06.04.2017

Daten für alle

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Daten für alle

Das Bürgerrecht auf Transparenz

von Arne Semsrott

Transparenz: Der Chaos Computer Club feiert PATRICK LUX/getty images europe
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Das Internet liegt bald in Kanada. Kurz nach der US-Präsidentschaftswahl im November kündigte die freie Onlinebibliothek archive.org an, eine Kopie ihres gesamten Bestands – etwa 26 000 Gigabyte Backups von Webseiten sowie Bücher, Software, Videos und Bilder – aus Kalifornien nach Toronto zu schaffen. Zahlreiche Wissenschaftler und Archivare tun es ihr derzeit gleich. Aus Angst vor Löschaktionen der Trump-Regierung kopieren sie Forschungsdaten zum Klimawandel auf Server, die vor dem Zugriff der US-Behörden sicher sind.

Mit dem Machtwechsel in Washington eskaliert der Kampf um den Zugang zu Informationen in den USA. Dabei geht es nicht nur um Daten, die in Archiven lagern: Neun von zehn US-Experten im Feld der Informationsfreiheit erwarten nach einer Studie der Knight Foundation, dass die Transparenz von Politik, Verwaltung und auch der Wirtschaft insgesamt deutlich abnehmen wird.1

Im Kreuzfeuer steht dabei die Ausgestaltung des Freedom of Information Act (FOIA). Das Gesetz, das zu seinem 50. Geburtstag vor einem Jahr noch reformiert wurde, gibt allen Menschen das Recht, beim Staat liegende Informationen anzufragen und zu veröffentlichen. So müssen sämtliche Akten, aber auch Bilder, Videos und Briefe oder SMS herausgegeben werden, soweit dies nicht schutzwürdige Interessen des Staats oder einzelner Personen gefährden würde. Weigern sich Behörden, können sie gerichtlich zur Herausgabe der Informationen gezwungen werden. Mithilfe des Gesetzes befreiten Journalisten und Bürgerrechtler in den letzten Jahrzehnten ganz legal und ohne Leaks zum Beispiel mehr als 100 000 Dokumente und Fotos zur Folterpraxis der USA im Irak und in Afghanistan sowie Arbeits-E-Mails ehemaliger Minister wie Hillary Clinton.

Ihnen steht allerdings eine restriktive Behördenpolitik gegenüber. Journalisten berichten regelmäßig von fast vollständig geschwärzten Aktenordnern sowie Antworten, die erst Jahre nach Antragstellung eintreffen. Schon unter Obama zogen sich die US-Behörden durch Verzögerungstaktiken immer öfter aus ihrer Verantwortung – unter Trump wächst die Befürchtung, dass der FOIA komplett sabotiert wird. Dabei geht es der Regierung nicht nur um die Offenlegung der Informationen, sondern auch um die Interpretation der Daten. Wer Originalakten nicht herausgibt, sondern nur daraus zitiert, kann die Deutungshoheit über Informationen behalten. Und wer Dokumente gar nicht erst zu den Akten nimmt, kann sie auch auf Anfrage nicht herausgeben.

Das ist in Deutschland nicht anders. Das deutsche Pendant zum FOIA, das Informationsfreiheitsgesetz, existiert seit 2006. Anders als in den USA ist es hierzulande unter Journalisten und Nichtregierungsorganisationen aber kaum bekannt und wird ­entsprechend

selten genutzt. Während US-Behörden im vergangenen Jahr Millionen Anfragen registrierten und die Nutzung des FOIA sogar in Hollywoodfilmen thematisiert wird, gingen bei deutschen Bundesbehörden gerade einmal 8885 Anfragen ein.

Das deutsche Gesetz ist allerdings auch deutlich schwächer als das FOIA. Es gilt zum einen nur auf Bundesebene (und auch dort nicht für viele Teile der Parlamentsarbeit), in den Bundesländern gibt es abweichende Regelungen. Zum anderen zählt der Katalog der möglichen Ausnahmegründe für Auskünfte mehr als 30 Regelungen, darunter den Schutz der inneren, äußeren und öffentlichen Sicherheit und die Sicherheit der Bundeswehr sowie das Vorliegen von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Damit wird die Kontrolle von Verträgen in öffentlich-privaten Partnerschaften oder auch die Aufklärung des VW-Abgasskandals verhindert, weil die besonders interessanten Dokumente dazu fast immer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse enthalten.

