14.09.2012

Merkelantismus

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Merkelantismus

von Heiner Ganßmann

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Merkelantismus (lat. furiosa Teutonicorum insania) ist nicht die Legastheniker-Schreibweise von Merkantilismus. Dennoch besteht erstaunliche Geistesverwandschaft zwischen dem Merkantilismus, einer Wirtschaftsauffassung, die seit dem 18. Jahrhundert als gescheitert gilt, und dem Merkelantismus, einer zeitgenössischen deutschen wirtschaftspolitischen Doktrin.

Was war der Merkantilismus? Eine wirtschaftspolitische Lehre, die den Machtinteressen der entstehenden Nationalstaaten dienen sollte. Der Kerngedanke war: Je mehr Geld ein Staat besitzt, desto reicher ist er, je reicher er ist, umso mehr Macht hat er. Da Geld im Frühkapitalismus die Form von Edelmetallstücken hatte, konnte ein Staat, der keine eigenen Erzvorkommen ausbeuten konnte, nur durch Überschüsse im auswärtigen Handel zu mehr Geld kommen. Ziel war also, mehr an das Ausland zu verkaufen, als vom Ausland zu kaufen, und sich die Differenz mit Gold oder Silber bezahlen zu lassen. Dazu sollte der Staat die Wirtschaft steuern, um dem Handel eine Gestalt zu geben, die Exportüberschüsse ermöglichte. Das Übergewicht im auswärtigen Handel sollte die Geldströme ins eigene Land führen und ihm auf diese Art auch zu einem machtpolitischen Übergewicht verhelfen.

Was war daran falsch? Als Erstes fällt jedem auf, der nicht völlig in der Egomanie nationalstaatlichen Machtstrebens befangen ist, dass ein Exportüberschuss auf Dauer kein verallgemeinerungsfähiges Ziel ist. Wenn alle mehr einnehmen wollen, als sie ausgeben, blockieren sie sich wechselseitig. Der Hauptfehler der Merkantilisten war jedoch, wie Adam Smith zu Recht kritisierte, die Verwechslung von Reichtum und Geld: Geld sei zwar ein Mittel, um an die konsumierbaren Güter zu kommen, aus denen der wirkliche Reichtum letztlich bestehe. Aber der bloße Geldbesitz garantiert keineswegs, dass dem Geld auch die gewünschten Güter zum Kauf gegenüberstehen. Midas lässt grüßen: Wem alles zu Gold werden soll, was er berührt, der verhungert. Hinter den Fehleinschätzungen der Merkantilisten steckte die Überzeugung, dass der Konsum nur eine sekundäre Rolle spielen darf, weil nur dann, wenn das Einkommen die Ausgaben übersteigt, Reichtum wachsen könne.

Was ist der Merkelantismus, und wie unterscheidet er sich vom Merkantilismus? Es handelt es sich um eine zeitgenössische, spezifisch deutsche Doktrin mit starker moralischer Unterfütterung. Sie besagt: Volkswirtschaften sind nicht anders als jeder gewöhnliche Haushalt oder jedes gewöhnliche Unternehmen. Sie können nur dann mehr ausgeben, als sie einnehmen, wenn sie sich verschulden. Wenn sie das zu oft und zu lange machen, rutschen sie früher oder später in eine Wirtschaftskrise, weil der Verdacht aufkommt, sie könnten ihre Schulden nicht mehr bedienen. Um diesen Verdacht auszuräumen und auf den Pfad der Tugend zurückzukehren, sollen sie sich durch „eisernes Sparen“ und Reformen sanieren. „Reform“ ist dabei ein Codewort für die Kürzung sozialstaatlicher Leistungen und die Rücknahme arbeitnehmerfreundlicher rechtlicher Regelungen.

Der Merkelantismus ist die nicht nur von der Regierung, sondern auch in den deutschen Medien gern, laut und häufig vertretene Auffassung, dass die Euroländer, allen voran die „Problemländer“, dem deutschen Weg folgen sollten: Mit viel Arbeit und wenig Konsum sollen alle den Export stärken und sich so aus der Schuldenklemme befreien. Mit der Festlegung entsprechender Bedingungen für neue Kredite zur Verhinderung von Staatsbankrotten hat die deutsche Regierung diese Doktrin als Leitlinie der Eurozonen-Wirtschaftspolitik durchgesetzt. Harte Sparmaßnahmen, gekoppelt mit Massenentlassungen und Rentnerarmut, Schuldenbremsen und Fiskalpakten, sollen die Staatsfinanzen sanieren – in den „Problemländern“ (vielleicht in Erinnerung an Bruno, den Problembären, der leider erschossen werden musste).

Erfolge dieser Sanierungspolitik sind, obwohl sie – zusammen mit Durchhalteparolen – dauernd gemeldet werden, bisher ausgeblieben. Weder Portugal noch Irland, Italien, Griechenland oder Spanien (auch die PIIGS genannt, obwohl GIPSI das Krisendomino in seinem Ablauf besser trifft) haben bisher wieder zu einer auch nur halbwegs zufriedenstellenden Wirtschaftsleistung mit angemessenem Beschäftigungsniveau und tolerierbarer Neuverschuldung gefunden.

Stattdessen verschärft das „eiserne Sparen“ die Probleme. Die schnelle Entschuldung funktioniert nicht, weil der Zusammenbruch der Nachfrage das Wirtschaftswachstum verhindert und die Arbeitslosigkeit steigen lässt. In dem Fall kann die Verschuldungsquote (Schuldensumme geteilt durch BIP) ansteigen, obwohl die Staatsausgaben zurückgehen. Denn die stellen nur den Zähler der Schuldenquote dar, die sich durch den verkleinerten Nenner (das BIP) automatisch erhöht.

