12.10.2012

Im tiefen Süden

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Im tiefen Süden

Wo die Wähler wohnen, auf die es nicht ankommt. Eine Reise von Georgia nach Florida von Benoît Bréville

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Jeden Morgen um 6 Uhr setzt sich Russell Stanton ans Steuer seines Pick-ups und fährt die umliegenden Farmen ab, in der Hoffnung, für den Tag irgendeine Arbeit zu ergattern: Pfirsiche pflücken, Erdnüsse oder Mais ernten, was immer man ihm anbietet. Abends verlässt der Vierzigjährige trotz der feuchten Augusthitze mehrmals sein klimatisiertes Zimmer im Motel von Darien, Georgia, um draußen auf dem Parkplatz eine Zigarette zu rauchen.

Seit drei Jahren lebt er hier. „Das Zimmer ist billiger, als eine Wohnung zu mieten. Hier gibt es Strom und Kabelfernsehen, und jeden Tag macht jemand sauber“, sagt er und lächelt seiner Schwester Jenna zu, die hier als Zimmermädchen arbeitet. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren Kindern in zwei nebeneinander liegenden Zimmern, hat aber nur ein oder zwei Stunden Arbeit pro Tag: „Das Motel hat nicht viele Gäste, nur ein paar Leute, die immer da sind. Im Augenblick wohnen hier ein Lkw-Fahrer mit seiner Freundin und eine indische Familie. In der Gegend halten die Leute höchstens mal kurz an der Raststätte – übernachten tun sie im Auto am Straßenrand.“ Auch die Kandidaten fürs Weiße Haus machen sich nicht die Mühe, in Georgia abzusteigen – sie reisen eher nach North Carolina oder Florida, in einen der zehn Bundesstaaten, in denen die Wahl entschieden wird.

Darien liegt ein paar Meilen von der Interstate 95 entfernt, die von Floridas Atlantikküste bis hinauf nach Kanada führt. Es ist ein friedlich wirkendes Südstaatendorf und wahrlich keine Touristenattraktion: eine breite Hauptstraße mit vielen, rechtwinklig einmündenden Nebenstraßen, Tankstellen, Gemischtwarenläden, in denen es weder Obst noch Gemüse gibt, und vor allem viele, viele Häuser, die zu verkaufen sind.

Von den 1 090 Häusern der Gemeinde stehen 292 leer. Den 2 000 Einwohnern, die schon die Krise der Textilindustrie schwer getroffen hatte, hat die Subprime-Krise von 2007 den Rest gegeben. Im County McIntosh liegt die Arbeitslosigkeit bei über 10 Prozent, das durchschnittliche Jahreseinkommen ist zwischen 2007 und 2009 von 25 739 auf 21 771 Dollar gesunken, anschließend erholte es sich ein wenig.

Die Geschwister Stanton sind ins Fort King George Motel gezogen, nachdem ihr Haus gepfändet wurde. „Ich habe mich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, und meine Mutter konnte nicht mehr arbeiten. Die Abzahlungsraten waren zu hoch, da mussten wir raus. Ich bin für ein Jahr nach Texas gegangen, um dort mein Glück zu versuchen, dann bin ich wieder hergekommen“, berichtet der ältere Bruder. Jenna und ihr Mann hatten versucht, eine Wohnung zu mieten, aber bald konnten sie die Miete nicht mehr zahlen und sind ins Motel gezogen. Die junge Frau hat schlechte Erinnerungen an diese letzte Zeit: „Vier Jahre lang hat Obama nichts für uns getan. Ich bin arm, ich bin für die Republikaner, weil den Demokraten arme Weiße wie ich völlig egal sind.“

