07.09.2017

Mahdi erklärt Somalia

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Mahdi erklärt Somalia

Im 14. Jahrhundert war das Sultanat von Mogadischu ein florierendes Handelszentrum an der ostafrikanischen Küste. Heute gilt Somalia als Negation von allem, was die westliche Welt mit Staatlichkeit, Ordnung, Fortschritt und Modernität verbindet. Eine Reise zum vergessenen Horn von Afrika.

von Andrea Böhm

Der Lido, einst Mogadischus Flaniermeile am Indischen Ozean FEISAL OMAR/reuters
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Ein Freund, der ein paar Jahre in Mogadischu gelebt hat, hatte mit dem Kugelschreiber grob einige Orte skizziert: Den Aden Adde International Airport; den Strand, an dem einst US-Soldaten gelandet sind; den Bakara-Markt, auf dem es alles zu kaufen gibt, wenn nicht gerade geschossen wird; das Abdi-Haus, in dem es zu einem tödlichen und für die Welt folgenreichen Missverständnis kam. Ich habe einen weiteren Ort hinzugefügt. Den Lido-Club aus dem Roman „Maps“ des somalischen Schriftstellers Nuruddin Farah, der im Mogadischu der 1970er Jahre spielt. „Es war Freitag“, heißt es da an einer Stelle. „Das Auto stand auf dem Parkplatz vor dem Lido Club. Salaado war ins Clubhaus hineingegangen, um drei Portionen Eiscreme zu holen.“

Es ist meine erste Reise an das Horn von Afrika. Dieses bekritzelte Papier gibt mir das Gefühl, auf unbekanntem Territorium ein paar Orientierungspunkte zu haben. Der Flughafen ist mein Notausgang, der Strand mein historischer Bezugspunkt, der Bakara-Markt ein Barometer für die Sicherheitslage, das Abdi-Haus ein konkretes Ziel. Und die Zeilen Farahs über den Lido-Club sind gut für meine Nerven. Die Vorstellung beruhigt mich, dass Bewohner dieser Stadt vor nicht allzu langer Zeit friedlich zu einer Eisdiele schlenderten – mit nichts anderem beschäftigt als der Wahl zwischen Vanille und Stracciatella.

Weißer Sand und blaues Meer. Scheinbar endlos gleitet die Maschine von Jubba Airways entlang der Brandungswellen des Indischen Ozeans, bevor sie unweit zerschossener Häuser landet. Auf dem Rollfeld warten meine Gastgeber, ein Deutscher mit Bürstenhaarschnitt namens Volker Rath und ein rundlicher Somalier namens Mo­ha­mud Ali Diriye. Rath ist Projektleiter von Cap Anamur, einer der wenigen ausländischen Hilfsorganisationen, die zu diesem Zeitpunkt noch in Mogadischu arbeiten.

Der Übersetzer Diriye, den alle nur Mahdi rufen, verschwindet mit meinem Pass und dem Visumformular, auf dem Namen, Geburtsdatum und das Fabrikat mitgeführter Schusswaffen einzutragen sind. Rath nutzt die Wartezeit, um auf Sehenswürdigkeiten hinzuweisen: ein Flugzeugwrack, das eine islamistische Miliz mit dem harmlos klingenden Namen „al-Shabaab“ – auf Deutsch: „die Jugend“ – mit Mörsergranaten durchlöchert hat, sowie zwei gepanzerte Fahrzeuge der Afrikanischen Union, deren Soldaten die Miliz seit Jahren bekämpfen. Sie haben es immerhin geschafft, al-Shabaab aus Mogadischu zu vertreiben. Die rächt sich seitdem mit Bombenanschlägen im Stadtzentrum.

