09.03.2017

Träume in der Banlieue

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Träume in der Banlieue

Die Jungs aus Vaulx-en-Velin strengen sich an und würden am liebsten studieren

von Hacène Belmessous

Katrin Plavčak, Queenie, 2016, Öl auf Baumwolle, 60 x 50 cm Anne-Lore Dorbec
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Sofiane ist wütend: „Das ganze Gerede von Gleichheit ist nur hohles Geschwätz“, sagt der Jungunternehmer aus Vaulx-en-Velin, einer Stadt in der Nähe von ­Lyon.1 „Ich kann meine Kultur und meine Herkunft nicht abstreifen. Selbst wenn ich mich integriere, sagt mir der Blick der anderen, dass ich ein Fremder bin.“ Vaulx-en-Velin ist die ärmste Stadt in der Metropolregion Lyon. Sie liegt eingezwängt zwischen der ­Rhône und der Autobahn, ist schlecht angebunden an den öffentlichen Nahverkehr und leidet am Niedergang der Industrie: Die Arbeitslosenquote liegt bei fast 22 Prozent, unter jungen Männern in bestimmten Vierteln wie Mas du Taureau erreicht sie sogar 40 Prozent. Die Siedlung besteht zu 60 Prozent aus So­zial­bauten, 46 Prozent der 44 000 Einwohner sind unter dreißig, und der Ausländeranteil ist dreimal so hoch wie im landesweiten Durchschnitt.

Die Stadt und ihre Wohnsilos haben einen schlechten Ruf. Hier brach im Oktober 1990 die erste große Revolte in einem sozialen Brennpunkt in Frankreich aus, nachdem ein junger Mann bei einem Zusammenstoß mit einem Polizeiauto gestorben war. Aus Vaulx-en-Velin kam auch Khaled Kelkal, einer der Drahtzieher der Anschläge von 1995.2 Die Medien berichteten damals ausführlich über seine Herkunft und schilderten seinen Weg als „junger Mann aus einem Problemviertel“.

Weil Vaulx-en-Velin immer wieder Schauplatz von Unruhen war, hat man seit Ende der 1970er Jahre hier alle möglichen stadtpolitischen Maßnahmen3 ausprobiert: das Programm zur Sanierung von Sozialbauten (Habitat et vie sociale, HVS), die Vereinbarung zur sozialen Entwicklung von Quartieren (dé­ve­loppe­ment social des quartiers, DSQ), den Stadtvertrag (contrat de ­ville) zwischen Staat und Kommune, das Programm für „sensible Stadtgebiete“ (zones urbaines sensibles, ZUS), die Einrichtung städtischer Freizonen (zones franches urbaines, ZFU), in denen Unternehmen steuerliche Vorteile genießen – Vaulx-en-Velin ist der Inbegriff für die „Krise der Vorstädte“.

Junge schwarze oder arabische Männer erleben Tag für Tag, was es heißt, die falsche Adresse zu haben. Sie ist die Quelle der Diskriminierung, die ihnen den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt versperrt. Fragt man Gymnasiasten und junge Unternehmer aus Vaulx-en-Velin, wie sie sich einen möglichen Ausweg aus ihrem vorgezeichneten Schicksal vorstellen, bekommt man unterschiedliche Antworten: eine Elitehochschule besuchen, sich politisch engagieren, eine Firma gründen, ins Ausland gehen.

Am Gymnasium Robert Doisneau (730 Schülerinnen und Schüler) träumen die Besten davon, an die Pariser Sciences Po (Institut d’études politiques) zu gehen. Die renommierte Hochschule bietet jungen Schülern aus Problemvierteln einen besonderen Zugang ohne die übliche Aufnahmeprüfung mit ihren hohen Durchfallquoten.

„Ich sehe die Sciences Po als Chance, als Tür zu meiner Zukunft“, sagt Mohamed, der im letzten Schuljahr ist. Der junge Mann hat sein ganzes Leben in einem Sozialbau verbracht, für ihn ist die Pariser Hochschule „ein Weg, die Elite zu verändern. Warum soll ich nicht Unternehmer oder Manager werden?“ Sein Klassenkamerad Rachid pflichtet ihm bei: Er möchte es an der Sciences Po versuchen, um sich „neue Horizonte zu eröffnen, und dann im Ausland arbeiten“.