Am Ende von Barack Obamas erster Amtszeit ist die Rassentrennung in der Politik noch genauso deutlich wie zuvor, vor allem in den Südstaaten. „Wir sind wieder da, wo wir vor vierzig Jahren waren, als nur Schwarze schwarze Wähler repräsentieren konnten und nur Weiße die weißen Wähler“,1 meint der demokratische (schwarze) Senator Eric Mansfield aus North Carolina. Nachdem in Louisiana, Alabama und Mississippi nach diesem Muster gewählt wurde – dort sind die Kongressabgeordneten entweder schwarze Demokraten oder weiße Republikaner –, könnte bei den Wahlen im November nun auch der letzte weiße Demokrat in Georgia sein Mandat verlieren. „Das ist für keine Seite gut“, klagt Lindsey Graham, republikanischer Senator aus South Carolina. „Die Republikaner müssen verstehen, dass wir mit Kandidaten, die aus Minderheiten stammen, auch Wähler anziehen können. […] Und die Demokraten müssen begreifen, dass die Demokratische Partei sich nicht mit 25 Prozent der weißen Wählerstimmen zufriedengeben sollte.“2

Rückkehr der Rassentrennung

Die Rechte sieht den Grund für die ethnische Polarisierung in der toleranten Haltung ihrer Gegner bei Fragen wie Abtreibung oder Homoehe. „Vor ein paar Jahren haben noch viele Weiße für die Demokraten gestimmt. Aber die Partei ist so weit nach links gerückt, dass sie wieder ins konservative Lager zurückgekehrt sind“, erklärt der pensionierte Ingenieur Kevin Bennett, der in Alabama Wahlkampf für die Republikaner macht.

Die Obama-Anhänger erklären die Entwicklung dagegen mit der Neuaufteilung der Wahlkreise seit 2010 durch die republikanischen Gouverneure. „Jetzt gibt es in wenigen Wahlkreisen deutliche schwarze Mehrheiten, und in allen anderen bilden die Schwarzen eine verschwindende Minderheit“, meint Billy Mitchell, schwarzer demokratischer Abgeordneter im Repräsentantenhaus von Georgia. So sind etwa die Hälfte der 2,2 Millionen Afroamerikaner in North Carolina in nur einem Fünftel der Wahlkreise zusammengefasst. In Texas ist der Anteil der weißen Bevölkerung von 2000 bis 2010 von 52 Prozent auf 45 Prozent gesunken – aber dank der Neuaufteilung sind in 70 Prozent der Kongresswahlkreise die Weißen in der Mehrheit.

In Darien, wo nicht sehr viel weniger Schwarze als Weiße leben (44,2 beziehungsweise 52,9 Prozent), wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet. Russell Stanton schert sich nicht um die Statistik: „Ich wähle Obama. Ich habe keine Kinder, deshalb habe ich keinen Anspruch auf die medizinische Grundversorgung durch Medicaid. Wenn er gewinnt, dann kriege ich vielleicht eine Krankenversicherung.“ Das klingt etwas überraschend aus dem Mund eines Mannes, der den ultrarechten Journalisten Rush Limbaugh „verehrt“, wie er sagt, weil der „die richtigen Fragen stellt“. Seine Schwester muss jedenfalls grinsen: „Das hast du vor der letzten Wahl auch schon gesagt und hast immer noch keine Versicherung!“

Obwohl ihre Entscheidung getroffen ist, werden die Stantons am 6. November vielleicht doch nicht wählen gehen: Sie haben sich noch nicht auf die Wählerliste eintragen lassen und wissen weder, wann die Wahl stattfindet noch wie der republikanische Präsidentschaftskandidat heißt. Das erfahren sie auch nicht aus der Lokalzeitung Tribune & Georgian. Am Tag nach der offiziellen Kandidatenkür von Mitt Romney widmete das Blättchen dem Ereignis keine einzige Zeile, berichtete aber ausführlich von einer 59-Jährigen, die in Woodbine betrunken auf der Straße festgenommen wurde, und von einem 30-Jährigen, den die Polizei mit einer offenen Bierflasche in der Hand auf dem Bürgersteig von St. Mary’s erwischt hatte.

Im Dorf ist die Präsidentschaftswahl kein Thema – wie auch sonst nirgendwo in Georgia: keine Wahlkampfspots im Fernsehen, keine Hausbesuche von Wahlkampfhelfern oder Veranstaltungen mit den Kandidaten. In manchen Dörfern hängen zwar Wahlplakate für die örtlichen Sheriff-Anwärter, aber Obama und Romney sind im öffentlichen Raum nicht präsent.

