13.11.2009

Chronik einer Machtergreifung

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Chronik einer Machtergreifung

Hauptmann Camara ist jetzt Präsident – und Besitzer Guineas von Gilles Nivet

Wir wollen nicht ewig an der Macht bleiben. Wir wollen freie und transparente Wahlen, auf die Guinea und seine Armee stolz sein werden.“ Mit diesen Worten beruhigte der Sprecher der Putschisten, Hauptmann Moussa Dadis Camara, zwei Tage nach dem Staatsstreich vom 23. Dezember 2008 seine Landsleute und die Weltgemeinschaft. Zehn Monate später ließ er die Maske fallen: Am 28. September 2009 wurden im Stadion von Conakry mehr als 200 friedfertige Demonstranten von Soldaten niedergemetzelt. Am nächsten Tag bahnte sich Camaras Tross hupend einen Weg durch die Menge hysterisierter Anhänger, und der Hauptmann brüllte, von sich in der dritten Person sprechend, in die Mikrofone der Fernsehjournalisten: „Das ist der phänomenale Patriot Dadis. Ein Mythos! Das ist die Macht des Volkes. Nicht einmal Hauptmann Dadis versteht dieses Phänomen! Ein Phänomen von Gottes Gnaden!“

Der Juntachef jubelte, denn sein Plan war aufgegangen, den er lange vor dem Tod von Präsident Lansana Conté am 22. Dezember 2008 geschmiedet hatte. Schon General Conté hatte sich 1984 nach dem Tod von Ahmed Sékou Touré, dem Gründervater des unabhängigen Guinea, an die Macht geputscht. Frankreich, die USA und die meisten afrikanischen Staaten waren erleichtert, als der grausame „Genosse Sékou Touré“1 das Zeitliche segnete. Seinem Nachfolger, der in den folgenden 25 Jahren „Afrikas Perle“ an multinationale Unternehmen verschacherte, begegneten sie hingegen mit Wohlwollen – trotz dessen offenkundiger Missachtung der Menschenrechte.

Die Guineer sind arm. Von den Einnahmen aus den Exporten (vor allem Bauxit sowie Gold, Diamanten, Eisen) haben sie nichts. Im Human Development Index des UN-Entwicklungsprogramms UNDP steht das Land auf Platz 170 von 182 Staaten. Anders als erhofft kam es nach Sékou Tourés Tod auch nur in wenigen Wirtschaftsbereichen wie dem Bergbau zum Aufschwung. Und daran bereicherte sich vor allem die Regierungsclique samt Entourage.

Hauptmann Camara war gut vorbereitet; er ist mitnichten der von den Medien beschriebene bescheidene, unbekannte Soldat. Als sich zum Beispiel am 22. Januar 2007 anlässlich der Massenproteste gegen Contés korruptes Regime auch Soldaten aus der Alpha-Yaga-Kaserne den Demonstranten in den Hauptstraßen von Conakry anschließen wollten, die das Regime zu stürzen drohten, sicherte Camara, dem das Treibstofflager der Armee unterstand (übrigens ein einträglicher Posten), die Waffenlager in der Kaserne und vereitelte so den Putschversuch. Damit behielt er die Entscheidung über den Zeitplan in der Hand.

Während der letzten Monate vor dem Tod von Präsident Conté machte er häufig von sich reden: Mit diplomatischen Geschick einigte er die verschiedenen Fraktionen innerhalb der Armee, um die Privilegien der Militäroligarchie über den bevorstehenden Tod des Präsidenten hinaus zu retten. Jahrzehntelang war die Armee die Stütze des Regimes gewesen. Und aus dem Hintergrund lenkte Hauptmann Camara Meutereien von Soldaten, die höheren Sold forderten. Dutzende von Zivilisten – von den Soldaten terrorisiert – kamen in den Jahren 2007 und 2008 dabei zu Tode. Der letzte Aufstand bot Camara schließlich die Gelegenheit, hochrangige Offiziere kaltzustellen, die seine Pläne zu durchkreuzen drohten.

