09.03.2017

Mehr als Religion

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Mehr als Religion

Ob Ehe, Wehrdienst oder Ruhe am Schabbat – in Israel streiten Säkulare und Orthodoxe um den Einfluss jüdischer Gebote

von Yair Ettinger

Sit-in von Orthodoxen gegen ein Parkhaus in der Jerusalemer Altstadt TARA TODRAS-WHITEHILL/ap
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Und dann hat man es doch wieder abgenommen, das kleine braune Hinweisschild auf dem Weg zur Klagemauer. „Ezrat Israel“, ein Ort für ganz Israel, stand da in hebräischen Lettern und darunter auf Englisch: „Azarat Israel Plaza“. Folgte man dem Schild, wurde man von der Hauptgasse nach rechts gelenkt, passierte einen schmalen Durchgang und erreichte über steile Stufen eine kleine Plattform auf Metallstelzen, die vor vier Jahren über einer Ausgrabungsstätte an der Südseite der Klagemauer errichtet wurde.

Das Schild ist weg, aber nicht der Ort: Seit einem Regierungsbeschluss vom Januar 2016 ist „Ezrat Israel“ die offizielle Gebetsstätte für nichtorthodoxe Gläubige; ohne Trennung zwischen Frauen und Männern, wo Gebete auch unter der Leitung von Frauen stattfinden können. Zwar wurde die Plattform schon seit ihrer Errichtung 2013 für gemischte Gebete genutzt, doch nun hat die Regierung zum ersten Mal offiziell anerkannt, dass auch den nichtorthodoxen Strömungen des Judentums ein Platz an der Klagemauer zusteht.1 Außerdem verpflichtete sie sich, das Provisorium zu einer permanenten Gebetsstätte auszubauen.

Wie zu erwarten war, wurde der Beschluss von den liberalen Gemeinden, die allein in Nordamerika Millionen Mitglieder zählen, begrüßt, während die Orthodoxen in Israel dagegen protestierten. Alsbald entbrannte ein politisches und juristisches Tauziehen, das bis heute andauert. Das „Ezrat Israel“-Schild fiel dem Kampf zwischen den verschiedenen Fraktionen zum Opfer. Im Dezember 2016 wurde es von Vandalen zerstört, auch ein neues Schild hielt nicht lange. Auf Druck der ultraorthodoxen Organisationen ließ es die Stadtverwaltung im Januar 2017 wieder entfernen.

Bereits einige Wochen zuvor war es an der Klagemauer zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen. Etwa 200 Rabbiner und Anhänger der Konservativen wie der Reformbewegung hatten sich mit Thorarollen auf den Weg zur zentralen Gebetsstätte gemacht, um gegen die Untätigkeit der Regierung zu demonstrieren, die seit fast einem Jahr nichts unternommen hatte, um das Provisorium auszubauen. An der Klagemauer wurden die Demonstranten von einigen Dutzend Ul­tra­orthodoxen rüde empfangen; es wurde gerempelt und gespuckt.

Der Streit um die Klagemauer ist nur die Spitze des Eisbergs: Seit 70 Jahren bekriegen sich in dem kleinen Staat Israel, der in vielerlei Hinsicht modern und westlich ist, Angehörige der gleichen Religion: Alle sind sie Juden, doch sie ringen ständig miteinander um die Frage, worin die religiöse Identität und der Charakter des jüdischen Staates bestehen – auf symbolischer und praktischer Ebene, im öffentlichen wie im privaten Leben.

Es ist ein dynamischer Kampf. Und er hat die Israelis gelehrt, dass es schwierig ist – vielleicht auch nicht gewollt –, eine Entscheidung herbeizuführen. Die Erfolge, die jede Seite für sich verbuchen kann, werden „auf dem Feld“ erreicht, nicht durch Beschlüsse der Knesset oder Reformen. Und es sind immer nur Etappensiege, mal für die eine, mal für die andere Seite.