Bewaffneter Begleitschutz ist Pflicht, und so klettern drei Männer mit Kalaschnikows auf die Ladefläche unseres Pick-ups, bevor der Fahrer Gas gibt Richtung Innenstadt. Kaum gelandet, fühle ich mich völlig fehl am Platz und zugleich genau am richtigen Ort. Ich werde mich in Mogadischu weder frei bewegen noch allein zurechtfinden können. Und doch ist dies ein idealer Ausgangspunkt für mein Unterfangen: die Konturen einer neuen mappa mundi zu erkunden. Am Horn von Afrika hat sich das christliche Abendland und später der Westen seine Weltordnungen ausgemalt. Zuerst in Gestalt des Priesterkönigs Johannes, der hier die vermeintlich einzige Zivilisa­tion, das Christentum, gegen die vermeintliche Barbarei, den Islam, verteidigt haben soll. Rund 500 Jahre später durch die USA, die hier mit einer neuen globalen Ordnung scheiterten.

„Die Jungs sind absolut zuverlässig“, sagt Mahdi, nachdem wir das Haus von Cap Anamur erreicht haben, und deutet auf die schlaksigen Bewacher. „Der Kommandant gehört zum selben Sub-Klan wie ich.“ Vor dem Eisentor befindet sich ein Schlagbaum, auf den Mauern ist Stacheldraht gespannt. Der Wachschutz besteht aus Mahdis „Jungs“, einem Trupp somalischer Soldaten. Sie verdienen als privater Sicherheitsdienst mehr Geld als in der Armee, die ohnehin nur auf dem Papier existiert. Für die Zeit meines Aufenthalts kann ich mir die Mannschaft zum Freundschaftspreis von 260 Dollar pro Tag ausborgen. Vorausgesetzt, die Sicherheitslage lässt es zu, das Gelände zu verlassen.

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Zwei Tage nach meiner Ankunft bekomme ich die erste Stadtführung. Von der Kathedrale, Erbe der italienischen Kolonialherren, stehen ein paar Außenmauern, das Dach fehlt, einer der Türme ragt in den Himmel wie ein angenagter Knochen. Auf dem Tarabuunke-Gelände, einstmals der Ort für Militärparaden, hängen die Dachträger der Zuschauertribünen wie abgebrochene Zweige über den durchlöcherten Ehrenlogen.

Mehr noch als der Anblick der Ruinen verstören mich das Licht und die Farben. Sonne, Salz und Wind haben scharfe Kanten und Risse geschliffen und die zertrümmerten Häuser samt der Reklame an den Ladenfronten zu Pastelltönen gebleicht. Afrikas handgemachte Werbung ist eine Kunst für sich. Wo es keine Schaufenster gibt, wird das Warenangebot groß und bunt an die Fassaden gemalt. Die mannshohe Flasche roten Hustensafts an der Wand einer Apotheke hat gleich mehrere Kugeln in den Bauch abbekommen; an der Ruine eines Lebensmittelgeschäfts ist eine durchsiebte Packung Trockenmilch zu erkennen. Von einer Zahnarztpraxis steht noch eine Mauer mit dem Abbild eines riesigen Backenzahns.

„Ich kann dir problemlos ein hübsches Grundstück besorgen“, sagt Mahdi. „In guter Lage.“ Mahdi verdient sein Geld nicht nur als Verbindungsmann für ausländische NGOs, sondern auch als Makler. Ich habe keine Ahnung, was man in Mogadischu unter „guter Lage“ versteht. Jedenfalls steigen seit dem Abzug von al-Sha­baab die Grundstückspreise rapide an. Die Stadt ist gleichzeitig ein riesiges Flüchtlingslager und ein riesiger Immobilienmarkt. Wohlhabende Somalier kehren aus dem Exil zurück, die Baubranche boomt. Solche Aufbruchstimmung hat es immer wieder gegeben – bis sie in einer weiteren Kriegsrunde samt den neu errichteten Häusern wieder zusammenfiel. Wer hier reich werden will, ­handelt mit Waffen oder Zement. Oder mit beidem.

