12.10.2017

Avantgarde und Zweifler

zurück

Avantgarde und Zweifler

von Hélène Richard

Im Moskauer Luschniki-Stadion MAXIM SHEMETOV/reuters
Audio: Artikel vorlesen lassen

Für konservative Historiker ist der Fall klar: „Die massenhafte Unterdrückung war Teil des Lenin’schen Projekts.“1 Dem hielten linke Wissenschaftler stets entgegen, die Zwangsmaßnahmen seien aus der Not geboren und eher planlos gewesen: Die Bolschewiki mussten die Revolution im Innern gegen Bauernaufstände und Weißgardisten und nach außen gegen die Intervention der Entente-Mächte verteidigen.2

Tatsächlich haben schon zu Lenins Lebzeiten manche Parteimitglieder eine autoritäre Fehlentwicklung kritisiert. In der ersten Epoche des Sowjetkommunismus stellte sich die Frage von Gewalt, Demokratie und Staat im revolutionären Prozess in drei historischen Momenten: beim Staatsstreich vom Oktober 1917, bei der Auflösung der verfassunggebenden Versammlung im Januar 1918 und bei der Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstands im März 1921.

Die Vorstellung, dass die Bolschewiki die Macht auch mit Waffengewalt übernehmen könnten, kam im März 1917, wenige Monate nach Abdankung des Zaren auf. Rückhalt fand sie vor allem an der Arbeiterbasis der Partei und bei den kriegsmüden, überwiegend bäuerlichen Soldaten. Lenin verteidigte diese Forderung, die ihn zunächst überraschte, vor dem Zentralkomitee.

Die Radikalisierung der Bolschewiki verschreckte jedoch Sozialrevolutionäre, Menschewiki und alte Weggefährten Lenins wie Maxim Gorki. Dieser hatte die Errungenschaften der Fe­bru­ar­revolution (Versammlungsfreiheit, allgemeines Wahlrecht, Abschaffung der Todesstrafe) zunächst euphorisch begrüßt, doch jetzt beschuldigte er die Bolschewiki, sie hätten „die dunklen Instinkte der Masse aufgepeitscht“, die „ohnedies aufgebracht ist über den Zusammenbruch des Lebens, über die Lüge und den Schmutz in der Politik“.3

Lenin ging von Anfang an davon aus, dass die Doppelherrschaft, die aus der Februarrevolution hervorgegangen war, nicht lange halten würde. Als die Provisorische Regierung Ende Mai beschloss, den Krieg fortzusetzen, und potenziellen Deserteuren wieder mit der Todesstrafe zu drohen, stand für Lenin fest, dass sie mit Gewalt gestürzt werden müsse. Nur so waren die bolschewistischen Ziele durchzusetzen: sofortiger Waffenstillstand, Verstaatlichung von Grund und Boden und selbstverwaltete Fabriken („Alle Macht den Sowjets!“). In der Nacht vom 24. zum 25. Oktober stürmten die Roten Garden den Sitz der Provisorischen Regierung in Petrograd, ohne auf großen Widerstand zu stoßen.

Die Bolschewiki behaupteten, sie hätten die verfassunggebende Versammlung präventiv gegen einen Militärputsch schützen müssen (tatsächlich hatten die Roten Garden die Hauptstadt im August erfolgreich gegen den Kornilow-Putsch verteidigt). Die Novemberwahlen fanden zwar statt, doch als sich die bolschewistische Fraktion in der Minderheit fand (175 Sitze von 703), beschloss sie, die Versammlung gleich in der ersten Sitzung aufzulösen. Im Morgengrauen des 6. Januar 1918 verbarrikadierten Rote Garden das leere Gebäude.