Auch der in Deutschland vergleichsweise stark verankerte Datenschutz wird häufig als Grund vorgeschoben, um missliebige Anfragen abzulehnen. So ist zwar festgeschrieben, dass bei Anfragen, die personenbezogene Daten betreffen, zwischen dem Datenschutz und dem Interesse an einer Offenlegung abgewogen werden muss. In der Praxis gewinnt aber meist die Geheimhaltung. Das führt dazu, dass schon mal Informationen über Politikertreffen mit Lobbyisten aufgrund von Datenschutzbedenken nicht herausgegeben werden. Im globalen „Right to Information Rating“, das den Rechtsrahmen der Informationsfreiheitsgesetze in 111 Staaten vergleicht, landet Deutschland folglich gerade einmal auf Platz 105.2

Initiativen, das deutsche Informationsfreiheitsgesetz zu reformieren, scheiterten bisher an SPD und CDU. Stattdessen haben die Transparenzgegner einen Sieg errungen: 2013 verurteilte das Bundesverwaltungsgericht nach der Klage eines Journalisten den Bundesrechnungshof dazu, unter anderem Prüfberichte zu den Fraktionsfinanzen herauszugeben. Daraufhin änderten die im Bundestag vertretenen Parteien kurzerhand die Zugangsregelung – zunächst unbemerkt von der Öffentlichkeit, da die Änderung in einer nächtlichen Abstimmung im themenfremden Finanzausgleichgesetz versteckt wurde.3 Der Rechnungshof muss seitdem keine Auskunft mehr erteilen. Mögliche Rechtsverstöße der Parteien bleiben geheim.

Wie diese Nacht-und-Nebel-Aktion zeigt, sind Informationsfreiheitsgesetze unbeliebte Gesetze: Machthaber hassen sie, weil sie ihretwegen zur Rechenschaft gezogen werden können, Verwaltungen hassen sie, weil sie zusätzliche Arbeit machen. Transparenz ist beim politischen Gegner gern gesehen, für das eigene Lager hält sich die Begeisterung in Grenzen. Auskünfte nach Informationsfreiheitsgesetzen haben in einigen Ländern schon ganze Systeme aufgerüttelt, so der britische Spesenskandal 2009: Nachdem betrügerische Abrechnungen mithilfe von Anfragen ans Licht gekommen waren, mussten zahlreiche Minister und Abgeordnete verschiedener Parteien zurücktreten oder wurden entlassen.4

Nicht ohne Grund bezeichnet Tony Blair die von ihm veranlasste Einführung des britischen Freedom of Information Act in seiner Autobiografie als die größte Fehlentscheidung seiner Regierungszeit – und nicht etwa den Irak­krieg. Umso interessanter ist, dass trotzdem inzwischen 88 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern mit Informationsfreiheitsgesetz leben. Dazu gehören mit Ausnahme von Weißrussland alle europäischen Staaten, auch die Schweiz, die mit ihrem Öffentlichkeitsgesetz eine moderate Zugangsregelung zu Informationen geschaffen hat, die zwar für Bundesbehörden, aber weder für Bundesrat und Parlament noch für die Bundesbank gilt.

Während in Ostasien und Lateinamerika die meisten Staaten bereits Informationsfreiheitsgesetze eingeführt haben, entstehen vor allem in Subsahara-Afrika jährlich neue Gesetze. Das liegt ausgerechnet am Druck der USA und an intransparenten Institutionen wie der Weltbank, die im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit seit 30 Jahren die Vergabe von Geld vermehrt an Prinzipien der Good Governance und an die Einführung von Auskunftsgesetzen koppeln. Durch mehr Transparenz soll nicht zuletzt das Vertrauen von internationalen Investoren in Entwicklungsländer gestärkt werden.

Baupläne und Spesenabrechnungen

Der Staat mit dem neuesten Informationsfreiheitsgesetz in dieser Reihe ist Tunesien. Die Verfassung des Landes von 2014 ist die einzige in Nordafrika, die den Zugang zu amtlichen Informationen als Grundrecht anerkennt. Ende März trat nach langer Vorbereitung das neue Informationsfreiheitsgesetz in Kraft, das die neuen Verfassungsgrundsätze umsetzen soll.