Vor den Trümmern der Zuschauertribünen am Tarabuunke-Gelände hat jemand unter ­freiem Himmel eine Fahrradwerkstatt aufgemacht. Jungen aus dem gegenüberliegenden Flüchtlingslager liefern sich Wettrennen, während ihre Mütter in der sengenden Sonne zwischen Hütten aus Ästen, Plastik und Decken Wasserkanister schleppen und verrußte Kochtöpfe schrubben. Die Männer hocken unter einem Wellblechdach und erzählen ihre Geschichten: Wie ihre letzten Ziegen, Schafe oder Kühe in der Dürre verendet sind, wie sie mit ihren Familien auf der Flucht aus dem Hinterland über Tage oder Wochen marschiert sind und nur haltgemacht haben, wenn wieder ein Kind zu begraben war. Dass sie seit Generationen wissen, wie man Trockenperioden übersteht. Dass aber irgendetwas nicht mehr stimmt mit dieser Welt, mit Gu und Deyr, den beiden Regenzeiten, die immer öfter ausfallen. Ich frage Mahdi nach dem somalischen Wort für Klimawandel. Er zuckt mit den Schultern. Gibt es noch nicht.

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Mahdi sehe ich nie mit einer Waffe, sondern immer mit dem Handy in der Hand. Er spricht Somali, Englisch, Arabisch und Deutsch. „Vier Jahre Ilmenau in Thüringen“, sagt er. Dort hat er in den 1980er Jahren Biomedizinische Kybernetik studiert. Damals gab es die DDR noch, und Somalia galt als sozialistisches Bruderland. Erstere ist längst abgewickelt, von Letzterem sind Fragmente geblieben, und Mahdi hat von Biomedizin zunächst auf Elektrotechnik und dann auf den Handel mit Informationen, Immobilien, Privatschutz und Vieh umgesattelt. Eine politische Karriere, inschallah, sagt er, sei nicht ausgeschlossen. Seine frömmelnde Geschäftigkeit ist mir etwas unheimlich. Dann lerne ich seine Frau kennen.

Auf unserer ersten Stadtrundfahrt halten wir im Benadir-Krankenhaus. Das Gebäude zeigt erstaunlich wenig Spuren der Zerstörung. Die chinesische Regierung hat es in den 1970er Jahren mit einer Kapazität von 600 Betten, Wasser- und Stromversorgung und stabilen Außenmauern bauen lassen. Im Dienstzimmer der Kindersta­tion türmen sich Medikamentenkisten, Krankenschwestern schneiden weißen Stoff von einer Rolle. Sie brauchen ein Leichentuch für ein zweijähriges Kind. Die Stationsärztin und ihr Mann haben einen ganzen Ballen gespendet, manchmal geben sie auch das Geld für das Begräbnis. „So was“, sagt Mahdi, „kann bis zu 50 Dollar kosten.“ Die Ärztin ist seine Frau, Doktor Lul Mohamed Muhammud.

Doktor Lul, klein und rundlich, gleitet in ihrem knöchellangen Umhang wie eine dicke Glocke über den Stationsflur. Auch bei 35 Grad Hitze zupft sie nicht ein einziges Mal an ihrem Hidschab, der sich wie eine Skihaube eng um Kopf und Hals schließt. Sie ist 49 Jahre alt und hat wie ihr Mann in Deutschland studiert. Ihre Kinderabteilung ist zum Zeitpunkt meines Besuchs die einzige funktionierende in einer Stadt mit geschätzten 1,3 Millionen Einwohnern und mehreren hunderttausend Flüchtlingen. Bei der großen Hungersnot Anfang der 1990er, sagt Doktor Lul, sei die Lage besser gewesen. „Es gab anständige Zelte für die Flüchtlinge und viel mehr Helfer.“ Damals war die Stadt noch nicht völlig zerstört. Kamerateams aus dem Ausland fuhren durch die Straßen und berichteten über die Misere. Aber dann, sagt Doktor Lul, sei eben „die Sache mit den Amerikanern passiert“.

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Die Sache mit den Amerikanern begann in den frühen Morgenstunden des 9. Dezember 1992 am Strand von Mogadischu. Kurz vor Sonnenaufgang entstiegen Froschmänner der US-Marines den Wellen des Indischen Ozeans, Schnellfeuergewehre in den Händen, die Gesichter mit Tarnfarbe beschmiert. Sie waren die Vorhut einer mehrere tausend Mann starken Truppe. Und sie sollten eine neue Ära einläuten. Die USA hatten gerade mit überwältigender militärischer Übermacht die Armee des irakischen Diktators Saddam Hussein aus Kuwait vertrieben – der erste Krieg, der live von einem noch jungen Fernsehsender namens CNN übertragen wurde.

