11.05.2017

Bei den Fulbe in Nigeria

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Bei den Fulbe in Nigeria

„Wir werden das aufschreiben, damit alle es lesen können. Wer Fulbe tötet, ob Soldat oder nicht, lädt große Schuld auf sich und wird eines Tages dafür bezahlen müssen, wie lange es auch immer dauern mag.“ Nasir Ahmad El-Rufai, Gouverneur des Bundesstaats Kaduna im Nordwesten von Nigeria

von Elnathan John

In der Molkereigenossenschaft von Dangwala Karfi, nördlich von Kano (Nigeria) AKINTUNDE AKINLEYE/ullstein bild
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Ein Modellreservat in Abuja, Hauptstadt von Nigeria. Hier sollen Wanderhirten moderne Methoden der Viehzucht und der Milchproduktion lernen – das ist zumindest die Hoffnung. Etwa 13 Prozent der Bevölkerung Nigerias, 22 Millionen Menschen, sind Hirten, die Wanderweidewirtschaft betreiben,1 sie versorgen die Bevölkerung mit ihren lokal erzeugten Fleisch- und Milchprodukten. Die meisten dieser Hirten sind der Abstammung nach Fulbe.

Als ich meinen Besuch in diesem Reservat plane, ist die Besorgnis von Freunden, aber auch von Unbekannten groß. Sie ist fast mit Händen zu greifen. „Sei bloß vorsichtig“, schreibt einer. „Pass auf, du weißt ja, wie diese Leute sind“, schreibt ein anderer. Eine dritte Person, die ich nicht kenne, twittert: „Das sind Terroristen.“

In den Tagen vor meiner Reise habe ich mich mit mehreren Fulbe getroffen, die meisten von ihnen Hirten. Ich habe keinerlei Anhaltspunkte dafür gefunden, dass die Befürchtungen ernst zu nehmen sind – mir ist beim direkten Kontakt nichts Ungewöhnliches an diesen Leuten aufgefallen. Sie machen sich die gleichen Sorgen um Leben und Sicherheit wie wir alle, zeigen bei Festen die gleiche Lebensfreude, betrauern Verluste wie wir.

Trotzdem kann ich gegen die Bilder in den Köpfen mancher Leute nichts ausrichten, viele wiederholen die bekannten Stereotype und Äußerungen wie die, die ich eingangs zitiert habe – von einem Politiker, der von den Fulbe abstammt. Der Kontext solcher Äußerungen interessiert diese Leute nicht, sie sind der Meinung, sie hätten handfeste Beweise für ihre Sicht der Dinge: Presseberichte über Fulbe-Hirten, die Dörfer oder landwirtschaftliche Gemeinschaften angreifen; und Aussagen, die das Klischee bestätigen, dass die Fulbe rachsüchtig seien.

In jüngster Vergangenheit gab es viele Berichte, wonach der große Konflikt in Nigeria zwischen den Hirtennomaden – es ist dann oft von den Fulbe die Rede – und den sesshaften Gemeinschaften für mehr Todesopfer verantwortlich sein soll als die Terrorsekte Boko Haram. Manche bezeichnen diesen Konflikt (der sich über mehrere Regionen erstreckt, aber im Nordwesten und im nördlichen Zentralnigeria besonders intensiv ist) bereits als „die nächste Boko Haram“. Fast immer geht es dabei, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, um Weiderechte und Wanderweidewirtschaft.

Viehherden zogen schon durch das Gebiet, als das Land Nigeria noch gar nicht existierte. Manche datieren das Auftauchen der Fulbe und ihrer Herden in den Haussastaaten (heute Nordnigeria) bis ins 12. Jahrhundert zurück. Lange bevor die Briten dieses Gebiet kolonisierten, hatten Emirate – als Nachfolger der Haussa-Königreiche – eine formalisierte Beziehung zu den Hirten hergestellt, in dem sie ein Steuersystem namens Jangali einführten, das die Viehbestände registrierte. Dank dieser organisatorischen Erfassung konnten die Hirten sowohl während der Trockenzeit als auch in der Regenzeit Weideland nutzen, ihre Wege von Weide zu Weide wurden über die Grenzen der Emirate hinweg ausgewiesen.