Die Rivalen im Kampf um das Weiße Haus lassen nicht nur Georgia, sondern auch einige andere US-Bundesstaaten links liegen: Seit Juni 2012 sind Mitt Romney und sein Kandidat für die Vizepräsidentschaft Paul Ryan nicht ein einziges Mal nach Maryland, Connecticut, Nebraska, Kansas, Maine oder Vermont gereist. Barack Obama und sein Vize Joseph Biden waren noch nicht in Arizona, New Mexico, Oklahoma, Mississippi, Alabama, Montana und Idaho. „Der Präsident kommt nur nach Georgia, um Spenden einzusammeln“, vertraut uns Mitchell ein wenig kleinlaut an. „Es hat keinen Zweck, hier Wahlkampf zu machen. Wir verlieren so oder so. Deshalb fragen wir unsere Helfer, ob sie nicht nach North Carolina oder Florida fahren wollen, um dort von Tür zu Tür zu gehen und Versammlungen zu organisieren. Sie können ja auch überall in den USA anrufen.“

In South Carolina hören wir dasselbe von Melissa Watson, einer schwarzen Lehrerin, die Mitglied der Demokratischen Partei ist: „Der Präsident hat eine Milliarde Dollar zur Verfügung. Das ist zwar viel Geld, aber doch eine begrenzte Summe. Und wir wissen, dass wir kaum eine Chance haben, in South Carolina zu gewinnen. […] Deshalb hat Obama beschlossen, sich auf die Staaten zu konzentrieren, wo es einen echten Wettbewerb gibt. Es sind nur zehn oder elf Staaten, um die sich die Kandidaten wirklich streiten.“

Zu diesen „Swing States“ gehören Ohio, das schon 21 Besuche des demokratischen Präsidentschaftstandems (und 22 von Romney und Ryan) verzeichnen konnte, Iowa (hier steht es 17 zu 13), Florida, North Carolina und Nevada. Allein in diesen Staaten wurden zwischen dem 10. April und dem 4. September 2012 praktisch alle 605 996 Wahlkampfspots ausgestrahlt, die die Kandidaten (oder ihre Unterstützer) bestellt hatten – zur großen Freude der Fernsehsender: In einem Jahr ist der Preis für einen 30-Sekunden-Spot in Charlotte, North Carolina, um 44 Prozent, in Las Vegas, Nevada, um 34 Prozent gestiegen.3

Das US-Wahlverfahren (indirekte Wahl in einem einzigen Durchgang) fördert nicht nur das Zweiparteiensystem, es verleiht den einzelnen Wählerstimmen auch ein unterschiedliches Gewicht: Ein Votum in einem „Safe State“ (wo eine der beiden Parteien eine sichere Mehrheit hat) fällt weniger ins Gewicht als eines in einem „Swing State“ (wo mal die eine, mal die andere Partei gewinnt). Der Süden der USA gehörte – als Hochburg der Demokraten – fast ein Jahrhundert lang zur ersten Kategorie,4 bis er Anfang der 1970er Jahre an die Republikaner fiel: Vor Obama ist es nur den aus dem Süden stammenden Demokraten Jimmy Carter und Bill Clinton gelungen, sich in Staaten der einstigen Konföderierten durchzusetzen.

Seit 2008 haben die Demokraten ihre Wahlkampfaktivitäten in South Carolina eingestellt, in North Carolina dagegen setzen sie sie fort – obwohl die beiden Staaten bislang ähnlich gewählt hatten. Bei einer Reise durch die Gegend kann man die Gründe dafür schnell erkennen. Während man in North Carolina durch ausgedehnte Vorortsiedlungen fährt, die vor zehn oder zwanzig Jahren entstanden sind, ist South Carolina immer noch sehr ländlich geprägt. Hier leben die Menschen immer noch von der traditionellen Textil-, Automobil- und Chemieindustrie und der Landwirtschaft (Tabak und Geflügel).