„Operation Restore Hope“ hieß die Mission, mit der am 9. Dezember 1992 US-Marines am Strand von Mogadischu landeten. Die Armee der einzig übrig gebliebenen Supermacht sollte nicht mehr gegen das Böse kämpfen, sondern zusammen mit UN-Blauhelmen eine hungernde Bevölkerung retten und marodierende Milizen in die Schranken weisen. Die Somalier ahnten nicht, dass man im Weißen Haus und im New Yorker UN-Hauptquartier ihr Land für den Beginn dieser neuen Ordnung auserkoren hatte. Die Bewohner von Mogadischu wunderten sich nur, als plötzlich ausländische Kamerateams am Strand herumstreiften.

Das Pentagon hatte den Termin an die Presse weitergegeben. Also stapften die Elitesoldaten in dieser Nacht triefend und martia­lisch mitten ins Scheinwerferlicht der Kameras und kauerten ratlos im Sand, umringt von Fotografen und TV-Crews in Turnschuhen und Khakihemden. Schließlich fühlten sie sich bemüßigt, die Muskeln spielen zu lassen, schnappten sich einige Somalier, zwangen sie auf den Boden und durchsuchten sie nach Waffen, die sie, für jeden ersichtlich, nicht hatten. Der Vorfall machte binnen Minuten die Runde in den Straßen von Mogadischu, trübte aber nicht die westliche Berichterstattung.

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„Da“, sagt Mahdi und deutet auf ein rundes Loch von gut einem Meter Durchmesser im Dach, „da schlug eine der Raketen ein.“ Wir stehen im verwilderten Garten eines zweistöckigen Gebäudes. Einige Außenwände sind weggesprengt, das Betondach des ersten Stockwerks neigt sich wie aufgeweichte Pappe Richtung Boden. Mahdi hatte eine Weile gebraucht, um das Abdi-Haus inmitten der Ruinenlandschaft zu finden.

Wie die meisten Somalier war Mahdi damals dankbar gewesen für die Präsenz der Amerikaner und UN-Blauhelme aus Pakistan, Malaysia, Italien und Deutschland. Nach dem Sturz des Diktators Siad Barre hatten sich die Führer des Aufstands 1991 einen Machtkampf geliefert und Mogadischu entlang ihrer Klanlinien in Reviere aufgeteilt. Sich von einem Viertel zum anderen zu bewegen, erforderte exakte Kenntnis von Checkpoints und Familienstammbäumen. Der falsche Name konnte einen das Leben kosten.

Der Bürgerkrieg und die Ökonomie des Plünderns hatten bereits unter Barre begonnen und zerstörten nun, was an Industrie und Landwirtschaft übrig geblieben war. Es folgten eine Dürre und die Hungersnot. Und es folgte „Operation Restore Hope“, die erste „humanitäre Intervention“. Jedenfalls die erste, in der das Etikett „humanitär“ nicht auf ein offensichtlich koloniales oder imperialistisches Manöver geklebt worden war.

„Die saßen im zweiten Stock, als es losging“, sagt Mahdi. Ich überlege, auf den Trümmern des Abdi-Hauses etwas höher zu klettern, lasse es aber bleiben. Mahdi steht wie in Andacht vor den zerbombten Wänden, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen auf die oberste Etage fixiert. Seine übliche Geschäftigkeit ist verflogen. Für ihn ist dies keine gewöhnliche Ruine, sondern ein Familienfriedhof. Aber das begreife ich erst später.

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„Operation Restore Hope“ hatte zunächst gut begonnen: US-Soldaten und UN-Blauhelme lösten Checkpoints der Milizen auf, unterbanden Zwangssteuern für Hilfsgüter, versorgten abertausende Flüchtlinge. Und sie kartografierten die Stadt, als hätten sie sie neu gebaut. Groß eingezeichnet waren die Hauptquartiere der US-Streitkräfte und der pakistanischen Blauhelme, die UN-Büros, Nachschubdepots, Treibstofflager und die strategischen Verkehrsknotenpunkte, die nach ihrer Entfernung zum Flughafen benannt wurden: Kilometer 4 oder einfach nur K4, K6, K7.