In Israel existiert eine klare ethnische Trennung zwischen den rund 80 Prozent jüdischen und 20 Prozent arabischen Staatsbürgern. Doch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ist der vielleicht wichtigste Faktor die religiöse Zugehörigkeit, also die Frage, welche Art Jude man ist. Nach Einteilung von Meinungsforschern gibt es nichtreligiöse Säkulare („Hiloni“, 43,5 Prozent), Traditionalisten („Masorti“, 37 Prozent), Religiöse („Dati“, 10,5 Prozent) und Ultraorthodoxe („Haredi“, 9 Prozent).2

Das Verhältnis zur Religion ist für viele Fragen des Alltags entscheidend, von der Wahl der Wohngegend und der Schule, auf die man seine Kinder schickt, bis zur politischen Ausrichtung. Sowohl die Dati und Haredi, die an die ewige Gültigkeit der Thora glauben, als auch die nicht oder weniger religiösen Hiloni und Masorti definieren sich im Verhältnis zum dominierenden orthodoxen Judentum; Anhänger der liberalen Strömungen (Reformjudentum und Konservative, die ihre Wurzeln im deutschen Judentum haben, seit dem 20. Jahrhundert hauptsächlich in Nordamerika vertreten) gehören in Israel zur Minderheit (etwa 5 Prozent).

Straßenschlachten zwischen Gläubigen und der Polizei

Dieser innerjüdische Konflikt ist nicht mit der blutigen Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern vergleichbar, aber es kommt nicht selten zu regelrechten Straßenschlachten. Er beschäftigt den Staat und die Gerichte und produziert nahezu täglich Schlagzeilen. Wie zuletzt Anfang Februar, als sich im ultraorthodoxen Jerusalemer Stadtviertel Me’a Sche’arim und in anderen Städten des Landes junge Gläubige nächtelang Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, um gegen jede Form von Militärdienst für orthodoxe Männer zu protestieren.

Solche Zusammenstöße kommen mittlerweile so häufig vor, dass zum Teil gar nicht mehr über sie berichtet wird. Zudem gelingt es der Presse kaum noch, den Überblick über die vielen Detailfragen zu behalten, mit denen sich die Regierung und Parlament auseinandersetzen müssen: Da geht es um die Einhaltung des Schabbat und der Kaschrut (Speisegesetze), um die Frage der Wehrpflicht für Studenten der Jeschiwas (theologischen Hochschulen), um die Einberufung religiöser Frauen zur Armee, um weibliche Beamte in staatlichen Ämtern, die mit Religionsangelegenheiten zu tun haben – und natürlich auch um den Ausbau des Gebetsplatzes „Ezrat Israel“ an der Klagemauer.

Der Ausbau liegt seit Januar 2016 auf Eis. Ministerpräsident Netanjahu steht vor einem Dilemma: Setzt er den Plan um, riskiert er den Bruch mit seinen ultraorthodoxen Koalitionspartnern.3 Gibt er ihn auf, macht er sich bei den amerikanischen Juden unbeliebt. So sieht die Alltagsroutine im jüdischen Staat aus – Meinungsverschiedenheiten werden meist auf niedriger Stufe ausgetragen, doch jede einzelne von ihnen kann sich zu einer größeren politischen Krise auswachsen und selbst die Regierung erschüttern.

Um zu begreifen, warum die Beziehung zwischen Staat und Religion in Israel ein derart heikles Thema ist, muss man 70 Jahre zurückgehen: Im Juni 1947 sandte David Ben Gurion als Vorsitzender der Jewish Agency einen kurzen Brief an die Führung der ultraorthodoxen Partei Agudat Jisrael.4

In dem Schreiben, das als „Status- quo-Dokument“ in die Geschichte einging, verpflichtete sich die weltliche Führung des Jischuw (der jüdischen Ansiedlung in Palästina), die Religion in vier sensiblen Bereichen zu berücksichtigen, in denen sie mit dem demnächst entstehenden säkularen Staat in Berührung kommen würde.