Was waren noch die Fehler des Merkantilismus, und wie tauchen sie im Merkelantismus wieder auf?

Erstens bleibt es dabei, dass das Geldverdienen mit Exportüberschüssen kein verallgemeinerungsfähiges Rezept ist. Beggar-thy-neighbour-Politik nennen das die Engländer, weil es ja nicht nur um Exporterfolg geht, sondern darum, dass ein Land mit Bedacht (und mit erzwungener Lohnzurückhaltung1 und Senkung der Lohnstückkosten2 ) weniger importiert als exportiert und damit die Nachbarn belastet, mit denen es Handel treibt. Jedem Außenhandelsüberschuss steht irgendwo anders ein Außenhandelsdefizit gegenüber. Es muss in den meisten Euroländern als schlichter Hohn ankommen, wenn ihnen als Reformstrategie der Merkelantismus aufgedrängt wird.

Das deutsche Erfolgsrezept: „Wir erzielen Rekordexportüberschüsse und sind grandios tüchtig, weil die ganze Welt mehr von unseren Produkten kauft, als wir von der Welt kaufen“, beruht einfach darauf, dass sich hinreichend viele andere Länder auf mehr oder weniger verschlungenen Wegen bei deutschen Kreditgebern verschulden. Anders können sie ja nicht dauernd mehr importieren als exportieren, das Handelsungleichgewicht muss finanziert werden. Wenn also anderen Ländern umgekehrt die deutsche Strategie gelingen soll, mehr zu exportieren als zu importieren, müssen sie dafür Handelspartner finden, die bereit und in der Lage sind, sich dafür zu verschulden. Das geht nicht flächendeckend, sondern allenfalls lokal, zum Beispiel indem die Eurozonenländer ihre Probleme nach außen, außerhalb der Eurozone, verschieben. Aber dafür müssten sie den dortigen Importeuren hinreichend Kredit geben. Das hat so seine Tücken. Damit sind wir beim zweiten Fehler des alten Merkantilismus.

Zweitens hat nun die alte Verwechslung von Geld und Reichtum ein neues Gesicht. Für die Merkantilisten ging es noch darum, dass der Handelsbilanzüberschuss mit Geld ausgeglichen werden sollte, das aus Silber- oder Goldmünzen oder -barren bestand. Heutzutage sind an deren Stelle Kreditgelder getreten. Was heißt, dass auch der internationale Handel über Zahlungsversprechen abgewickelt wird. Das funktioniert im Prinzip so: A „kauft“ von B Waren und gibt im Gegenzug ein (terminiertes) Zahlungsversprechen. Ein solches dokumentiertes Zahlungsversprechen von A kann nun von B benutzt werden, um ihrerseits von C Waren zu kaufen. Wenn C, oder irgendein weiterer Händler, von dem C mit As Zahlungsversprechen gekauft hat, bei Letzterem auftaucht und damit Waren von A kauft, ist der Kreditkreislauf geschlossen. A hat sein als Geld zirkulierendes eigenes Zahlungsversprechen wieder und kann es in den Schredder stecken.

Was passiert in einem solchen System, wenn sich Zahlungen nicht auf diese Weise, das heißt durch gegenläufige Warenströme3 ausgleichen? Im Prinzip wird entweder ein temporäres in ein dauerndes Gläubiger-Schuldner-Verhältnis umgewandelt, oder der Schuldner erklärt seine Zahlungsunfähigkeit. Wer zuletzt auf dem Zahlungsversprechen As sitzen geblieben ist, geht dann leer aus. Im Alternativfall bleibt es bei einem Zahlungsversprechen As, das in einem Vertrag mit Tilgungs- und Verzinsungspflichten festgehalten wird.

Man kann verstehen, dass eine B, die dauernd auf Kredit an einen A verkauft, von dem umgekehrt zu wenige kaufen wollen und der ansonsten keine großen Sicherheiten bieten kann, ein Risiko eingeht. Ein dauernder Exportüberschuss bedeutet im Prinzip nichts anderes. Die deutschen Forderungen gegenüber den anderen Euroländern belaufen sich auf 2,8 Billionen Euro,4 davon mehr als ein Viertel gegenüber den PIIGS. Dort kann man zwar inzwischen billiger einkaufen, aber unterm Strich bleibt: Merkelantismus ist, wenn Midas irgendwann Papier essen soll.

Fußnoten: 1 Nach dem Employment Outlook 2012 der OECD ist der Anteil der Löhne am Volkseinkommen in Deutschland von 67 Prozent Anfang der 1990er Jahre auf etwa 62 Prozent gesunken. 2 Nach dem Papier der ILO „Eurozone Job Crisis 2012“ sind bis zur Krise 2008 die Lohnstückkosten, also die Lohnkosten pro Produktwerteinheit, in allen Euroländern schneller gewachsen als in Deutschland. Seit 2008 verzeichnen unter anderem Italien, Griechenland, Portugal, Spanien und Irland ein niedrigeres Wachstum der Lohnstückkosten als Deutschland. Das deutet darauf hin, dass nicht höhere Arbeitsproduktivität, sondern das Zurückbleiben der Löhne dieses Aufholen ermöglicht hat. 3 Bei den „Waren“ kann es sich auch um ausländische Vermögensbestände handeln. Das nennt man dann Kapitalexport. 4 Nach dem Sondergutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung vom 5. Juli 2012. Heiner Ganßmann ist Professor emeritus für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Zuletzt erschien von ihm: „Doing Money. Elementary Monetary Theory from a Sociological Standpoint“, New York (Routledge) 2011. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 14.09.2012, von Heiner Ganßmann