Auf diesen Karten fehlte, was die vermeintlichen Retter nicht sahen oder sehen konnten. Nicht eingezeichnet waren die Verbindungen zwischen den einheimischen Milizen und den mächtigen Großhändlern. Nicht eingezeichnet war das komplexe Netz von Klans, Subklans. Nicht eingezeichnet waren die lokalen Märkte und die Kapazitäten der einheimischen Bauern, die nach der Dürre wieder Ernten eingefahren hatten und deren Produkte nun von ausländischen Hilfsgütern verdrängt wurden. Nicht eingezeichnet waren die Geldflüsse für die lokale Droge Khat, für Waffen, für Benzin – Ströme, die durch die internationale Intervention blockiert, verengt oder umgeleitet worden waren.

So schaukelten die Orientierungspunkte der internationalen Helfer und Soldaten wie Leuchtbojen auf einem unbekannten Gewässer. Geeignet, um sich an der Oberfläche zu orientieren, aber nutzlos, um die Strömungen darunter zu erkennen. Warum auch, wo man doch nur helfen wollte, wo doch alles zunächst so einfach schien. Die Hungersnot war gestoppt. Und wenn man mit militärischen Mitteln einen humanitären Erfolg erzwingen kann, warum dann nicht auch einen politischen? Warum nicht die Milizen entwaffnen, ein staatliches Gewaltmonopol aufbauen und das Fundament eines „normalen“ Zen­tral­staats legen?

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Ich gewöhne mich schnell an meine Leibwächter. Die Jungs grinsen, wenn ich mir ihre Waffen genauer ansehen will. Bei einer kann ich das eingravierte Jahr der Herstellung erkennen: 1969. Das Gewehr ist mehr als doppelt so alt wie sein Besitzer. Schnellfeuergewehre sind in Mogadischu im Überfluss zu haben. Aber womöglich ist dieses Exemplar mit einer offiziellen sowjetischen Lieferung nach Somalia gekommen. Siad Barre hatte nach dem Militärputsch 1969 seinem Land den „wissenschaftlichen Sozialismus“ verordnet, was ihm einen Freundschaftsvertrag mit Moskau und tonnenweise Rüstungshilfe einbrachte.

So fühlte er sich stark genug, einige Jahre später einen Krieg um den Ogaden mit dem schwächelnden Äthiopien anzuzetteln. Das Nachbarland befand sich mitten im Umbruch vom Kaiserreich zur marxistischen Militärherrschaft. Moskau wechselte prompt seinen Bündnispartner am Horn von Afrika aus und lenkte nun Geld, Waffen und Überwachungstechnik nach Addis Abeba. Auch die DDR half nach Kräften. Barre reagierte, verabschiedete sich vom „wissenschaftlichen Sozialismus“, nicht aber von seiner Diktatur, besorgte sich seine Waffen fortan mithilfe der USA und schließlich auch der Bundesrepublik.

Aus somalischer Sicht war das Ende des Ost-West-Konflikts keine Zäsur. Denn der Krieg der Systeme war in Somalia wie in so vielen anderen asiatischen und afrikanischen Nationen nie ein kalter gewesen, sondern ein von den Supermächten wechselseitig befeuertes Schlachtfeld mit Millionen von Toten und Millionen Flüchtlingen. So erleichtert die Somalier anfangs über „Operation Restore Hope“ auch waren, hatten sie doch keinen Grund, ausländischen Mächten, allen voran die USA, plötzlich als wohlmeinenden Schiedsrichtern ihrer internen Konflikte zu trauen.

Mohamed Aideed hieß der Mann, der den Aufstand gegen Barres Diktatur mit angeführt hatte. Machtbesessen wie alle anderen Kriegsherren, sah er sich als zukünftiger Präsident seines Landes, nicht als Nebendarsteller einer „New World Order“. Und schon gar nicht als Statist seiner eigenen Entwaffnung. Er schlug zu, brutal und tödlich. Zunächst gegen UN-Blauhelme. Das US-Militärkommando der Somalia-Mission fiel prompt in eine alte Gewohnheit zurück und erkor Aideed zum alleinigen „bad guy“.