Dagegen vermögen im Vorort Old Stone Crossing im Osten von Charlotte, der Hauptstadt North Carolinas, weder die gewundenen Straßen noch die „alten Steine“ der Häuser über den Neubaucharakter der Siedlung hinwegzutäuschen. Sie wurde auf brachliegenden Feldern zwischen Autobahnen und Gewerbegebieten hochgezogen und ist mit der Innenstadt über ein Wirrwarr von Highways, kleinen Alleen und menschenleeren Straßen verbunden. Nachts ist hier kaum ein Licht zu sehen – es gibt kein Geschäft, keine öffentlichen Plätze. Dutzende solcher mehr oder weniger stattlichen „Stadtviertel“ – Hampshire Hills, Highland Creed, Beverly Crest, McAlpine Woods – wurden auf ähnliche Weise aus der Erde gestampft. „North Carolina, das ist ein mit Wohnsiedlungen bebautes Maisfeld“, sagt uns ein Einheimischer.

Beim demokratischen Parteitag Anfang September in Charlotte fand Exgouverneur Jim Hunt allerdings schönere Worte für die Entwicklung in seinem Bundesstaat: „Sie haben die Wolkenkratzer gesehen und alles, was Charlotte zu bieten hat“, rief er in die Menge. „Vielleicht haben Sie auch schon von unserem Research Triangle Park5 gehört. Vielleicht haben sich Ihre Kinder an einer unserer Universitäten beworben. Wir sind stolz darauf, das alles in North Carolina erreicht zu haben. Vor 50 Jahren war das hier noch ein armer, ländlicher Staat mit Rassentrennung. Aber Anfang der 1960er Jahre hatten wir einen Gouverneur namens Terry Sanford. Er hat mit Unternehmern, Politikern und Lehrern zusammengearbeitet, um unsere großartigen Fakultäten, unsere 58 Community Colleges6 und unsere öffentlichen Schulen aufzubauen. Das Ergebnis sind die hoch qualifizierten Leute und die blühende Wirtschaft, die Sie heute hier bewundern können.“

Zehn Kirchen für 3 000 Leute

In North Carolina befinden sich in der Tat 3 der 30 besten US-Universitäten sowie 14 der 500 größten Unternehmen des Landes. Seit dem Boom der 1990er Jahre hat sich auch die Bevölkerung verdoppelt. Aufgrund dieser demografischen Entwicklung sah Obama 2008 eine Chance, den Republikanern den Bundesstaat streitig zu machen: Mit einer Armee freiwilliger Wahlkampfhelfer mobilisierte er die neu Zugezogenen, darunter viele Studenten, junge Leute, hochqualifizierte Fachkräfte und Angehörige von Minderheiten, die zumeist für ihn stimmten. So konnte er seinen Rivalen McCain, der unter den weniger gut ausgebildeten Weißen und in ländlichen Gebieten viele Unterstützer hatte, mit hauchdünnem Vorsprung schlagen.

Die Gegensätze trafen hart aufeinander: In Mecklenburg County, zu dem die wirtschaftlich dynamische Stadt Charlotte gehört und wo knapp 51 Prozent Weiße (ohne Hispanics) leben, wurde Obama mit 62 Prozent der Stimmen gewählt. Im Nachbarcounty Gaston (75 Prozent weiße Bevölkerung und ein 20 Prozent niedrigeres durchschnittliches Haushaltseinkommen) konnte John McCain die Abstimmung mit ähnlichen Werten für sich entscheiden.

Der Bundesstaat Georgia ähnelt in seiner sozialen und wirtschaftlichen Struktur eher Gaston als Mecklenburg County. Dasselbe gilt für Alabama, South Carolina, Mississippi und Arkansas: Hier haben die Demokraten kaum eine Chance. „Abgesehen von der Hauptstadt Atlanta ist dies ein armer, ländlicher, religiöser Staat“, rechtfertigt Demokrat Mitchell aus Georgia die wiederholten Wahlniederlagen seiner Partei. „Die Leute hier sind sehr konservativ: Wir sind hier mitten im Bible Belt.“

Die Gegend hat ihren Namen nicht umsonst. Allein Georgia mit seinen 10 Millionen Einwohnern zählt mehr als 12.000 Kirchengemeinden, mit etwa 3,3 Millionen aktiven Mitgliedern. Methodisten, Baptisten, Presbyterianer, Pfingstler, Episkopale – in den Dörfern gibt es kaum ein für die Allgemeinheit nutzbares Gebäude, aber jede Menge Kirchen.