Das Programm für den gesonderten Zugang zur Sciences Po wurde 2001 geschaffen und soll die „soziale Vielfalt“ an dieser Hochschule fördern, die traditionell von Kindern aus wohlhabenden Familien besucht wird. Innerhalb von 15 Jahren haben mehr als 1600 Studenten von der Regelung profitiert. Doch die Ergebnisse blieben hinter den Erwartungen zurück: 40 Prozent der 163 Schüler, die 2016 auf diesem Weg zugelassen wurden, hatten doch Eltern mit einem privilegierten sozialen oder beruflichen Hintergrund (2001 waren es 20 Prozent und 2010 36 Prozent).4

Trotzdem träumen viele weiter von der Sciences Po. „Meine Eltern sprechen kaum ein Wort Französisch“, erzählt Rachid. „Seit der fünften Klasse habe ich mich um alles, was mit der Schule zusammenhängt, selbst gekümmert und ganz allein gelernt. Darauf bin ich stolz. Können Sie sich vorstellen, wie glücklich meine Familie wäre, wenn ich es an die Sciences Po in Paris schaffe?“

Anders als die Schulabbrecher, die die Schule ablehnen und in ihr kein Mittel für den sozialen Aufstieg sehen, erwarten die guten Schüler, dass die Schule alle fördert, die sich anstrengen: Wer hart arbeitet und zu Opfern bereit ist, könne Benachteiligungen ausgleichen und Diskriminierung überwinden. Der in der Wirtschaft beliebte Appell an den Leistungswillen kommt bei diesen jungen Leuten gut an. Die meisten sehen die Hochschule deshalb nicht als Mittel, um kulturelles Kapital zu erwerben oder eine hohe Beamtenlaufbahn einzuschlagen, sondern als Sprungbrett für eine Karriere in der Wirtschaft. „Ich möchte einen Master in Wirtschaft machen, das hat mich schon immer interessiert“, sagt Mohand, der im Bereich Handel arbeiten möchte. Rachid sieht seine Zukunft in einer Unternehmensberatung, Said träumt von „Börsenhandel und Finanzen“, und Mohamed hat vor, sich in der Textilbranche selbstständig zu machen.

Den Wunsch, „einen eigenen Laden aufzumachen“ und als Selbstständiger zu arbeiten, hört man von vielen jungen Männern in Vaulx-en-Velin. Es ist nicht unbedingt ihr berufliches Ideal, sondern rührt von der Erfahrung, dass ihre Hautfarbe und ihre Wohnadresse bei der Einstellung ein großes Handicap sind. Farid, Jungunternehmer im Immobiliensektor, glaubt nicht mehr an die Reden von einer „Vielfalt in den Unternehmen“: „Nach dem Abitur wollte ich ein BTS (dualer Kurzstudiengang) machen, aber keine Firma hat mich genommen, weil ich in Vaulx-en-Velin wohne und einen Migrationshintergrund habe.“ Später habe er ein paar Jahre als Vertreter gearbeitet und dabei eine ganz andere Form der Diskriminierung kennengelernt: die Diskriminierung auf Basis des Umsatzes. „Dein Gehalt hängt zum Teil davon ab, wie viele Abschlüsse du machst. Der Kapitalismus hat auch sein Gutes. Es ist zwar hart, das zu sagen, aber wenigstens spielt deine Herkunft keine Rolle.“

Miloud, der nicht in Vaulx-en-Velin wohnt, dort aber sein Geschäft betreibt, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. „Als ich von Pau nach Lyon gegangen bin, war ich bei der Apec registriert.5 Dort haben sie ein Kompetenzprofil erstellt. Ich hatte Erfahrung als Geschäftsführer eines Franchise-Unternehmens und von drei Betrieben einer internationalen Hotelgruppe. Mit Unternehmensführung kannte ich mich also aus.“ Trotzdem habe nur er keine einzige Antwort erhalten, als die Apec seinen Lebenslauf veröffentlichte. „Wir waren ungefähr zwanzig in der Gruppe mit ganz unterschiedlichen Profilen. Aber nur ich hatte einen arabisch klingenden Namen.“

Sein eigenes Unternehmen zu gründen, um der Diskriminierung zu entgehen, ist jedoch nicht einfach, wenn man weder Geld noch Beziehungen hat. Viele müssen sich mit einer Existenz als Soloselbstständige begnügen, besonders häufig beim US-Fahrdienstleister Uber. Das Unternehmen ist in benachteiligten und Immigrantenvierteln ziemlich erfolgreich: Von Januar 2015 bis März 2016 entfielen 22,5 Prozent der französischen Unternehmensneugründungen im Bereich „Taxis – Fahrdienstvermittlung“ auf das Departement Seine-Saint-Denis, und jedes achte Unternehmen, das dort neu gegründet wurde, gehörte in diesen Sektor.6

Selbstständig als Uber-Fahrer

Die Stadtverwaltung von Vaulx-en-Velin, wo traditionell die Kommunisten regierten, bis sie 2014 von den Sozialisten abgelöst wurden, versucht seit 15 Jahren die Stadt als idealen Ort für die Entfaltung von Unternehmergeist zu präsentieren. Die Gemeinde möchte Mittelschichthaushalte anziehen und hat unter großen Anstrengungen ihr Stadtzentrum erneuert. Auch ein großes Gewerbegebiet wurde ausgewiesen, Carré de Soie im Süden, wo früher die Textilfabriken standen. Und auf einem Drittel der Stadtfläche gilt die Freizonenregelung: Unternehmen, die sich dort ansiedeln, müssen keine Sozialabgaben zahlen, wenn sie eine bestimmte Zahl von Arbeitsplätzen schaffen.