Drei Zusagen betrafen die Gesamtheit der jüdischen Bevölkerung: Einhaltung der religiösen Prinzipien bei Konversion, bei Heirat und Scheidung sowie beim Schabbat. Die vierte Zusage betraf allein die orthodoxe Gemeinde, der volle Autonomie über die Schulbildung ihrer Kinder zugesichert wurde.

Anlass für Ben Gurions Schreiben war der bevorstehende Besuch des UN-Sonderausschusses (Unscop), der die UN-Vollversammlung über die Situa­tion in Palästina unterrichten sollte. Um die Repräsentanten der zionistischen Institutionen (Gewerkschaft und Jewish Agency) auf ihren Auftritt vor dem Ausschuss vorzubereiten, versuchte die weltliche Führung des Jischuw mit verschiedenen Gruppierungen gemeinsame Positionen zur Identität des zukünftigen jüdischen Staates zu formulieren. Einige Monate später empfahl der Ausschuss tatsächlich, wie von Ben Gurion erhofft, das Land zu teilen und einen jüdischen neben einem arabischen Staat zu errichten.

Ben Gurion versprach den Orthodoxen, den Schabbat zum „gesetzlichen Ruhetag im Staate Israel“ zu erklären und die Kaschrut zu schützen („jede staatliche Küche, die für Juden bestimmt ist, soll auch koschere Speisen anbieten“). Er versicherte, dass die Jewish Agency und ihre Vertreter alles tun würden, um in Ehefragen „das tiefe Bedürfnis der frommen Juden zu befriedigen und eine Spaltung des Volkes Israel zu vermeiden“. Und in Fragen der Ausbildung und Erziehung der Kinder sollten alle religiösen Strömungen „volle Autonomie“ bekommen; der Staat würde nur über einen Mindestpflichtunterricht bestimmen (in hebräischer Sprache, Geschichte und in den Wissenschaften).

Dieses historische Dokument besitzt zwar keine Gesetzeskraft, doch es etablierte ein Prinzip, das in Israel bis heute gilt: Die allermeisten religiösen Angelegenheiten regelt das Oberrabbinat. Diese gesetzlich anerkannte Körperschaft, die mit den Jahren immer strikter wurde, besitzt unter anderem die Jurisdiktion über Eheschließungen und Konversionen und entscheidet darüber, welche Nahrungsmittel den Koscher-Stempel erhalten.

Der in einer einfachen, alltäglichen Sprache verfasste Brief von Ben Gurion ist jedoch weitaus kürzer, als die damit verknüpften Gerüchte, Legenden und Interpretationen vermuten lassen. Und so führt nicht nur die Frage nach dem gültigen Status quo regelmäßig zu Streit. Es fängt schon damit an, dass niemand genau weiß, was überhaupt der Status quo ist – ein Teil des Briefs ist wohl absichtlich etwas nebulös formuliert, sodass jede Seite regelmäßig behauptet, er werde zu ihrem Nachteil interpretiert; Beschwerden kommen aus dem religiösen und dem säkularen Lager gleichermaßen.

Manche sagen, Ben Gurion sei damals gezwungen gewesen, den Brief an die orthodoxe Führung zu schreiben, weil diese gedroht habe, beim Unscop Vorbehalte gegen die Staatsgründung anzumelden. Andere meinen, er habe den Brief aus eigener Initiative geschrieben, weil er die orthodoxe Führung besänftigen wollte. Tatsächlich sind die Beziehungen zwischen Reli­giö­sen und Säkularen in der israelischen Gesellschaft bis heute in hohem Maß von gegenseitigem Misstrauen geprägt, und beide Seiten sind überzeugt, dass ihnen die jeweils andere ihre Meinung aufzwingt.

Auch wenn es von außen anders aussehen mag – in diesem Streit gibt es keine eindeutigen Gewinner und Verlierer: Zwar ist die Religion im öffentlichen Leben, im politischen System, in den Medien, vor Gericht und auf der Straße heute viel präsenter als früher, aber gleichzeitig hat sich Israel in vielerlei Hinsicht zu einem westlichen, weltlicheren Staat gewandelt.