„Das bedeutet einen Bruch mit der Geheimhaltungskultur Tunesiens“, sagt Nejib Mokni, Projektkoordinator bei der Organisation Article19.5 Er hat den Gesetzgebungsprozess vonseiten der Zivilgesellschaft begleitet. Das neue Gesetz habe das Potenzial, zu einem zentralen Baustein der Demokratie in Tunesien zu werden: „Es kann zum Beispiel Frauen in ländlichen Regionen ermöglichen, Zugang zu Gesundheitsinformationen zu erkämpfen.“

Gerade Menschen, die nur wenige informelle Kontakte haben, könnten sich so über Messungen zur Wasserqualität oder die verfügbaren Impfungen besser informieren. Nicht nur Journalisten und die Zivilgesellschaft könnten von dem Gesetz profitieren, sondern auch die Behörden selbst. Es sei zu erwarten, dass viele Beamte Anträge auf Auskünfte bei anderen Behörden stellen, weil sie anders nicht an für sie wichtige Informationen kämen. Kommen Behörden ihrer Auskunftspflicht nicht nach, können Sanktionen verhängt werden.

So vielversprechend das Gesetz auch erscheinen mag, entscheidend ist am Ende seine Umsetzung. Es kann nur dann Wirkung entfalten, wenn Verwaltungsmitarbeiter richtig geschult und genügend Ressourcen bereitgestellt werden. Nejib Mokni hofft, dass das tunesische Informationsfreiheitsgesetz auch einen Beitrag zur Transformation und Vergangenheitsbewältigung des Landes leistet. Schließlich lagern in den Archiven des alten Präsidenten Ben Ali unzählige Dokumente, die noch nicht an die Öffentlichkeit gekommen sind und grundsätzlich auch der Auskunftspflicht unterliegen. „Ein großes Problem haben wir mit dem Innenministerium“, sagt Mokni. „Das Nationalarchiv ist sehr gut organisiert. In den Archiven des Innenministeriums herrscht aber Chaos.“ Für die Aufklärung über die Machenschaften der letzten Jahrzehnte sind sie zentral. Hier lagern nämlich auch die Dokumente des Geheimdienstes.

Um den tunesischen Staat zu mehr Transparenz zu verpflichten, kann die Zivilgesellschaft auf den breiten Erfahrungsschatz eines weltweiten Netzwerks zurückgreifen, das für mehr Informationsfreiheit kämpft. In den USA und Deutschland, aber auch an vielen anderen Orten haben Aktivisten in den letzten Jahren vor allem mithilfe digitaler Werkzeuge neue Wege gefunden, um das Bewusstsein für Auskunftsrechte zu stärken und Informationen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Darunter sind 29 zivilgesellschaftliche Organisationen, die in verschiedenen Staaten auf Basis von offener Software Onlineplattformen für Anfragen an Behörden ins Leben gerufen haben.6 Sie ermöglichen es Nutzern, nicht nur per Onlineformular Anfragen an jeweils zuständige Behörden weiterleiten zu lassen. Die Seiten veröffentlichen auch automatisch die Antworten des Staats und lassen auf diese Weise riesige Wissensdatenbanken entstehen.

Die britische Plattform im Netzwerk, WhatDoTheyKnow.org, stellt inzwischen fast 400 000 Behördenantworten online dar, die von Bauplänen und Ratsprotokollen bis hin zu alten Schulklausuren und Dokumenten von Lobbyisten alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens abbilden. Eigene Personalakten und ähnliche Dokumente sind gewöhnlich nicht darunter. Sie können über Datenschutzgesetze angefragt werden.

Die Plattformen lassen sich auch für Kampagnen nutzen. Die Organisation AccessInfo prangert auf ihrer Website AskTheEU.org die Informationsblockaden der EU-Kommission an. Die gab zum Beispiel auf eine Anfrage nach den Spesenrechnungen aller EU-Kommissare an, wegen des hohen Bearbeitungsaufwands höchstens Abrechnungen für einen Zeitraum von zwei Monaten her­aus­geben zu können. AccessInfo rief daraufhin Anfang des Jahres die Nutzer von AskTheEU.org auf, Abrechnungen für alle Kommissare und alle Zweimonatsabschnitte eines Jahres anzufragen.

Innerhalb von zwei Tagen gingen bei der Kommission 168 Anfragen nach einzelnen Spesenrechnungen ein. Das Kalkül dahinter: Wenn die Bearbeitung der einzelnen Anfragen aufwändiger ist als eine aktive Veröffentlichung der Dokumente, gewinnt am Ende die Transparenz. Bisher weigert sich die Kommission noch, den Eingang aller Anfragen zu bestätigen. Einzelne Abrechnungen sind dennoch bereits bekannt geworden, darunter ein 63 126 Euro teurer Flug von EU-Kommis­sions­präsident Jean-Claude Juncker von Antalya nach Brüssel. Notfalls muss der Europäische Gerichtshof entscheiden. Weil sich die Kommission in einem anderen Fall sträubt, die juristische Analyse herauszugeben, die als Grundlage für das EU-Türkei-Abkommen diente, hat AccessInfo Klage vor dem EuGH eingereicht.