Die Stadträte preisen das neue Gewerbegebiet und die Freizone als Garanten einer dynamischen, modernen Stadt, in der alle sozialen Schichten zusammenkommen. Die Realität sieht jedoch anders aus: Die sozial schwachen Viertel und die Stadtteile, in denen sich Unternehmen angesiedelt haben, existieren weitgehend losgelöst voneinander. Wenn die Entwickler von Carré de Soie ihren Standort bewerben, verschweigen sie ihren Kunden im Übrigen gern, dass er in Vaulx-en-Velin liegt.

Die Erfolgsgeschichten von „jungen Menschen aus einem Problemviertel, die ihren Weg gemacht haben“, sind beliebt, sowohl beim Staat, der sie mit Programmen wie dem Wettbewerb „Talente aus Problemvierteln“ fördert, der 2002 aufgelegt wurde, um junge Gründer und Unternehmer aus sozialen Brennpunkten zu unterstützen, als auch bei den Medien. Im März 2015 begeisterte sich das Magazin Capital für Mohed Altrad, den „Sohn eines Beduinen, der zum Millionär geworden ist“, als Gründer und Chef von Altrad, einem weltweit führenden Unternehmen für Baumaschinen und -material. Das Magazin pries auch Héritier Lu­wa­wa Nzinga, „einen ehemaligen Pizzaboten, der es zum Chef eines Unternehmens gebracht hat“, oder Abdelkrim Benamar, aufgewachsen im Pariser Vorort Montfermeil und heute Vize­präsident des Telekom-Ausrüsters Alcatel-Lucent. Banamar sagte dem Ma­ga­zin, er habe „niemals Diskriminierung erfahren“.

Die Schilderungen der jungen Unternehmer aus Vaulx-en-Velin sind weniger schillernd. Sie erzählen davon, dass ihre Herkunft ihren Zukunftsplänen immer im Weg stand. Viele erwägen, ins Ausland zu gehen (in die angelsächsischen Länder oder in die Golfstaaten) oder wenigstens für ausländische Unternehmen zu arbeiten, weil es dort vermeintlich weniger Diskriminierung gibt. Bilal, ein unabhängiger Unternehmensberater, hat damit gute Erfahrungen gemacht: „Dort ist man sehr offen, es ist ein Schmelztiegel. Man trinkt einen Kaffee mit einem Asiaten, hat dann ein Meeting mit jemandem aus Madagaskar oder eine Telefonkonferenz mit einem Amerikaner. Bei angelsächsischen Unternehmen fragen sie dich nicht nach deiner Herkunft, aber in Frankreich ist das immer die erste Frage.“

Das mag eine verklärte Sicht sein – Migranten aus dem Maghreb haben es in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien oder in Kanada ganz und gar nicht leicht. Aber es zeigt die verbitterte Skepsis der jungen Männer aus Vaulx-en-Velin über das „französische Modell“ und seine identitären Zuschreibungen, dass sie am Ende Unternehmertum und Leistungsdenken idealisieren.

1 Alle Namen geändert. Die Gespräche fanden im Rahmen eines Forschungsprojekts für das Centre de ressources et d’échanges pour le développement social urbain in Lyon statt. Die Ergebnisse sind zusammengefasst in dem Bericht „Résilience sociale et affirmation de soi à Vaulx-en-Velin“ („Soziale Stärkung und Identitätsfindung in Vaulx-en-Velin“) von 2016.

2 Am 25. Juli 1995 starben bei einer Bombenexplosion in einer Pariser S-Bahn-Station 8 Menschen, 200 wurden verletzt. Am 6. Oktober wurden bei einer weiteren Explosion 18 Menschen verletzt. Zu den Anschlägen bekannte sich die algerische Terrorgruppe GIA.

3 Die „politique de la ville“ wurde in den 1980er Jahren institutionalisiert und beruht auf positiver Diskriminierung: Gebiete, in denen sich Probleme konzentrieren, sollen besonders gefördert werden.

4 Philippe Douroux und Maryam El Hamouchi, „­Sciences Po: Une diversité trop homogène“, Libération, 23. Januar 2017.

5 Apec: Agence pour l’emploi de cadres (Arbeitsvermittlung für Führungskräfte).

6 Siehe Jean-Laurent Cassely, „Comment la banlieue parisienne s’est ubérisée“, Slate.fr, 13. Mai 2016.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Hacène Belmessous ist unabhängiger Forscher und Journalist. Zuletzt erschien: „Le Grand Paris du séparatisme social. Il faut refonder le droit à la ville pour tous“, Fécamp (Post-Éditions) 2015.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2017, von Hacène Belmessous