Am 12. Juli 1993 steuerten 17 US-Hubschrauber auf der Jagd nach Aideed das Abdi-Haus in Mogadischu an, benannt nach seinem Besitzer, einem Weggefährten des Warlords. Mit Tomahawk-Raketen zerfetzten US-Soldaten das Dach und töteten Dutzende Menschen. Aideed war nicht in dem Haus gewesen. Dort hatten sich vielmehr Angehörige seines Klans, der Habr Gedir, versammelt: Älteste, Geschäftsleute, religiöse Führer, Richter, Professoren. Die einen befürworteten den Kampf gegen UN und USA, die anderen wollten Aideed zu einer Waffenruhe überreden. Solche Beratungen sind in Somalia Tradition, sie können Tage dauern. Diese hier endete nach wenigen Minuten mit einem Massaker an der zivilen Elite eines der mächtigsten Klans.

„Wir sollten jetzt gehen“, sagt Mahdi, der mit einer Weißen in Begleitung nie allzu lange an einem Ort in Mogadischu bleiben will. Erst einige Tage später fällt mir ein, ihn nach seiner Klan-Zugehörigkeit zu fragen. „Habr Gedir“, sagt er. „Wie Mohamed Aideed.“

Als amerikanische Elitesoldaten einige Monate nach der Attacke auf das Abdi-Haus, am 3. Oktober 1993, erneut Jagd auf Aideed machten, schossen dessen Milizen zwei Black-Hawk-Hubschrauber unweit des Bakara-Markts ab. In den folgenden Gefechten starben vermutlich über 1000 Menschen. Die meisten Opfer waren Somalier, 18 waren US-Soldaten. Mitten im Chaos fotografierte der kanadische Reporter Paul Watson somalische Zivilisten, wie sie die nackte Leiche eines amerikanischen Soldaten durch die Straßen schleiften. Am nächsten Morgen wurden die Fotos auf CNN und in den US-Zeitungen gezeigt. Ich sah sie damals in meinem Büro in Washington.

In den folgenden Stunden und Tagen brach sich in den US-Medien eine Flut von Emotionen Bahn: Verbitterung über die grausame Undankbarkeit hungernder Afrikaner, denen man hatte helfen wollen; Wut über die Demütigung der einzigen Supermacht durch ein paar lumpige Klanmilizen. Rufe nach dem sofortigen Abzug aller US-Truppen aus Somalia gingen einher mit der Heroisierung der getöteten Soldaten.

Die somalischen Opfer wurden in den westlichen Medien fast völlig ausgeblendet. Die alte koloniale Hierarchie vom Wert des Lebens blieb somit zwar bestehen. Aber sie manifestierte nicht mehr die Dominanz westlicher Nationen, sondern ihre Verwundbarkeit. Washington zog seine Truppen, die UNO wenig später ihre Blauhelme aus Somalia ab. Seither gilt das Land wieder als nicht zu zivilisierendes Dschungelgebiet.

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Wir passieren die Absturzstellen der Hubschrauber und den Bakara-Markt. Händler räumen die Trümmer der jüngsten Kämpfe zwischen Soldaten der Afrikanischen Union und al-Shabaab aus dem Weg. Elektronikläden, Lebensmittelgeschäfte und die Hawala-Büros, in denen Bargeld zwischen der somalischen Diaspora und den Familien und Firmen in der Heimat transferiert wird. Sie sind das finanzökonomische Rückgrat eines Landes, in dem es schon lange keine Banken mehr gibt. Einige Straßen weiter, am alten Hafen, wuchten halbwüchsige Tagelöhner Schwertfische, Haie und Thunfische auf ihren Schultern in die Halle des Fischmarkts und lassen sie auf den glitschigen Boden klatschen.