Derweil fetzten sich in aller Öffentlichkeit die Familienmitglieder des sterbenden Generals, weil sie Angst hatten, ihre Privilegien zu verlieren. Das Ganze hatte etwas Surreales: So verkündeten die staatlichen Sender täglich neue Beschlüsse und Gegenbeschlüsse über die Besetzung hoher Posten. Am Bett des Todkranken wurden hastig Verträge unterschrieben, die über die Zukunft des Landes entschieden.

Ein Phänomen von Gottes Gnaden

Nach dem Staatsstreich am 23. Dezember 2008 zog Camara, in die Nationalflagge gehüllt und von der Menge umjubelt wie ein römischer Feldherr nach siegreicher Schlacht an der Spitze seiner Armee durch Conakry. Man staunt über die Bilder der Volksfreude, die in allen Medien gezeigt wurden. Hatte man den Soldaten verziehen, dass sie auf Demonstranten geschossen hatten und marodierend durch die Straßen gezogen waren? War die Militärrevolte vom Februar 1996 vergessen, die das Land zwei Tage lang in Atem gehalten hatte? Sicher nicht.

Die Bevölkerung war einfach nur erleichtert, dass der Machtwechsel ohne einen einzigen Schuss vonstatten gegangen war. Seit Jahren hatten Gerüchte über den Tod von Präsident Conté die Leute in Angst und Schrecken versetzt. Wäre es zwischen den rivalisierenden Lagern innerhalb des Militärs nämlich zu Kämpfen gekommen – die Kasernen Samory Touré und Alpha Yaya Diallo liegen mitten in der Stadt –, hätte zumindest ganz Conakry darunter gelitten. Und viele machten sich Sorgen, dass die kriminelle Kaste, die sich schon seit Jahrzehnten an der Macht hielt, sich während eines verfassungsrechtlichen Vakuums in der Übergangsphase endgültig festsetzen könnte.

Camara, ein einfacher Hauptmann, der wortgewandt ist und wie ein Popstar auftritt, begeisterte die Leute, als er die Bonzen des Regimes vom Sockel stürzte. In flammenden Reden, die auf allen Kanälen ausgestrahlt wurden, versprach er, Ungerechtigkeit, Korruption und den Drogenhandel zu bekämpfen. War da ein neuer Jerry Rawlings2 geboren? Einige träumten sogar von einer Reinkarnation des legendären Thomas Sankara.3 Umso brutaler war das Erwachen.

Als Erstes hob die Junta die Verfassung auf und schaffte die staatlichen Institutionen ab. Der Präsident der Nationalversammlung Aboubacar Somparé wartete am 24. Dezember 2008 vergebens darauf, dass man ihn aufforderte, dem Verstorbenen als Interimspräsident zu folgen, wie es die Verfassung vorsah. Mouctar Diallo, jüngster und radikalster Führer der Opposition und Gründer der Nouvelles forces démocratiques (Neue demokratische Kräfte), prangerte als Einziger den Verfassungsbruch an: „Lieber eine schwache Institution an der Macht als die Armee.“

Der seit 2007 vorbereitete demokratische Übergang war damit de facto abgebrochen. Die Parlamentswahlen, die mit 8 Millionen Euro von der EU finanziert werden sollten, waren bereits dreimal verschoben worden. Eigentlich war geplant, dass ein neu gewähltes Parlament den todkranken Präsidenten Conté für regierungsunfähig erklären und so entmachten würde. Doch die von internen Auseinandersetzungen zerriebene Opposition und die Bürgerrechtsgruppen konnten den Verwaltungsapparat nicht dazu bewegen, die vorgesehenen Wahlen auszurichten, zumal die Beamten verdächtigt wurden, das Ganze ohnehin zu sabotieren.