Kein Schutz mehr für Viehwanderwege

Die Kolonialgesetze aus den Jahren 1904 und 1906 behielten diese Art der Besteuerung bei. Und solange das Steuersystem geschützt war, blieben auch die Wege geschützt. Nach dem Ende der Kolonialherrschaft existierten die Wege weiter, aber die politischen Verhältnisse veränderten sich. Es entstanden neue Bundesstaaten. 1978 wurde dann ein Landnutzungsgesetz erlassen, das den Bundesstaaten die Kontrolle über das Land zusprach, aber die Viehwanderwege nicht ausdrücklich schützte. Damit bot sich den Bauerngemeinschaften die Gelegenheit, lokale und sogar legale Übergriffe auf alte Weidewege zu verüben. Die Folge waren Konflikte mit wandernden Viehhirten. Schätzungen zufolge leben 50 Prozent aller Hirten in Nigeria halbnomadisch: In der Trockenzeit treiben sie das Vieh aus der Sahelregion in Gebiete mit mehr fruchtbarem Land, in der Regenzeit kehren sie an ihren Ausgangspunkt zurück.

Laut Nigerias Landnutzungsgesetz obliegt die Kontrolle über Grund und Boden den einzelnen Bundesstaaten, die die Viehwanderwege nicht eigens durch Gesetze schützen. Im Zuge des Bevölkerungswachstums und mit der fortschreitenden Verstädterung wird Land, das einst Weideland war, als Acker- oder Bauland verkauft.

In den ländlichen Gebieten verteilen immer noch die traditionellen Autoritäten – wie Bezirksvorsteher und Clanchefs – das Land. Auf die Wanderwege der Hirten nehmen sie dabei kaum Rücksicht. Fruchtbares Weideland wird zudem in Nigeria immer knapper, weil weniger Regen fällt, weil die Wüsten sich ausbreiten und viele Nomaden aus Angst vor Krankheit, vor kriminellen Banden oder aus Überdruss am unbequemen Leben der Wanderhirten sesshaft werden.

Nigeria hat es nicht geschafft, eine nationale Landnutzungspolitik zu entwickeln, die diesen Veränderungen Rechnung trägt. Dadurch hat sich der Konflikt zwischen den halbnomadischen und sesshaften Hirten und den Ackerbau betreibenden Gemeinschaften, in denen die Hirten leben oder über deren Land sie ziehen, verschärft. Das gilt für ganz Nigeria, vom fruchtbaren Ackerland im südlichen Teil des Bundesstaats Kaduna im Nordwesten bis weit hinunter in den Bundesstaat Enugu im Südosten.

Ich telefoniere mit Mohammed Tukur, Rechtsanwalt und Hirte vom Volk der Fulbe, um mehr über die jüngsten gewaltsamen Zusammenstöße in Kaduna zu erfahren. Außerdem möchte ich verstehen, wie die verschiedenen Routen der Viehherden von der Sahelzone nach Nigeria verlaufen. Er erklärt mir, wie vielfältig und gut organisiert das Banditentum auf dem Land mittlerweile ist.

Die Banditen, die Menschen entführen oder Vieh stehlen, arbeiten mit größeren kriminellen Banden zusammen, die ihnen helfen, das gestohlene Vieh loszuwerden oder Lösegeld einzutreiben. Mohammed erzählt mir von einem Verwandten, der kürzlich entführt wurde. Die „Fulbe-Jungs“, die ihn mitgenommen hatten, ließen sich nicht abbringen von ihrer Lösegeldforderung, obwohl er versuchte, die Behörden ganz oben einzuschalten.