Allein in Darien mit seinen 2000 Bewohnern gibt es zehn Kirchen. Die meisten kämpfen gegen „die Sünde“ – Abtreibung, Empfängnisverhütung, Homosexualität und Glücksspiel – und spielen zugleich eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben: Sie verteilen Lebensmittel an Bedürftige, kümmern sich um Alte und organisieren Nachhilfeunterricht für Schulkinder. Und dank der Spendenbereitschaft und der Hilfe vieler Ehrenamtlicher tun sie das zu äußerst niedrigen Preisen.

In den Südstaaten geht religiöser Eifer manchmal mit einer Abneigung gegen den Staat einher. So herrscht allgemein die Vorstellung, kirchliche Wohlfahrtseinrichtungen seien besser als staatliche Stellen geeignet, soziale Probleme zu lösen. „Der private Sektor ist viel effizienter: Da probieren ganz viele Menschen die unterschiedlichsten Lösungen aus, und die beste setzt sich durch. Der Staat kann per definitionem so nicht handeln: Er konzipiert eine Lösung, die er dann allen vorschreibt. In den USA hat es nie so viele Arme gegeben wie nach dem Beginn von Präsident Johnsons ‚Krieg gegen die Armut‘.7 Ich als Konservativer meine, die Kirche sollte bei der Sozialhilfe die wichtigste Rolle spielen. Sie ist am nächsten an den Bedürftigen dran, weiß, was ihnen fehlt, und kann eine Interaktion zwischen Helfer und Empfänger schaffen: Sie nimmt den Einzelnen in die Pflicht“, erklärte Matt Arnolds, ein Delegierter aus North Carolina beim Parteitag der Republikaner in Tampa, Florida.

Ein paar Meter entfernt steht Ed Rynders, Abgeordneter im Repräsentantenhaus von Georgia, in dunkelblauem Anzug mit roter Krawatte und eingefrorenem Lächeln. Auch er ist fest überzeugt, dass die Armen in die Verantwortung genommen werden müssen. Wenn er so etwas hört wie „Sozialhilfe in Anspruch nehmen“, geht er in die Luft. „Sozialhilfe schafft Abhängigkeit!“, sagt er mit Nachdruck. Dann folgt der alte Spruch vom Fisch und der Angel – man solle lieber das Angeln lernen, als darauf zu warten, dass einem jeden Tag jemand einen Fisch bringt –, um die Vorzüge der christlichen Nächstenliebe herauszustreichen: „Die einzige moralische Verpflichtung des Staates besteht darin, für diejenigen zu sorgen, die dazu selbst nicht in der Lage sind, wie körperlich oder geistig schwer Behinderte, kleine Kinder oder sehr Alte.“ Wenn der Staat aber Menschen helfe, „die für ihr Handeln selbst verantwortlich“ seien, dann verleitete er sie dazu, nicht mehr zu arbeiten: „Um die sollen sich Kirchen, gemeinschaftliche Initiativen und karitative Organisationen kümmern“, sagt er zum Schluss.

In Downtown Tampa, einem der ärmsten Viertel der Stadt fünf Autobahnmeilen vom Geschäftsviertel entfernt, praktiziert zwischen einer Tankstelle und einem Trödelladen die First Church of God alltägliche Nächstenliebe. Pastor Larry Mobley und Linda Burcham, die in der Gemeindearbeit besonders engagiert ist, verteilen jeden Mittwoch Lebensmittelpakete. Alles funktioniert wie bei einer staatlichen Behörde: Von 11 bis 15 Uhr kommen etwa hundert Menschen – Schwarze, Weiße und Hispanics, Junge und Alte –, ziehen eine Marke, füllen ein Formular aus (Name, Vorname, Adresse, Anzahl der Haushaltsmitglieder und so weiter) und warten dann in einem modernen, klimatisierten Raum, manchmal mehrere Stunden. Wenn die Pakete nicht für alle reichen, müssen die zuletzt Gekommenen mit leeren Händen gehen.