Die bisherige Regierung beschwerte sich zwar pro forma über die Illegalität des Militärputschs. Gleich darauf stellte sie sich dem „Präsidenten“ aber „vollständig zur Verfügung“ und dankte ihm für seine „Weisheit“. Sogar die Anführer der Protestbewegung, die das Conté-Regime Anfang 2007 fast gestürzt hätte, schienen sich nicht mehr an die Verbrechen der Armee zu erinnern und bescheinigten Hauptmann Camaras neu installiertem Nationalrat für Demokratie und Entwicklung (Conseil national pour la démocratie et le développement, CNDD) „Aufrichtigkeit, Entschlossenheit und eine freundliche Gesinnung“.4 Auch die Gewerkschaften gratulierten zwei Tage nach dem Putsch „der guineischen Armee zu ihrem Beitrag zum politischen Wandel“,5 nachdem der neue Staatschef verkündete hatte, er wolle „im Land aufräumen“. Die Opposition freute sich ihrerseits über die öffentliche Würdigung durch den Juntachef („Ich ziehe den Hut vor euch“) – und die ihnen in Aussicht gestellten Ministerposten.

Während die USA den Staatsstreich umgehend verurteilten, nahmen ihn die EU und Frankreich lediglich „zur Kenntnis“, um hinzuzufügen, dass die Junta doch fast landesweiten Zuspruch erhalten habe. Sie stellten nur eine Forderung: die schnellstmögliche Rückkehr zur verfassungsgemäßen Ordnung. Der französische Staatssekretär für Zusammenarbeit war der erste westliche Diplomat, der im Januar 2009 Conakry einen Besuch abstattete. Im Namen von Präsident Sarkozy äußerte er seine große Besorgnis über die Situation – zumal man dem französischen Großindustriellen und Sarkozy-Intimus Vincent Bolloré den Auftrag für die Modernisierung des Hafens von Conakry entzogen hatte.6 In seinen ersten öffentlichen Verlautbarungen hatte der CNDD-Chef dies als sein zunächst wichtigstes Projekt bezeichnet.

Die Junta auf der einen und die Parteien, Gewerkschaften und Verbände auf der anderen Seite einigten sich schnell auf eine Übergangsphase, die Ende 2009 in „freie, glaubwürdige und transparente“ Parlaments- und Präsidentschaftswahlen münden sollte. Der CNDD verpflichtete sich, keinen eigenen Kandidaten aufzustellen. „Die Putschisten haben Glück gehabt“, schrieb damals die Wochenzeitschrift Jeune Afrique, „denn mit ihrem Staatsstreich haben sie nur umgesetzt, was der UN-Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen in Westafrika, Ahmedou Ould-Abdullah, für Guinea bereits im Jahr 2003 empfohlen hatte: einen Militärputsch und eine Übergangszeit zur Vorbereitung von freien Wahlen – also das ‚Szenario für einen radikalen Neuanfang‘, wie es unter UN-Diplomaten heißt.“7

Die Schonfrist war nur von kurzer Dauer. Die allabendlich vom Staatsfernsehen übertragenen Shows mit Hauptmann Camara amüsierten die Zuschauer zwar eine Weile, aber sie verrieten auch sein impulsives, cholerisches und gewalttätiges Wesen. Und seine Lügen: Der neue starke Mann hatte erklärt, er wolle den Ethnozentrismus bekämpfen, ernannte allerdings ausschließlich Guérzé, also Leute seiner Ethnie, zu hohen Beamten. Er setzte sie an die Spitze von Ministerien, privaten Unternehmen und natürlich der Armee. Alle Gouverneurs- und Präfektenposten wurden von Offizieren besetzt, sogar die Direktionen der Goldminen.

