06.04.2017

Kleine Geschichte des Peronismus

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Kleine Geschichte des Peronismus

von Christophe Ventura

Perón und Evita: Ikonen einer Bewegung JORGE SAENZ/ap
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Seit fast 20 Jahren versammelt sich jeden Montagabend der Oesterheld-Kreis von Buenos Aires zu einem „geselligen und politischen“ Abendessen in dem genossenschaftlich geführten Hotel Bauen. Der Zirkel ist nach dem 1977 verschwundenen und vermutlich ermordeten Comic-Autor Héctor Germán Oesterheld benannt, der in den Reihen der peronistischen Montonero-Guerilla gegen die Militärdiktatur kämpfte.

Mit Ausnahme der zwei Jahre, in denen Fernando de la Rúa von der Radikalen Bürgerunion (Unión Cívica Radical, UCR) zwischen 1999 und 2001 als Präsident amtierte, regierten in Argentinien von 1989 bis zu den Präsidentschaftswahlen 2015 stets die Peronisten. Der Unternehmer Mauricio Macri ist der erste konservative Präsident, der weder mit dem Peronismus noch mit dem Militär verbandelt ist.

Dennoch zeichnet sich diese Partei weder durch Homogenität noch Kontinuität aus: Unter Präsident Carlos Menem (1989–1999) folgten die Peronisten einem neoliberalen Kurs und beugten sich dem Diktat der interna­tio­nalen Finanzinstitutionen; doch unter dem linken Peronisten Néstor Kirchner (2003–2007) und dessen Nachfolgerin und Witwe Cristina Fernández de Kirchner (2007–2015) wehrte sich die Partei gegen ausländische Investoren und die USA.

Von jeher bot der Peronismus, dieses einzigartige Phänomen in der politischen Geschichte Argentiniens, eine Heimat für die verschiedensten Strömungen. Der soziale und wirtschaftliche Wandel des Landes und die Veränderungen der geopolitischen Lage führten stets zu Richtungswechseln innerhalb der Bewegung, und aus den inneren Kämpfen gingen immer wieder neue Führungsfiguren hervor, die die Partei nach ihrer Façon lenkten – auch auf die Gefahr hin, dass der Peronismus der neuen Epoche alles Vorangegangene verdammte.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs fanden sich die argentinischen Eliten zwischen Alliierten und Achsenmächten hin- und hergerissen: Auf der einen Seite standen die traditionellen Beziehungen und guten wirtschaftlichen Verbindungen zu Großbritannien, auf der anderen Seite waren die argentinischen Nationalisten in Armee und Bürgertum mit deutschem Kapital verbündet. In dieser Situation trat der Offizier Juan Domingo Perón auf den Plan. Er verfolgte ein doppeltes Ziel: Er wollte einen interventionistischen Staat aufbauen, der die nationale Industria­li­sie­rung, Produktion und Unabhängig­keit gegenüber dem britischen und US-amerikanischen Imperialismus voran­treibt und zugleich die unteren sozialen Schichten ins politische und gesellschaftliche Leben integriert.

Der Oberst gehörte nach einem Putsch 1943 einer Militärregierung an, in der er als Arbeitsminister, Kriegsminister und Vizepräsident fungierte. 1945 zwangen ihn seine Kabinettskollegen zum Rücktritt, doch mit Unterstützung der Arbeiterschaft stieg er 1946 zum Präsidenten der Republik Argentinien auf (siehe nebenstehende Chronologie). Er hatte es geschafft, das in den 1930er und 1940er Jahren stark gewachsene Industrieproletariat zu mobilisieren. Eines der Ziele des glühenden Antikommunisten war es, die städtischen Arbeiter sowie Kleinbauern und Landarbeiter, die von den Großgrundbesitzern gnadenlos ausgebeutet wurden, dem Einfluss der Kommunisten zu entziehen: Als Arbeitsminister schuf er mächtige Gewerkschaften unter staatlicher Kontrolle.

Zu seinen Anhängern gehörten zudem einige aufstrebende Industrielle, das städtische, der Oligarchie feindlich gesinnte Kleinbürgertum sowie Teile des Regierungsapparats, der Armee und der kirchlichen Autoritäten. Juan Perón verfolgte im Prinzip eine Politik der Versöhnung zwischen Unternehmern und Arbeitern im Namen der Nation. Innerhalb dieses neuen Bündnisses war der Chef der Peronistischen Partei, die sich 1947 in Gerechtigkeitspartei (Partido Justicialista, PJ) umbenannte, ein charismatischer Magnet, der zugleich als Schiedsrichter auftrat.