Diese folgenschwere Entscheidung gegen die parlamentarische Demokratie war auch unter Befürwortern einer sozialistischen Revolution umstritten. Rosa Luxemburg zum Beispiel verfolgte, in Breslau im Gefängnis sitzend, die Entwicklungen in Russland mit großer Sorge: „Gewiß, jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, was sie wohl mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt“, notierte sie in ihrem Manuskript „Die russische Revolution“, das erst 1922 posthum veröffentlicht wurde. „Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können. Das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.“4

Allerdings hielten viele Aktivisten – Anarchisten und Linke Sozialrevolu­tio­näre5 – den Einsatz von Zwangs- und Zentralisierungsmaßnahmen in Zeiten des Bürgerkriegs für unerlässlich. Die Alternative zum roten Terror wäre nur der weiße Terror gewesen, schrieb der russisch-belgische Anarchist Victor ­Serge, dem die von Lenin geforderte Parteidisziplin eigentlich fremd sein musste. Für ihn war die Revolution „ein großes, für die Zukunft notwendiges Opfer“; aber das Wichtigste sei dabei, „den Geist der Freiheit aufrechtzuerhalten und wiederzufinden“.6

Die politische Polizei (Tscheka), die auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs eine Personalstärke von fast 200 000 Zivilisten und Militärs erreichte, beging zahlreiche Übergriffe, die nicht weniger grausam waren als die der Weißgardisten. Und die Hungersnot, die zwischen 1921 und 1922 rund 5 Millionen Todesopfer forderte, hatte ihre Ursache darin, dass die Bauern, nachdem man ihr Getreide mit Waffengewalt konfisziert hatte, kaum noch über Saatgut für die nächsten Ernten verfügten.

Im März 1921 kam es auf der Garnisonsinsel Kronstadt zum Aufstand. Ähnlich wie beim Februarumsturz von 1917, der mit spontanen Protestmärschen gegen die Mangelwirtschaft begonnen hatte, brachten nun die Lebensmittelrationierungen das Fass zum Überlaufen. Zuerst streikten die Arbeiter in Petrograd, einen Monat später folgten ihnen die Soldaten und Matrosen in der 30 Kilometer westlich gelegenen Inselfestung Kronstadt.

Ein von Sozialrevolutionären und Menschewiki dominiertes Unterstützerkomitee verlangte Neuwahlen in den Sowjets, Gewerkschafts- und Pressefreiheit sowie das Ende der gewaltsamen Beschlagnahmung von Lebensmitteln. „Wir treten ein für die Macht der Sowjets, nicht der Parteien“, erklärten die Aufständischen am 6. März über das Radio: „ Wir treten ein für die freigewählten Vertreter der arbeitenden Massen. Die Ersatzsowjets, die von der Kommunistischen Partei betrieben werden, blieben immer unseren Bedürfnissen und Forderungen gegenüber taub; die einzige Antwort, die wir je erhielten, war schießen.“7

Am 7. März griff die Rote Armee die angeblich „weißen“ Rebellen an und eroberte die Festung nach mehrtägigen Kämpfen. Es gab zehntausend Tote; Tausende mehr wurden anschließend hingerichtet. „Tage des Schmerzes unter Kanonendonner. Mein Herz ist vor Verzweiflung wie betäubt, etwas in mir ist abgestorben“, schrieb der russisch-amerikanische Anarchist Alexander Berkman.

Parteichauvinismus und Staatsabsolutismus

Berkman war 1919 zusammen mit seiner Freundin, der Feministin Emma Goldman, aus den USA ausgewiesen worden war. Die beiden hatten vergeblich versucht, in dem Konflikt zu vermitteln. Danach brachen sie endgültig mit den Kommunisten. In Berkmans Augen zeigte sich in Kronstadt, dass „Parteichauvinismus und Staatsabsolutismus“ zur „Essenz der kommunistischen Diktatur“ geworden waren.8

In den Parteidebatten wurde zu dieser Zeit auch schon die fortschreitende Bürokratisierung der Politik problematisiert. Kurz vor Kronstadt hatte Trotzki erklärt, der Wiederaufbau erfordere die Militarisierung der Arbeit und die Gleichschaltung der Gewerkschaften, die in einem Arbeiterstaat überflüssig seien.