Aus Meinungsumfragen geht regelmäßig hervor, dass die meisten Israelis ihr Judentum als sehr wichtig empfinden und wollen, dass der Staat einen „jüdischen Charakter“ hat; aber die Mehrheit ist dagegen, die Halacha, das talmudische Religionsgesetz, breiter gesetzlich zu verankern – auch wenn man sich persönlich danach richtet.

In der letzten umfassenden Studie des Guttman-Instituts von 2012 gaben 94 Prozent der Befragten an, dass sie die Beschneidung für bedeutsam halten.5 Für 86 Prozent ist es wichtig, ihre Toten nach jüdischer Tradition zu bestatten, und 80 Prozent wollen nach religiösem Ritus unterm Brautbaldachin und mit Rabbiner heiraten. Gleichzeitig sprachen sich 51 Prozent für die Einrichtung der Zivilehe in Israel aus, ohne Beteiligung des Rabbinats. Eine andere Umfrage, die im September 2016 in der Jerusalem Post veröffentlicht wurde, ergab, dass 62 Prozent der israelischen Juden (und 74 Prozent der Juden in Amerika) eine offizielle Anerkennung der nichtorthodoxen Glaubensrichtungen in Israel durch den Staat befürworten.

Wo also liegt das Problem? Auch heute wird das Status-quo-Dokument nahezu in jedem Koalitionsabkommen als Schlüssel für die Frage nach der Beziehung zwischen Staat und Religion angeführt. Aufgrund seiner Unklarheit eignet es jedoch sich nicht als Grundlage für die Ausarbeitung einer Verfassung oder eines Konkordats, das das Verhältnis von Staat und Religion mit einem modernen Zivilrecht endgültig festlegen würde. Alle Versuche in ­diese Richtung sind bislang gescheitert.

Das liegt auch daran, dass seit dem Brief von Ben Gurion zahlreiche neue Fragen hinzugekommen sind, die regelmäßig die Regierung, die Knesset und die Gerichte beschäftigen. Zum Beispiel beim Thema Konversion: Anfang 2016 entschied der oberste Gerichtshof, dass Konvertiten, die mithilfe konservativer Rabbiner zum Judentum übergetreten sind – die also vom israelischen Oberrabbinat (und damit auch vom Staat) nicht anerkannt werden –, das rituelle Tauchbad in den öffentlichen Mikwen erlaubt werden muss. Daraufhin verabschiedete die Knesset ein entsprechendes Gesetz.

Auch bei Eheschließungen gibt es immer wieder Probleme: 2014 bestätigte das Kabinett ein Gesetz, das Hochzeitszeremonien ohne Registrierung beim Oberrabbinat (und unter der Leitung nicht anerkannter Rabbis) unter Strafe stellt. Braut, Bräutigam und ­Rabbi können dafür bis zu zwei Jahre ins Gefängnis wandern. Auch die Kaschrut wird immer wieder zum Zankapfel. So steht eine Entscheidung des obersten Gerichtshof aus, ob Restaurants, die sich den Kontrollen des Oberrabbinats entziehen, ihre Speisen weiterhin als koscher deklarieren ­dürfen.

Vor allem zwei Themen rücken im Kampf um das Verhältnis von Staat und Religion immer wieder ins Zentrum der Auseinandersetzungen: der Schutz der Ruhe am Schabbat im öffentlichen Raum und die Frage der Wehrpflicht für die Ultraorthodoxen.

Die Arbeitsgesetze im Staat Israel legen fest, dass der Schabbat allgemeiner Ruhetag ist. Am Schabbat ein Geschäft zu betreiben oder eine Dienstleistung anzubieten, erfordert grundsätzlich eine staatliche Sondergenehmigung, die zum Beispiel lebensnotwendige Dienstleistungsunternehmen wie Stromversorger besitzen. Trotz des prinzipiellen Verbots gibt es allerdings inzwischen hunderte Geschäfte, die auch am Schabbat geöffnet haben.

