08.06.2017

Die wilden Jahre

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Die wilden Jahre

Das Gewitter ist vorbeigezogen, die von der Wahl Trumps und vom Brexit ausgelöste Sorge gebannt. Der deutliche Sieg Emmanuel Macrons begeistert die Führungsriege der Europäischen ­Union. Ein Kommentator verkündete gar in der Zeitung Libéra­tion vom 10. Mai beglückt, „dem Populismus sei damit ein erster entscheidender Schlag versetzt worden“. Die neue Führung Frankreichs will nun die Gunst der Stunde nutzen und kompromisslos die neoliberale Agenda der Europäischen Kommission umsetzen. Ihr erstes Ziel ist das Arbeitsgesetz. Die altbekannte Politik wird nun in Paris von einem jüngeren, kultivierteren Mann verkörpert, dem es nicht so vollständig an Fantasie und an Charisma mangelt wie seinem Vorgänger.

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Dank der Wunder der Kommunikation und mit einer Abstimmung für das kleinere Übel lässt sich diese kleine Veränderung umdeuten in einen historischen Wandel, der kühne Möglichkeiten eröffnet. Die westliche Presse schwärmt von dem neuen Wunderkind, doch die von ihr bejubelte Überwindung der Kluft zwischen beiden Lagern ist reine Fantasie: Seit 1983 verfolgen Sozialisten und Konservative in Frankreich abwechselnd die gleiche Politik. Von nun an finden sich Teile beider Seiten in derselben Regierung, morgen in derselben Parlamentsmehrheit. Die Sache wird klarer, das ist aber auch alles.

Die korrupten spanischen Konservativen kleben an der Macht, die Rechtsliberalen siegen in den Niederlanden, die britischen und deutschen Konservativen haben den Wahlausgang im Griff: Das alles deutet darauf hin, dass der Sturm des Zorns, der das vergangene Jahr geprägt hatte, mangels ­politischer Alternativen verpufft ist.

Die Wahl Macrons unter der blauen Fahne mit den goldenen Sternen und sein sofortiger Besuch in Berlin zeigen, dass Merkels Marsch­richtung für Europa fortgesetzt wird. Für die Griechen bedeutet das eine weitere Kürzung ihrer Renten, bei der Experten nur darüber streiten, ob es die 13. oder 14. ist, um noch einmal 9 Prozent. Der Umgang mit Präsident Trump, dessen Launen und Prahlereien die westlichen Regierungen eine Weile beunruhigt hatten, wird immer normaler, für den Notfall ist sein Impeachment organisiert. Um den Triumph der Regierenden der Alten Welt voll zu machen, fehlt nur noch, dass in den nächsten Monaten Renzi in Italien an die Macht zurückkehrt.

In den 1920er Jahren stellte die Kommunistische Internationale fest, dass die meisten europäischen Staaten – zumal Großbritannien und Deutschland – nach einer Phase der Streiks und der Revolu­tionen in den gewohnten Rhythmus zurückgekehrt waren, und musste einräumen, dass sich der Kapitalismus „stabilisiert“ hatte. Sie wollte aber nicht gänzlich die Waffen strecken und erklärte im September 1928, das könne nur eine „teilweise, vorübergehende und morsche“ Ruhepause sein. Die Warnung klang eher mechanisch. Es war die Zeit der Euphorie bei den Besitzenden, es waren die ­wilden zwanziger Jahre. Ein Jahr später brach der Schwarze Freitag über sie herein. ⇥Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 08.06.2017