Dem widersprachen mehrere linke Oppositionsgruppen. Im Januar 1921 forderte eine ihrer Wortführerinnen, Alexandra Kollontai, nach dem Sieg über die letzte weiße Armee müsse ein Kurswechsel folgen. In einem programmatischen Artikel9 formulierte sie die Forderung nach unabhängigen und einflussreichen Gewerkschaften. Nachdem die Arbeiter drei Jahre Bürgerkrieg durchlitten hätten, dürften sie zu Recht die Frage stellen: „Sind wir wirklich das Rückgrat der Klassendiktatur oder aber eine willenlose Herde, die denen zur Stütze dient, die [. . .] ohne unsere Leitung und unsere schöpferische Klassentätigkeit Politik treiben?“

Der Aufruf nach Veränderung wurde erhört, aber nicht so, wie es Kollontai erhofft hatte. Auf dem 10. Parteitag, der während des Kronstädter Aufstands stattfand, präsentierten Lenin und Trotzki ihr Wirtschaftsprogramm: die Neue Ökonomische Politik (NEP). Ab sofort sollte die Konfiskation der Ernten durch eine Naturalsteuer der Bauern ersetzt werden; kleinere und mittlere Privatunternehmen wurden wieder zugelassen, die Kontrolle des Einzelhandels gemildert. Dafür wurde die Partei noch straffer diszipliniert: Ein förmlicher Beschluss verbot jegliche Fraktionsbildung, womit nur das Politbüro und dessen Generalsekretär gestärkt wurde. Der hieß ab April 1922 Josef Stalin.

Lenin selbst hat Ende 1920 eingeräumt, „dass unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen ist“.10 Der Bürgerkrieg hatte die Arbeiterklasse als gesellschaftliche Basis der bolschewistischen Macht buchstäblich abgeschlachtet. Viele zuverlässige Kader waren in den Reihen der Roten Armee an der Front umgekommen. Der Idealismus aus der Zeit der Illegalität schwand in dem Maße, in dem die Menschen dem neuen Staat weniger aus politischer Überzeugung als aus Karrieregründen dienten. Und in der Partei gehörten 1921 nur noch 2 Prozent der Mitglieder zur alten bolschewistischen Garde, weil sich die Zahl der Mitglieder seit 1918 vervierfacht hatte.11

Ende 1922 diktierte Lenin, nachdem er schon mehrere Hirnschläge erlitten hatte, seine Gedanken über eine Reform, die nachträglich als sein Testament aufgefasst wurde. Er hielt zwar am Fraktionsverbot fest, aber die Vergrößerung des ZK und eine neue Kontrollkommission sollten für ein besseres Kräftegleichgewicht innerhalb der Partei sorgen.

Lenin gelang es nicht mehr, seine neue Linie durchzusetzen. Moshe Lewin zieht das Fazit: „Wir können zur Ehrenrettung der Bolschewiki feststellen, dass viele versucht haben, den Kurs zu korrigieren; aber auch, dass es nicht funktionieren konnte.“12

1 Siehe Dominique Colas, „Lénine politique“, Paris (Fayard) 2017.

2 Siehe zum Beispiel Moshe Lewin, „Le Siècle soviétique“, Paris (Fayard/Le Monde diplomatique) 2003, oder Alexander Rabinowitch, „Die Sowjetmacht: Die Revolution der Bolschewiki 1917“, Essen (Mehring) 2012.

3 Maxim Gorki, „Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution“, Frankfurt am Main (Insel Verlag) 1972, S. 87.

4 Rosa Luxemburg, „Die russische Revolution“, Frankfurt am Main (Europäische Verlags-Anstalt) 1963.

5 Die Sozialrevolutionäre schieden im März 1918 aus Protest gegen den von Deutschland diktierten Frieden von Brest-Litowsk aus der Regierung aus.

6 Victor Serge, „Erinnerungen eines Revolutionärs, 1901–1941“, Hamburg (Edition Nautilus) 1991, S. 133.

7 Alexander Berkman, „Die Kronstadt-Rebellion“, Basel (Schweighauser) 1971.

8 Alexander Berkman, „Der bolschewistische Mythos: Tagebuch aus der russischen Revolution 1920–1922“, Lich (Verlag Edition AV) 2004, S. 216.

