das Denken, das ich hier „meines“ genannt habe, den Rahmen ab. In ihr kann man den von Benedikt XVI. definierten Respekt der Religiösen so verstehen, als bedeute er dasselbe. Man sollte das vielleicht um des lieben Friedens willen tun.

Eine liberale Abtreibungsgesetzgebung gehört nicht notwendigerweise zu einer säkularen Gesellschaft. Zu einer säkularen Gesellschaft gehört allerdings, dass der Spielraum der Gesetzgebung nicht durch Verpflichtung auf ein Glaubensbekenntnis eingeschränkt ist. Unsere Gesetzgebung und Rechtsprechung stellen unter bestimmten Voraussetzungen Abtreibungen straffrei, d. h. erlauben sie faktisch. Wer einer Religion angehört, zu deren Glaubenssätzen es gehört, dass das menschliche Leben nicht nur mit der so genannten Empfängnis beginnt, sondern ab diesem Zeitpunkt geborenem menschlichem Leben gleichgestellt werden muss, weil es von diesem Zeitpunkt an Träger einer unsterblichen Seele ist, für den ist solche Erlaubnis legalisierter Mord.

Wenn Kardinal Meisner solchen legalisierten millionenfachen Mord an ungeborenem Leben mit millionenfachem Mord an geborenem Leben gleichsetzt, folgt er seinen religiösen Überzeugungen. Er sagt nichts anderes als das, was Johannes Paul II. so formuliert hat: „Wenn der Mensch allein, ohne Gott, entscheiden kann, was gut und was böse ist, kann er auch verfügen, dass eine Gruppe von Menschen zu vernichten ist. Derartige Entscheidungen wurden z. B. im Dritten Reich gefällt. […] Vergleichbare Entscheidungen wurden in der Sowjetunion getroffen. […] Nach dem Sturz der Regime, die auf den Ideologien des Bösen aufgebaut waren, haben in ihren Ländern die eben erwähnten Formen der Vernichtung de facto aufgehört. Was jedoch fortdauert, ist die legale Vernichtung gezeugter, aber noch ungeborener menschlicher Wesen. Und diesmal handelt es sich um eine Vernichtung, die sogar von demokratisch gewählten Parlamenten beschlossen ist, in denen man sich auf den zivilen Fortschritt der Gesellschaften und der gesamten Menschheit beruft. […] Es ist zulässig und sogar geboten, sich zu fragen, ob nicht hier – vielleicht heimtückischer und verhohlener – wieder eine neue Ideologie des Bösen am Werk ist.“4 Ein konsequenter Katholik kann nicht nur, er muss so denken. Dass eine solche wertende Gleichsetzung von Holocaust und Abtreibungsgesetzgebung die Überlebenden der deutschen Vernichtungspolitik sowie Frauen, die sich zu einer Abtreibung entschlossen haben, zutiefst kränken kann, ist klar. Aber was ist zu tun? Wenn ich die Religionsfreiheit nicht abschaffen will, muss ich hinnehmen, dass es solche Ansichten gibt. Daraus lässt sich aber schwerlich herleiten, dass ich sie auch zu respektieren habe. Ich respektiere die Freiheit meines Mitmenschen, religiöse Überzeugungen zu haben, die ich zutiefst missbillige. Dass diese Freiheit das Potenzial birgt, Mitbürger zu kränken, muss – bis zu einem gewissen Grade – hingenommen werden.

Man muss sich aber klar machen, was für ein Urteil die zitierte Auffassung über unser Gemeinwesen fällt. Ich unterstelle weder dem verstorbenen noch dem gegenwärtigen Papst, dass er das Parlament der Bundesrepublik Deutschland und die Bundesregierung persönlich mit der nationalsozialistischen Führungsclique gleichsetzt. Aber die einen wie die anderen sind in ihren Augen Agenten einer heimtückischen Ideologie des Bösen, einer, wie es beide Päpste auch genannt haben, „Kultur des Todes“. Der Jargon, in dem der verstorbene Papst sein Urteil über die säkulare Gesellschaft abgab, unterscheidet sich in keiner Weise von fundamentalistischem Jargon anderswo, wo von den USA als dem „großen Satan“ gesprochen wird.