Camara hatte Sicherheit versprochen: Doch seit seinem Machtantritt treiben Bewaffnete, die meistens in Uniform auftreten, ungestört und zu jeder Tages- und Nachtzeit ihr Unwesen. Oft geht es um politisch motivierte Abrechnungen. Und Verhöre, die vermeintlich Korruption aufdecken sollen, arten darin aus, dass die Opfer erpresst werden. Und das Geld daraus fließt direkt in die Kassen des CNDD in der Alpha-Yaya-Kaserne. Die einträglichsten Sektoren wurden direkt dem Präsidenten unterstellt: die Ministerien für Bergbau, Zoll und Steuern, der Hafen von Conakry und die Einnahmen durch die Sozialversicherung. Das ganze Geschäftsgebaren des neuen Regimes ist völlig undurchsichtig. Wer bereit war zu zahlen, konnte seinen unter Conté geschlossenen Vertrag verlängern, andere Abkommen wurden gleich gekündigt, um sie neu zu verhandeln und dabei ordentlich abzukassieren.

Und der angekündigte Kampf gegen den Drogenhandel existiert nur als Medienshow für die internationale Presse – mit lächerlichen Ergebnissen: Nach neun Monaten an der Spitze einer Brigade aus 600 Polizisten, die eine „Spezialausbildung“ haben, wurden unter Kommandant Moussa Tiegboro 22 Kilogramm Kokain und anderthalb Tonnen Marihuana sichergestellt. Dabei gilt Guinea gilt als Drehscheibe des Drogenhandels in Westafrika, Kokain wird hier tonnenweise verschoben. Die Drogenjagd dient vor allem als Vorwand, um die Armee und die Polizei von höheren Chargen zu säubern, die Camara loswerden will. Sie werden gefoltert und sind unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt.

In zehn Monaten hat Camaras CNDD seine Macht gefestigt. Das Conté-System blieb bestehen. Jüngere Darsteller spielen die Hauptrollen, aber die Szenerie ist unverändert – bis zum Massaker vom 28. September. Der Demokratisierungsprozess wird zur Farce: Im Januar 2009 sollte ein Nationalkomitee für den Übergang als Zusammenschluss von CNDD, Parteien, Gewerkschaften und Verbänden geschaffen werden. Ende Juli wurde es per Präsidentendekret gegründet, ist jedoch immer noch nicht handlungsfähig. Das für die Vorbereitung der Wahlen nötige Geld wurde erst im August freigegeben; und jetzt ist es natürlich zu spät, die für das Jahresende vorgesehenen Wahlen auszurichten. Es heißt, Ende Januar 2010 sei es so weit. Und schon zieht der Juntachef seinen Joker: Er hatte „auf Bibel und Koran“ vor der ganzen Welt geschworen, dass er bei den Wahlen Ende 2009 nicht kandidieren werde. Nichts aber hindert ihn daran, 2010 zu kandidieren, „wenn das Volk es verlangt!“

Fußnoten: 1 Der Hoffnungsträger der Unabhängigkeitsbewegung Ahmed Sékou Touré entpuppte sich als gnadenloser Diktator; zum Symbol seiner Schreckensherrschaft wurde das berüchtigte Lager Boiro, in dem Zehntausende zu Tode kamen. 2 Jerry Rawlings putschte sich 1981 in Ghana an die Macht und führte danach ein Mehrparteiensystem ein. Schon zu Beginn seiner politischen Laufbahn hatte er der Korruption den Kampf angesagt. 3 Thomas Sankara, Präsident von Burkina Faso von 1983 und 1987, war ein populärer Vertreter des Panafrikanismus. Er wurde am 15. Oktober 1987 bei einem vom heutigen Staatschef Blaise Compaoré angeführten Staatsstreich ermordet. 4 www.africaguinee.com, 6. Januar 2009. 5 www.infosud.org, 13. Januar 2009. 6 Thomas Deltombe, „Les guerres africaines de Vincent Bolloré“, Le Monde diplomatique, April 2009. 7 Jeune Afrique, Paris, 11. Januar 2009.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Gilles Nivet ist Journalist, Autor des Dokumentarfilms „Cona’cris, la révolution orpheline“ (2008); www.10francs.fr.

Le Monde diplomatique vom 13.11.2009, von Gilles Nivet