Die zugepflasterten Wände des Simón-Bolívar-Salons im Hotel Bauen erinnern an die Geschichte der peronistischen Bewegung: Porträts, Fotogra­fien, Zeichnungen, Gemälde und Plakate feiern deren Helden und Märtyrer. Der Blick verirrt sich in einem wilden Kaleidoskop: Juan und Evita Perón treffen auf Néstor und Cristina Kirchner, aber auch andere argentinische Ikonen sind hier ausgestellt, wie die Mütter von der Plaza de Mayo oder Papst Franziskus. Dazu kommen zahlreiche historische Führungsfiguren aus den verschiedenen Organisationen und Verzweigungen der Bewegung: aus dem Gewerkschaftsverband Confedera­ción General del Trabajo (CGT), der mit Staat und Partei nahezu verschmolzen ist, aus der Frauenbewegung und verschiedenen Jugendbewegungen.

Für 200 Pesos (etwa 12 Euro) erhalten die 200 Anwesenden ein „peronistisches“ Menü, wie es auch an Feiertagen auf den Familientisch kommt. Es besteht aus den typischen Gerichten der volkstümlichen argentinischen Küche: Mortadella (statt Schinken, den nur Reiche essen), Kartoffelsalat, matam­bre (Roulade) und Tiramisu. Dazu trinkt man El Peronista, einen Wein aus Mendoza. An diesem speziellen Abend wird drei Ehrengästen der Titel eines „Patrioten“ verliehen. Ob sie sich für Peronisten halten oder nicht, ist nicht wesentlich. Sie verkörpern jedenfalls das peronistische Ideal: wirtschaftliche und nationale Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit, Kampf für die Interessen der unteren sozialen Schichten.

Die drei Patrioten stehen der Expräsidentin Cristina Kirchner nahe, deren Konterfei übergroß auf einer Staffelei am Fuße des Rednerpults über die Versammlung wacht. Das ist derzeit eine deutliche Botschaft, denn die Kräfteverhältnisse innerhalb der Bewegung sortieren sich gerade neu, nachdem Daniel Scioli, der gemäßigte Kandidat des Wahlbündnisses aus Peronisten und linken Parteien, Front für den Sieg (Frente para la Victoria, FPV), die Präsidentschaftswahl verloren hat. Viele beklagen sein mangelndes Charisma und seine allzu profillose Politik der Mitte. Sciolis Niederlage bestimmt die nächste Richtungsänderung der Partei, in der Cristina Kirchner nicht mehr als unangefochtene Autorität gilt.

Als sich das Bankett dem Ende zuneigt, stimmen die Anwesenden „La Marcha Peronista“ an, die Hymne der Bewegung, die seit Ende der 1940er Jahre gesungen wird. Zwei Frauen in den Sechzigern sind dabei, die Finger stolz zum „V“ erhoben. „Wir haben gekämpft, damit Perón zurückkommt, auf uns wurde sogar geschossen!“, erzählen sie lachend. „Trotzdem sind wir hier, denn wir sind vor allem Peronistinnen!“

Die beiden spielen auf das Massaker vom Juni 1973 am Flughafen Ezeiza an. Damals kam es dort bei der Rückkehr Peróns aus dem spanischen Exil zu blutigen Zusammenstößen zwischen den Linksperonisten, vor allem den Montoneros, und den ultrarechten Milizen der Antikommunistischen Allianz Argentiniens (Alianza Anticomunista Argentina, AAA), die von Peróns persönlichem Sekretär José López Rega gegründet worden war. Der zurückkehrende Oberst sah – zu Unrecht – die alleinige Schuld bei den Linken. Die Auseinandersetzung führte zur Spaltung der Bewegung, und die Repressionen gegen Linke und Linksextreme verschärften sich. Alsbald ging ein Riss durch die argentinische Gesellschaft, der schließlich im Staatsstreich von 1976 seinen tragischen Höhepunkt fand.

Was aber bedeutet es heute, Peronist zu sein? Auf diese Frage hin reißen unsere Gesprächspartner die Augen auf, gleichzeitig amüsiert und von der Last der Aufgabe schlicht überfordert, als müsse man einen von weither gekommenen Besucher in wenigen Sätzen in die Riten und Gebräuche einer Religion einführen. „Das lässt sich nicht einfach so beantworten“, sagen die meisten. „Doch“, meint einer. „Peronist zu sein bedeutet, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen: auf der Seite des Kampfs für die Unabhängigkeit und der Verteidigung der Interessen des Volkes.“

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 06.04.2017, von Christophe Ventura