Von einer hochrangigen Person, die sich mit Entführungen prominenter Ausländer im nördlichen Zentralnigeria auskennt, erfahre ich, dass es tatsächlich Fulbe waren, die in Nigeria lebende Ausländer verschleppt hatten; dann hätten sie die Entführten an kriminelle Profis weitergegeben, die keine Fulbe seien; und die hätten dann über das Lösegeld verhandelt.

Jeder Medienbericht über einen Raubüberfall, bei dem die Täter mutmaßlich Fulbe sind, bestätigt das Klischee von den bewaffneten Fulbe-Hirten, die marodierend durchs Land ziehen. Dabei sind an den kriminellen Netzwerken und Banden immer wieder Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft beteiligt.

Die Fulbe-Hirten, die meist abgeschieden in ländlichen Gebieten leben, werden häufig selbst Opfer von Überfällen und Viehdiebstählen. Die Täter gehören ganz verschiedenen Ethnien an. Lawan, ein Hirte, mit dem ich in Abuja gesprochen habe, hat mir erzählt, dass ein Fulbe-Hirte mit ganz einfachen Waffen unterwegs ist, einer Machete oder einer Flinte, denn „das gehört zu seiner Lebensweise“. Und er fügte hinzu: „Wenn du jemanden mit einer Pistole, einer Kalaschnikow oder einem großkalibrigen Gewehr siehst, ist das kein Hirte. Der hat was anderes im Sinn.“

Über die daraus entstehenden Konflikte und Vergeltungsmaßnahmen wird meist ausführlicher berichtet als über den Mord an einem Hirten in einem Dorf oder eine in einem Wald gestohlene Kuhherde. Der Ausgangskonflikt zwischen einem Bauern und einem Hirten findet weniger Beachtung als die Vergeltung, die sich womöglich anschließt. Mit der Schlagzeile „Fulbe-Hirte überfällt Dorf“ lässt sich die Klischeevorstellung von einer blutrünstigen, expansionistischen ethnischen Gruppe leider allzu leicht bedienen.

Die Einrichtung von Weidereservaten könnte helfen, so die Meinung vieler Experten, die gewaltsamen Konflikte zwischen Fulbe-Hirten und sesshaften Gemeinschaften zumindest teilweise zu entschärfen. Nigeria müht sich seit Jahren um ein entsprechendes Gesetz, doch auf Bundesebene wurde es bei jedem neuen Anlauf wieder abgeschmettert. 2016 stimmten die Senatoren gegen ein Gesetz, das die Einrichtung von Weidereservaten im gesamten Land vorsah – mit dem alten Argument, es sei verfassungswidrig, weil die Gesetzgebung über Grund und Boden bei den Einzelstaaten liege.

Schule ohne Stühle, Klinik ohne Arzt

Es gibt Überlegungen, den mehrheitlich muslimischen Fulbe-Nomaden aus dem Norden Landflächen in der Mitte und sogar im Süden zur Verfügung zu stellen. Das scheint vernünftig, ist aber politisch höchst brisant. Deshalb scheuen viele von vornherein jede Diskussion. Eine Gesetzesinitiative sieht die Einrichtung einer Kommission vor, die bevollmächtigt wäre, Land zu beschlagnahmen, das als Weideland geeignet ist. Die politischen Gegner dieser Lösung behaupten, das Bestreben, in ganz Nigeria Weideland auszuweisen, sei ein Trick, um mit den muslimischen Hirten Nigeria zu islamisieren.

Das Modellreservat, das ich mir in Abuja angesehen habe, ist völlig heruntergekommen: eine Tierklinik ohne Tierarzt, eine Schule fast ohne Stühle und eine kaputte Pasteurisierungsanlage. Eine attraktive Alternative für Wanderhirten ist es sicherlich nicht .