An einer anderen Stelle seines Buches spricht Johannes Paul II. von einer „andere(n) Form von Totalitarismus […], die sich heimtückisch verbirgt unter dem Anschein von Demokratie“5 , und meint damit die westlichen liberalen Demokratien: „Immer neu offenbaren sich die Zeichen einer Gesellschaft, die, wenn nicht programmatisch atheistisch, so doch mit Sicherheit positivistisch und agnostisch ist, da ihr Orientierungsprinzip darin besteht, so zu denken und zu handeln, als gäbe es Gott nicht. […] So zu leben, als ob Gott nicht existierte, bedeutet, außerhalb der Koordinaten von Gut und Böse zu leben.“6

In der Tat: Mit der Regelung, dass kein Priester, kein Papst, kein Imam, kein Rabbi, kein Inquisitor und kein Guru das Recht haben soll, festzulegen, wie die Gesetze aussehen sollen, nach denen eine Gesellschaft lebt, wie die Kunst beschaffen sein soll, an der Menschen Vergnügen haben, wie das Wissen beschaffen sein soll, das an den Schulen gelehrt wird, sagt die säkulare Gesellschaft, dass es ihre Bürger sind, die die Gesetze machen und sich untereinander darüber einigen, welchen Wertorientierungen diese folgen.

Johannes Paul II. sah in der Tradition der abendländischen Philosophie seit Descartes ein Denken gegen Gott – und das auch bei Denkern, die sich selbst für „gut christlich“ erklärt hätten. Jedes Denken, das nicht von Gott seinen Ausgangspunkt nehme, sei „Lästerung gegen den heiligen Geist“ und damit eine Sünde, die „nicht vergeben werden kann“.7 Mit einer Gesellschaft, die aber so verfasst ist, dass sie den Menschen und nicht Gott, also den Bürger und nicht den Priester, in den Mittelpunkt stellt, kann jemand, der solche Auffassungen hat, nicht in Frieden, sondern immer nur im Zustande eines Waffenstillstands auf Zeit leben.

Nun sagen manche, wer von sich behauptet, nicht religiös zu sein, wolle nur nicht wahrhaben, dass er auch religiös sei – nur eben auf andere Weise. Sie glaubten an keinen Gott, aber eben stattdessen an den Menschen oder eben die Segnungen der säkularen Gesellschaft. Das ist bloße Wortspielerei. Wer an etwas nicht glaubt, glaubt nicht die Negation in demselben Sinne, wie der Gläubige die Position glaubt. Die Differenz mag in der hübschen Anekdote von der Antwort anklingen, die Bertrand Russell einem besorgten Studenten gab, als der ihn fragte, was er, der notorische Atheist, denn sagen würde, wenn er dereinst wider Erwarten vor Gott stünde. Die Antwort: „You should have given us more evidence.“

Dennoch ist mit der Idee einer säkularen Gesellschaft auch ein existenzielles Moment verbunden. Die säkulare Gesellschaft hat sich in einer Weise herausgebildet, die von denjenigen, die ihre Herausbildung begleitet und diese Entwicklung begrüßt haben, als eine Art „Kampf“ wahrgenommen wurde, und diese Wahrnehmung strahlt aus in die Zeit. Eine historische Soziologie würde den Prozess der Säkularisation natürlich nicht als den am Ende siegreichen Kampf unabhängiger Intellektueller gegen den stumpfsinnigen Klerus beschreiben, aber sie würde zugeben, dass sich im Zuge der Säkularisierung eine Idealisierung des Prozesses und eine Selbstidealisierung bei denjenigen herausbildete, die sich für seine Protagonisten hielten – und zwar als wichtiges Moment des Prozesses selber. Auf diese Weise wurden Voltaires „Écrasez l’infâme!“ oder Kants Polemik gegen die geistigen Vormünder und das von ihm zum Wahlspruch der Aufklärung bestimmte Horaz-Zitat vom „Sapere aude“, das er mit „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, übersetzte, zu Verbalikonen der säkularen Gesellschaft.

Aufgrund dieses Selbstbildes, das bei uns keine aktuelle Bedeutung hat, fühlen wir uns denjenigen verbunden, vielleicht verpflichtet, die diesen Kampf noch oder wieder zu kämpfen haben, aufgrund dieses Selbstbildes rufen Initiativen wie der immer mal wieder unternommene Versuch, in Schulen Evolutionstheorie durch Bibellektüre sive „Kreationismus“ zu ersetzen nicht nur Gegen-Engagement, sondern spezifische Gefühle der Empörung hervor. Das Nämliche gilt für die Restriktionen, denen Mitglieder islamischer Familien durch innerfamiliären Druck ausgesetzt sind – ich spreche nicht von Gewalttaten, die stehen auf einem ganz anderen Blatt, sondern von Lebensbeschränkungen, die als freiwillige natürlich zu akzeptieren sind, denen wir aber doch oft misstrauisch gegenüberstehen, weil es nur schwer möglich ist, hier Freiwilligkeit von traditionsgebundener Selbstunterwerfung zu unterscheiden. Hier zeigen sich problematische Stellen im Rechtsgefüge des säkularen Staates.