Regierungskrise wegen Gleisarbeiten am Schabbat

Der Streit, wie der Schabbat einzuhalten ist, zieht sich bisweilen bis in die Regierungskoalition: Als im Herbst 2016 herauskam, dass die staatliche Bahngesellschaft am Schabbat Gleisarbeiten durchführte (weil ohnehin kein öffentlicher Verkehr stattfindet), meldeten orthodoxe Medien, dass die Arbeiten nicht lebensnotwendig seien und dass die ultraorthodoxen Parteien der Regierungskoalition bei der „Entweihung“ des Schabbat kooperiert hätten. Daraufhin setzte die ultraorthodoxe Basis ihre Vertreter in der Regierung unter Druck; sie sollten ein Ultimatum für den Abbruch der Arbeiten stellen und zur Not sogar die Koa­li­tion verlassen. Das haben sie 2000 tatsächlich schon einmal gemacht, nachdem Angestellte der staatlichen Elek­tri­zi­täts­ge­sell­schaft am Schabbat beim Transport von Turbinenteilen gesichtet worden waren. Die ultraorthodoxen Parteien verließen unter Protest die Koali­tion, was die damalige Regierung unter Ehud Barak ins Wanken brachte und mit zu ihrem Ende beitrug.

Noch viel komplizierter gestaltet sich die nahezu unendliche politische und juristische Auseinandersetzung um den privaten Geschäftsbetrieb am Schabbat, vor allem in Tel Aviv, der Hochburg des Säkularismus. Im Januar 2017 urteilte der oberste Gerichtshof, dass die Regierung darüber entscheiden muss, ob man es der Tel Aviver Stadtverwaltung gestattet, die Öffnung von Geschäften am Schabbat zu erlauben. Die Entscheidung liegt nun bei Innenminister Arje Deri von der ultraorthodoxen Schas-Partei, der selbst wiederholt öffentlich erklärt hat, wie wichtig die Einhaltung des Schabbats sei. Doch obwohl seine Parteigänger es gern sähen, ist nicht davon auszugehen, dass er der Stadtverwaltung so bald Fesseln anlegen wird; er wäre dann schuld, wenn Tel Aviv am Schabbat geschlossen bleibt.

Verständlicherweise beteten die ul­tra­orthodoxen Politiker in beiden Fällen dafür, dass das Themas von der Tagesordnung verschwindet, um zu stillschweigenden Arrangements zurückkehren zu können. Bis jetzt wurde noch keine endgültige Entscheidung getroffen, doch es ist anzunehmen, dass die Arbeit am Schabbat, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor, weitergehen wird.

In Tel Aviv, der „Stadt, die nie schläft“, ist die Öffnung der Geschäfte am Schabbat die Folge einer über Jahre gestiegenen Nachfrage der säkularen Kundschaft. Zahlreiche nichtreligiöse Geschäftsleute nehmen sogar Geldstrafen dafür in Kauf, an sieben Tagen in der Woche verkaufen zu können. Sogar im weitaus religiöseren Jerusalem, wo die ultraorthodoxen Parteien im Rathaus sitzen, gibt es heute über 200 Betriebe, die am Schabbat geöffnet haben – vor 20 Jahren war das noch undenkbar. Andererseits gibt es jedoch zahlreiche Beispiele für die Ausbreitung der Religiosität. So haben die demografischen Veränderungen in Jerusalem mittlerweile dazu geführt, dass ganze Stadtviertel strikt religiös geprägt sind. Und das beeinflusst natürlich den Alltag, etwa wenn am Schabbat ganze Straßen für den Verkehr gesperrt sind. Auch herrscht auf Dutzenden Bus­li­nien in verschiedenen Orten des Landes weiterhin Geschlechtertrennung (Frauen müssen hinten sitzen), obwohl der oberste Gerichtshof diese Praxis 2011 für illegal erklärt hat.