9 Alexandra Kollontai, „Die Arbeiter-Opposition in Russland“, Berlin (Verlag der Kommunistischen Arbeiter-Internationale), ca. 1922. Kollontai war ZK-Mitglied und wurde 1923 Gesandte der UdSSR in Norwegen und damit erste Diplomatin der Welt.

10 Lenin, „Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis“, Rede vom 30. Dezember 1920, Werke, Bd. 32, Berlin (Dietz Verlag) 1961, S. 7.

11 Nicolas Werth, „Histoire de l’Union soviétique de Lénine à Staline (1917–1953)“, Paris (Presses universitaires de France, coll. Que sais-je?) 2017.

12 Moshe Lewin, „La Formation du système soviétique“, Paris (Gallimard, coll. Bibliothèques des histoires) 1987.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Parteien und Gruppen

von Hélène Richard

Bolschewiki Die Bolschewiki („Mehrheitler“) waren die Mitglieder der Fraktion Lenins bei der Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) 1903. Sie erklärten sich 1912 zu einer unabhängigen Partei. Der Begriff „Mehrheitler“ stammt von einer Abstimmung über die Parteiorganisa­tion und -strategie, bei der Bolschewiki und Menschewiki unterschiedliche Positio­nen vertraten. Nach der Machtübernahme 1917 gründeten die Bolschewiki im März 1918 auf dem 7. Kongress der ­SDAPR die (bolschewistische) Kommunistische Partei Russlands (später die KP der Sow­jet­union).

KD Die Konstitutionell-Demokratische Partei (KD) war eine 1905 gegründete liberale Gruppierung, deren Mitglieder nach den Parteiinitialen Kadetten genannt wurden. Nach der Februarrevolution 1917 beteiligte sich die KD an der Provisorischen Regierung. Sie lehnte die von den Sozialisten gewünschten Wirtschaftsreformen ab, setzte sich für die Fortsetzung des Kriegs ein und unterstützte den Putschversuch von General Lawr Kornilow. Im Dezember 1917 wurde die Partei von den Bolschewiki verboten.

Narodnaja Wolja ­(Volkswille) war eine anarchistische Organisation, die 1879 gegründet wurde und für mehrere Bombenanschläge verantwortlich war, darunter das tödliche Attentat auf Zar Alexander II. in Sankt Petersburg am 1. März 1881.

Menschewiki Die Menschewiki („Min­derheitler“) waren die Mitglieder der ­Frak­tion um Julius Martow und Pawel Axelrod. Bei der 1903 vollzogenen Spaltung der Partei in Menschewiki und Bolschewiki ging es vor allem um die Auslegung der marxistischen Revolutionstheorie. Nach Oktober 1917 prangerten die Menschewiki den „bolschewistischen Staatsstreich“ an. Ab 1918 waren sie gezwungen, in den Untergrund zu gehen.

SDAPR Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands wurde 1898 in Minsk gegründet. In ihren klandestinen Anfängen war sie Sammelbecken verschiedener marxistischer Arbeiterorganisationen, die vom revolutionären Potenzial des industriellen Proletariats überzeugt waren. Auf dem 2. Kongress 1903 spaltete sich die Partei in Bolschewiki und Menschewiki.

SR Die Partei der Sozialrevolutionäre wurde 1901 in Berlin gegründet und berief sich anfangs auf die Narodniki (Volksverbundenen) innerhalb der russischen Revolutionsbewegung. Sie beteiligte sich 1917 aktiv an der Februar­revolution und stellte mehrere Mitglieder der Provisorischen Regierung, in der sie sich mit den Liberalen verbündete. Im September spaltete sich die Partei in einen linken und einen rechten Flügel. Die Linken Sozialrevolutionäre unterstützten die Bolschewiki, wurden jedoch 1918 – nach ihrem Austritt aus der Regierung und einem erfolglosen Aufstand gegen die bolschewistische Alleinherrschaft – ebenfalls verboten.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2017, von Hélène Richard