Auf der einen Seite bedeutet Säkularität als Möglichkeit, sich nach eigenem Gusto mit Sinnangeboten zu versorgen, den Schutz vor religiöser Zwangsvergemeinschaftung, auf der anderen Seite bedeutet sie eben auch Nichteinmischung in die Expressionsformen von Religiosität. Letzteres in Form eines Bürgerrechts, Ersteres in Form der Überwachung der Einhaltung bestimmter Gesetze.

Das Kopftuch der Lehrerin und andere Modeaccessoires

Wir haben nun eine sehr kontrovers geführte Debatte erlebt, in der es um die Grenzen der Expressionsfreiheit von Religiosität ging: die so genannte Kopftuchdebatte. Klar, dass Bürger des säkularen Staates auch in ihrer Kleidung zum Ausdruck bringen können müssen, welchem religiösen Bekenntnis sie angehören, wenn ihnen der Sinn danach steht. Klar, dass bei Bestehen einer Schulpflicht der säkulare Staat konfessionsfreie Schulen anzubieten hat und dass zu diesem Angebot die Garantie gehört, dass hier Religion möglicherweise in der ein oder anderen Form als Lehrfach angeboten wird, dass es aber keinerlei religiöse Beeinflussung geben soll.

Darum, sagten manche, dürften Lehrerinnen, die sich zum Islam bekennen, kein dieses Bekenntnis offensiv demonstrierendes Kleidungsstück tragen. Ein solches Verbot, so das Gegenargument, verstoße gegen die Freiheit der Religionsausübung und diskriminiere gläubige Muslime, weil es denen, die sich einer bestimmten Tracht verpflichtet fühlten, bestimmte Berufe versage.

In dieser Debatte scheint mir eine Dimension des Problems übersehen worden zu sein, und diese Dimension hängt mit dem zusammen, was ich den Stolz der säkularen Gesellschaft nennen möchte. Der besteht in diesem Falle darin, sich den Blick auf Kleidung nicht von einem religiösen Bekenntnis vorschreiben zu lassen. Für den Blick des säkularen Staates sollte es sich beim Schleier um ein Modeaccessoire handeln, und Leute können anziehen, was sie wollen. In Grenzen, versteht sich. Es gibt gewisse Anstandsregeln, aber die sind nicht religiös definiert. Diese Anstandsregeln definieren, wie wenig jemand allenfalls anziehen darf, nicht wie viel. Alle Kulturen haben Wert darauf gelegt, den Körper zu entnaturalisieren, und wenn es auch nur durch das Auftragen von Farbe oder durch die Entstellung mit Narbengewebe geschieht. Kulturen unterscheiden sich durch die Art und Weise, wie weit und an welchen Stellen sie den Körper bedecken, Körperformen unsichtbar machen oder betonen, aber sie sind sich alle einig, dass es anständige und unanständige Kleidung gibt.

Das aber wechselt von Kultur zu Kultur, von Mode zu Mode. Der säkulare Staat macht Modefragen unabhängig von religiösen Überzeugungen – was Fragen des Anstands angeht. Der aus religiösen Gründen nackt Gehende – sollte es ihn noch geben, in der Antike nannte man ihn Gymnosophisten – wird nicht toleriert. Diejenige, die aus religiösen Gründen ihr Gesicht bedeckt, wird toleriert. Das ist alles. Der säkulare Staat hat sich nicht darum zu kümmern, was eine Kleidung für den oder die Religiöse(n) „bedeutet“. Wie will er das auch tun? Es mag sein, dass eine Frau den Schleier trägt, weil sie offensiv ihre Überzeugung zur Schau stellen will und signalisieren, dass sie sich eine islamisch-fromme Gesellschaft wünscht, in der alle Frauen den Schleier tragen. Es mag sein, dass eine Frau den Schleier trägt, weil sie einfach den Geboten folgt, die sie für sich als verbindlich bestimmt hat. Wer will das wissen?

Der säkulare Staat hat sich darum nicht zu kümmern, er darf es gar nicht wissen wollen. Wohl darf und muss er über die weltanschauliche Neutralität seiner öffentlichen Schulen wachen, aber das tut er, indem er über die gelehrten Inhalte wacht und darüber, wie seine Lehrerinnen und Lehrer sie darbieten. Findet dort religiöse Indoktrination statt, kann er Lehrer entlassen und in hoffnungslosen Fällen Berufsverbote aussprechen. Man hat eingewandt, unser Staat verbiete doch auch das Tragen des Hakenkreuzes. Das aber ist als Symbol einer verbotenen Partei verboten. Wäre das Kopftuch Symbol einer verbotenen Religionsgemeinschaft, wäre gegen sein Verbot nichts einzuwenden.