Das zweite zentrale Streitthema, die Befreiung orthodoxer Jeschiwa-Studenten von der Wehrpflicht, geht auf einen Beschluss bei der Staatsgründung 1948 zurück. Damals betraf das nur eine kleine Gruppe von etwa 400 Männern, wohingegen zum Beispiel 2014 bereits an die 50 000 Männer aus religiösen Gründen vom Wehrdienst befreit waren. Dieser Anstieg ist vor allem das Resultat der demografischen Entwicklung, aber auch des Zulaufs zum orthodoxen Judentum durch die baal teschuwa („Religionsrückkehrer“).6

Staat und Politik haben in diesem Bereich so gut wie keine Kontrollmöglichkeit. Auch die vorherige Regierungskoalition unter Netanjahu (2013–2015), an der keine ultraorthodoxen Parteien beteiligt waren, schaffte es nicht, sich durchzusetzen und die hohe Anzahl der vom Militärdienst Befreiten zu reduzieren – trotz des Drucks vonseiten der Koalitionspartei Jesch Atid (Zukunftspartei), dessen Vorsitzender Yair Lapid sich die allgemeine Wehrpflicht ohne Ausnahmen auf die Fahne geschrieben hatte.

Ähnliches gilt auch für „Ezrat Israel“. Die Regierung hat bei ihrem Beschluss vom Januar 2016 ein weiteres Mal das Misstrauen und die Feindseligkeit zwischen den religiösen Gruppen unterschätzt und die Regel nicht berücksichtigt, die da lautet: Solange die israelische Gesellschaft in religiösen Fragen so polarisiert ist, ist auch die kleinste Veränderung des Status quo schwer durchsetzbar. In der gegenwärtigen politischen Realität sind solche Veränderungen nur von unten nach oben möglich, in langsamen, abgestuften Prozessen, so wie in den Straßen Tel Avivs oder den religiösen Vierteln Jerusalems. Die religiösen Veränderungen kommen in Israel im Kleinen, ohne laute Proklamationen, ohne Siegeserklärungen im Religionskrieg. Schon ein kleines braunes Schild, angebracht in der Gasse zur Klagemauer, kann ein zu großer Schritt sein.

1 Auf dem nördlichen Hauptplatz vor der Klagemauer sind Gebete ausschließlich nach orthodoxem Ritus erlaubt; mit strikter Trennung zwischen Männern und Frauen. Zudem ist es Frauen verboten, rituelle Kleidungsstücke zu tragen (wie den Gebetsschal oder die Gebetsriemen), zu singen oder laut aus der Thora zu lesen.

2 Nach einer Umfrage des Israel Democracy Insti­tute von 2014.

3 In der aktuellen Regierung (seit Mai 2015) sind die beiden ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum beteiligt, die zusammen drei Ministerien innehaben (Inneres, Gesundheit und Religiöse Angelegenheiten).

4 Agudat Jisrael war bereits im britischen Mandatsgebiet aktiv und später bis in die 1980er Jahre die dominierende Partei der Ultraorthodoxen in Israel.

5 „A Portrait of Israeli Jews“, Guttman Center of the Israel Democracy Institute, 2012.

6 Die Baal-Teschuwa-Bewegung (wörtlich: „Meister der Buße“) begann Mitte des 20. Jahrhunderts; der Ausdruck steht für die „Rückkehr“ vormals säkularer Juden zur Religion. Das Phänomen ist nicht nur auf Israel begrenzt, sondern auch in den USA und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu finden.

Aus dem Hebräischen von Barbara Linner

Yair Ettinger ist Journalist bei der Tageszeitung Haaretz. Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus der Edition Le ­Monde diplomatique, Nr. 21, „Israel und Palästina. Umkämpft, besetzt, verklärt“. Das Heft erscheint am 11. April.

© Le Monde diplomatique 2017

Le Monde diplomatique vom 09.03.2017, von Yair Ettinger