Die anderen können Fruchtsaft im Tetrapak, Kuchen, Tomaten, eingeschweißte Wurst und Weißbrot mit nach Hause nehmen – das Ergebnis des wöchentlichen Einkaufs von zehn Freiwilligen, die mit den Spenden der Gemeindemitglieder in den Läden der Umgebung abgelaufene Lebensmittel zu extrem niedrigen Preisen besorgen.

Liana Kelley kommt regelmäßig hierher. Die 63-Jährige, die aus Kuba stammt, hat sich ihr Leben lang um ihre Kinder gekümmert und sich vor drei Jahren von ihrem irischstämmigen Mann scheiden lassen. Danach hatte sie kein Geld mehr und ist nach Downtown Tampa gezogen. „Die 377 Dollar Sozialhilfe im Monat haben kaum für meine Miete, den Strom und das Kabelfernsehen gereicht“, erzählt sie. „Da bin ich zum Pfandleiher in unserem Viertel gegangen und habe meinen Schmuck und meine Wertsachen verpfändet. Irgendwann haben sie mir dann einen Job angeboten.“

Seit 18 Monaten steht Liana Kelley, mit einem Tuch über den Schultern zum Schutz gegen die Sonne, in der brütenden Hitze Floridas auf dem Bürgersteig des Busch Boulevard und hält den Vorbeifahrenden ein Schild hin, auf dem „Cash for Gold“ steht. Als lebendes Werbeplakat verdient sie 7 Dollar pro Stunde. „Sie rufen mich an, wenn sie mich brauchen, und dann komme ich. Leider fällt das manchmal genau in die Zeit der Lebensmittelverteilung. Dann arbeite ich drei Stunden und verdiene 21 Dollar, verliere aber das Paket, und das ist doppelt so viel wert!“

Am 6. November wird Kelley für Barack Obama stimmen. Vielleicht hat sie das Urteil des republikanischen Kandidaten Romney über sich und Millionen anderer Menschen in einer ähnlichen Lage gehört: 47 Prozent der Amerikaner seien „zu abhängig“ vom Staat, um eine andere Partei als die Demokraten zu wählen.

Fußnoten: 1 Zitiert nach Ari Berman, „How the GOP is resegregating the South“, in: The Nation, New York, 31. Januar 2012. US-Bürger müssen bei einem Zensus ihre ethnische Zugehörigkeit nach Kategorien angeben, die von Mal zu Mal verschieden sein können. 2010 galten als „Schwarze“ oder „Afroamerikaner“ Menschen, die „ihre Herkunft auf eine oder mehrere Gruppen schwarzer Rasse aus Afrika zurückführen“; die „Weißen“ – die noch in „Hispanics“ und „nicht hispanische Weiße“ aufgeteilt werden – sind demnach Menschen, die „ihre Herkunft auf die Völker Europas, des Mittleren Ostens oder Nordafrikas zurückführen“. 2 Jonathan Martin, „Obama’s problems in the South“, Politico, Washington, 2. August 2012. 3 Amy Scatz und Suzanne Vranica, „Swing-state stations are election winners“, The Wall Street Journal, 9. September 2012. 4 Ausnahmen sind die republikanischen Präsidentschaftskandidaten Hayes (1876), Harding (1920) und vor allem Hoover (1928). 5 Dieses Hightech-Industriegebiet wurde 1959 errichtet, um dem „Old South“ neuen Schwung zu verleihen. 6 Siehe Dominique Godrèche, „Obamas Volkshochschulen“, in: Le Monde diplomatique, September 2010. 7 Im Rahmen des 1964 vom demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson begonnenen „Kriegs gegen die Armut“ wurden mehrere Sozialhilfeprogramme verabschiedet wie etwa die Gesundheitsversorgung über Medicare und Medicaid. Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 12.10.2012, von Benoît Bréville