Noch einmal: Wenn eine Lehrerin ihre Stellung dazu missbraucht, religiöse Propaganda zu machen, ist sie zu entlassen. Aber sie muss dazu etwas tun. Zu zeigen, dass sie etwas anderes glaubt als die anderen Lehrer oder die Schüler, reicht nicht. Strengt man ein Disziplinarverfahren gegen die Lehrerin an, kann der Umstand des Kopftuchtragens als Teil eines Befunds gewertet werden – nicht aber als einziger Befund hinreichen.

Ist umgekehrt geboten, wenn man dennoch das Kopftuch verbietet, dann auch die Soutane des Religionsunterricht gebenden Pfarrers zu verbieten oder das Kreuz am Hals des Mathematiklehrers? Ein Fehler wird nicht dadurch besser, dass man aus Gerechtigkeitsgründen noch einen begeht. Es ist nur so, dass sich eine Gesellschaft, die das Recht zum Tragen von Kopftüchern, nicht aber von Kreuzen einschränkt, sich dem Verdacht aussetzt, es gehe ihr nicht um die weltanschauliche Neutralität ihrer Schulen, sondern darum, Muslimen das Leben schwer zu machen.

Meine Toleranz gegenüber eine religiös bestimmten Tracht hat nichts damit zu tun, dass ich etwa die Vorstellungen über die Reinheit oder Sündigkeit des menschlichen Körpers, die sie oder er hat, achte, sondern ich respektiere ihren oder seinen Lebensentwurf. Solange sie die Spielregeln der säkularen Gesellschaft respektieren und damit ihre Tochter nicht über das Eltern allgemein zuzubilligende Maß an Intoleranz hinaus schikanieren.

Als Mitmenschen haben sie meinen Respekt; als Mitbürger meine Zusage, dass ich mich für ihre Rechte einsetze; als Vorgesetzter haben mich Modefragen, Kopftücher, Kreuze und andere Accessoires nicht zu interessieren, sofern sie nicht, siehe oben, die gerade gültigen Anstandsbräuche verletzen. Kopftücher haben für die Schulbehörde Modefragen zu sein.

Symbole werden erst durch Handlungen und geeignete Kontexte zu Symbolen. Darin besteht die Auffassung, die für die Umgangsformen einer säkularen Gesellschaft bestimmend ist: dass der Kontext und die Kommunikation den Sinn stiften. Dass der Sinn von außerhalb kommt und festgelegt ist, ist die Ansicht der Religiösen, nicht unsere. Nur auf diesem Dissens beruht die Möglichkeit, Religionen zu respektieren. Und darum sind Gesetze, die das Tragen von Kopftüchern für Lehrerinnen in Schulen verbieten, Gesetze, die gegen die Selbstachtung einer säkularen Gesellschaft verstoßen.

Dass der Sinn von außerhalb kommt und festgelegt ist, ist die Ansicht der Religiösen, nicht unsere. Unsere Ansicht nennt der gegenwärtige Papst „Diktatur des Relativismus“, und er sagt klipp und klar, dass die Ansicht, Religion sei Privatsache und ihre mögliche öffentliche Rolle definiere sich aus dem Umstand, dass sie eine Privatsache sei, eine Aggression gegen die Religion sei. Und der verstorbene Papst nannte als bekennender Feind einer offenen, säkularen Gesellschaft, diese Ansicht die „Sünde wider den Heiligen Geist, die nicht vergeben werden kann“.

Darin lag für ihn – eine stimmige theologische Auslegung – der Sinn der Geschichte vom Sündenfall: „Darauf beziehen sich die Worte des Buches Genesis: ‚Ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse‘, d. h., ihr werdet selbst entscheiden, was gut und was böse ist.“8 Der Stolz einer säkularen Gesellschaft besteht in der Tat darin, in dieser Art von Sünde zu leben.

Fußnoten: 1 Joseph Kardinal Ratzinger, „Einführung in das Christentum“. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis, Düsseldorf 2002, S. 47. 2 Ders., „Warum hasst sich der Westen?“, in Cicero, Juni 2004, S. 67. 3 Ebd. 4 Johannes Paul II., „Erinnerung und Identität. Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden“, Augsburg 2005, S. 26. 5 Ebd. S. 68. 6 Ebd. S. 67. 7 Ebd. S. 21. 8 Ebd. S. 20. © Le Monde diplomatique, Berlin Jan Philipp Reemtsma ist Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung und Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Der hier abgedruckte Text gibt die überarbeitete und gekürzte Fassung eines Vortrages wieder, den er erstmals am 19. Mai im Dresdner Kulturpalast gehalten hat.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2005, von Jan Philipp Reemtsma