Ich würde gern am Bakara-Markt aussteigen und nach Souvenirs aus den 90er Jahren stöbern. Kaum waren nach den USA auch die letzten UN-Mitarbeiter aus Somalia abgezogen, hatten Plünderer deren 160 Millionen Dollar teures Hauptquartier zerlegt und alles, was sie nicht selbst brauchten, auf dem Markt verhökert. Was 1992 eine neue Ära einleiten sollte, wird nun in bester afrikanischer Tradition bis auf die letzte Schraube recycelt. „Shoppen auf dem Bakara-Markt?“, Mahdi schüttelt den Kopf. „Zu gefährlich.“

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Inzwischen hat man fast vergessen, wie „Die Jugend“ einst aufgetaucht ist. Weder war die Truppe vom Himmel gefallen noch wie die Amerikaner aus dem Indischen Ozean gestiegen. Nach dem Debakel der internationalen Interventionen versuchten die USA, die EU, die UN, die AU zu erkaufen, was man nicht hatte erzwingen können. Mit fürstlichen Tagegeldern wurden Somalias Kriegsherren, Politiker und Geschäftsleute zu Friedensverhandlungen in edle Hotels nach Nairobi, Addis Abeba und Dschibuti gelockt. Vom Westen finanzierte Übergangsregierungen, deren Minister überwiegend im Ausland lebten, scheffelten internationale Gelder. Eine Konferenz­öko­nomie florierte, während in Mogadischu die Kämpfe zwischen Klanmilizen in unterschiedlicher Intensität weitergingen. Dann kristallisierte sich eine neue Ordnungsmacht heraus: die Religion.

Nach 17 Jahren Bürgerkrieg übernahm im Frühjahr 2006 eine Union Islamischer Gerichtshöfe die Kontrolle in Mogadischu und Umgebung. Dahinter steckte ein Netzwerk lokaler Scharia-Gerichte, unterstützt von Geschäftsleuten, die ein Mindestmaß an Recht und Ordnung brauchten, um weiter Handel treiben zu können. Die Union, zu der auch radikale Islamisten gehörten, löste Straßenbarrikaden auf, entwaffnete Klanmilizen, öffnete Schulen und Kliniken. Verstecke der inzwischen notorischen Piraten an Somalias Küste wurden ausgehoben. Der Preis für diesen Frieden bestand in einer strengen religiös-­sozialen Kontrolle. Auch die Volksdroge Khat wurde verboten. Die Mehrheit der Menschen in Mogadischu, erschöpft von Gewalt und Chaos, schien fürs Erste bereit, diesen Preis zu bezahlen.

Nur steckte die Welt da bereits in einem ­neuen globalen Frontverlauf. Am 11. September 2001 hatte Osama bin Laden, inzwischen Meister des asymmetrischen Kriegs und seiner Inszenierung, die Verwundbarkeit des Westens dramatischer demonstriert, als jedes Pressefoto, jeder Hollywood-Katastrophenfilm es vermocht hätte.

Mogadischus vertriebene Kriegsherren witterten ihre Chance und boten sich den USA als anti-islamistische Killerkommandos an, was Washington mit reichlich Geld und Waffen honorierte. Ausgerechnet zusammen mit der äthiopischen Armee setzten sie die Gerichtshöfe Ende Dezember 2006 ab und die korrupte Übergangsregierung wieder ein. Der Teufelskreis von Kämpfen zwischen Klanmilizen, Flüchtlingsströmen und Hungersnöten begann von Neuem, dieses Mal erweitert um das Einzige, was von der Union Islamischer Gerichtshöfe übrig geblieben war: ein radikalisierter extremistischer Flügel mit dem Namen al-Shabaab. Der klebte sich das Etikett „al-Qaida“ an und schwor Osama bin Laden die Treue.

Seither wird Somalia täglich, manchmal stündlich, neu kartografiert: von Satelliten, die digitale Zielvorlagen für Drohnenangriffe des Pentagons auf Stellungen der al-Shabaab liefern.

Andrea Böhm ist Nahostkorrespondentin der Zeit mit Sitz in Beirut.

© Der vorliegende Text ist ein gekürzter Auszug aus ihrem neuen Buch „Das Ende der westlichen Weltordnung. Eine Erkundung auf vier Kontinenten“, München (Pantheon), das am 2. Oktober erscheint. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte.

Le Monde diplomatique vom 07.09.2017, von Andrea Böhm