Überall in Nigeria sind Milizen und Bürgerwehren entstanden, die sich um akute und mittelfristige Sicherheitsprobleme kümmern. Vor allem außerhalb der großen Städte gibt es keine Polizei, die Leben und Eigentum schützen würde. Von Gewaltverbrechen bis hin zu ethnischen Konflikten – die Sicherheitskräfte haben sich als weitgehend unfähig erwiesen, die Menschen zu beschützen, Opfern zu helfen und Täter ihrer Strafe zuzuführen.

Im nördlichen Zentralnigeria kam es zu einem schweren Zwischenfall, bei dem angeblich bis zu 300 Menschen bei einer Vergeltungsaktion der Fulbe starben. Einem Anführer der Fulbe zufolge war die Ermordung eines Fulbe-Clanchefs der Grund für den Gewaltausbruch. Der Clanchef habe zuvor im Büro des Distriktvorstehers Gerechtigkeit gesucht, nachdem ein Hirte getötet und an die 200 Kühe gestohlen worden waren.

Der Gouverneur des Bundesstaats Kaduna behauptete in einem anderen Zusammenhang, bei der gegenwärtigen Häufung von Angriffen durch Fulbe-Hirten handle es sich um Vergeltungsaktionen für die Ermordung vieler Fulbe bei den Unruhen nach den Wahlen 2011. Die Überfälle auf Dörfer gehen weiter, und immer wieder werden die Leichen von Fulbe-Hirten gefunden. Die Verbitterung steigt – bis sich ein Konflikt über Ressourcen zu einer ethnischen oder ethnisch-religiösen Auseinandersetzung auswächst.

In Gemeinden, deren fruchtbares Ackerland eine magnetische Anziehungskraft auf die Wanderhirten ausübt, fehlen geeignete Strukturen zur Konfliktlösung. Da es außerdem keinerlei übergreifende Strategie für die Sicherheit und Entwicklung des ländlichen Raums gibt, wird die Gewalt weiter angeheizt.

Bis Nigeria in der Lage ist, ein Landnutzungskonzept vorzulegen, das die Interessen der Bundesstaaten und der Hirten berücksichtigt und das Problem der inneren Sicherheit in den ländlichen Regionen ernsthaft angeht, werden die gegenseitigen Schuldzuweisungen und Vergeltungsaktionen nicht aufhören. Die politischen Pro­ble­me werden dadurch weiter verkompliziert. Wenn vom Staat keine Gerechtigkeit zu erwarten ist, fühlen sich die Menschen aufgefordert, selbst Gerechtigkeit zu üben.

Nigerias Bevölkerung wächst, aber die nutzbare Fläche wird nicht größer. Der Druck auf fruchtbaren Boden wird weiter zunehmen, ein Problem, das die sesshaften Gemeinschaften genauso betrifft wie die Hirten, die zunehmend eine sesshafte bäuerliche Existenz dem Nomadenleben vorziehen. Ich dachte lange, das Nomadenleben sei ein heiliges Kulturgut, bis ich Hirten auf freiem Feld und in den Weidereservaten traf. Sie haben die Vorstellungen, die ich im Kopf hatte, zunichte gemacht.

Aliyu Ghana ist den ganzen Weg von Ghana hergezogen, um im Reservat von Abuja zu leben, weil er gehört hatte, dort gebe es eine Nomadenschule. Das sei alles, was er wolle, sagte er mir: Weideland, eine Schule für seine Kinder, eine Tierklinik und Wasser. Ich nehme an, seine Kinder werden mehr wollen.

1 Jerome O. Gefu, „Pastoralism and Resource Use: Challenges in Development and Management“, unveröffentlichtes Manuskript vom Juni 2014.

Aus dem Englischen von Ursel Schäfer

Elnathan John ist Satiriker, Erzähler und Anwalt sowie Autor von „Elnathan’s Black Corner“ auf elnathanjohn.blogspot.de/.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.05.2017, von Elnathan John