Auch für viele ungarische Aktivisten, die ihren Handlungsspielraum seit der Machtübernahme von Viktor Orbán systematisch eingeschränkt sehen, sind die europäischen Gerichte die letzte Hoffnung. Mit verschiedenen Medienreformen hat die Fidész-Regierung das ungarische In­for­ma­tions­frei­heits­gesetz im Lauf der letzten Jahre zu einem Schatten seiner selbst werden lassen. Institutionen wie die Nationalbank und staatliche Stiftungen wurden vom Gesetz ausgenommen, die Bearbeitungsfrist für Anfragen auf 30 Tage verdoppelt.

Die fatalste Neuregelung ist jedoch die Einführung von Gebühren, die es Behörden erlaubt, ihre Arbeitszeit den Antragsstellern ohne Begrenzung in Rechnung zu stellen. Vor allem Privatpersonen schreckt das von Anfragen ab. Aber auch wenn es düster aussieht, das Informationsfreiheitsgesetz wird immerhin nicht ganz abgeschafft. Ende 2016 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach einer Klage von ungarischen Aktivisten erstmals, dass der Zugang zu amtlichen Informationen als Teil der Europäischen Menschenrechtskonvention zu verstehen ist.

Und auch in den von Donald Trump regierten USA ist in den kommenden Jahren ein weiterer Anstieg von Klagen nach dem FOIA zu erwarten. Eines der Hauptziele ist das FBI, das über enorme Aktenbestände verfügt. Aufgrund der vielen Anfragen erstellt es sogar eine eigene Liste mit den „lästigsten“ Antragsstellern, die regelmäßig von ebendiesen angefragt und veröffentlicht wird.

Unter den Top 3 ist auch Parker Higgins. Er hat einen Bot programmiert, der täglich die Seite mit den Nachrufen in der New York Times nach neuen Einträgen durchsucht. Wird das Programm fündig, sendet es dem FBI automatisch per E-Mail einen Antrag auf Zusendung der Akten der verstorbenen Personen zu. Zugute kommen ihm dabei freizügigere Datenschutzbestimmungen in den USA – in Deutschland dürfen solche Akten erst nach einer Sperrfrist zugänglich gemacht werden. Mehr als 2000 Seiten hat Higgins auf diese etwas morbide Weise schon bekommen und veröffentlicht, darunter die FBI-Akten über den ehemaligen UN-Generalsekretär Butros Butros-Gha­li und den Nobelpreisträger Walter Kohn. Es ist allerdings fraglich, ob das Projekt dauerhaft erfolgreich sein kann. Im März verkündete das FBI nämlich, dass es künftig keine E-Mail-Anfragen mehr akzeptiere. Denn auch wenn die Antragssteller sich immer neue Wege ausdenken – freiwillig geben die Behörden keine Informationen frei. Erst recht nicht unter Trump.

1 Siehe kf-site-production.s3.amazonaws.com/publications/pdfs/000/000/232/original/FOI-final-unlink.pdf.

2 Online unter www.rti-rating.org.

3 Der Bundestag änderte dafür nicht das Informationsfreiheitsgesetz, sondern fügte der Bundeshaushaltsordnung einen Absatz hinzu, nachdem der Rechnungshof keine Auskunft mehr erteilen muss.

4 Ähnliche Anfragen in Deutschland scheiterten bisher. Der Bundestag gibt nur allgemeine Auskünfte zu Verwaltungskosten. Angaben über die Arbeit einzelner Abgeordneter sind durch den verfassungsrechtlichen Grundsatz des freien Mandats besonders geschützt und damit nach Auffassung der Gerichte geheim.

5 Der Name der international tätigen Organisation bezieht sich auf Artikel 19 der UN-Menschenrechtserklärung, der die Meinungs- und Pressefreiheit garantieren soll.

6 Online unter alaveteli.org/deployments/.

Arne Semsrott ist Politikwissenschaftler. Bei der Otto-Brenner-Stiftung ist seine Studie „Informationsfreiheit – Mehr Transparenz für mehr Demokratie“ erschienen.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 06.04.2017, von Arne Semsrott