12.01.2017

Der Russe und der Ami

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Der Russe und der Ami

Am 9. Februar 1950, im Kalten Krieg, wetterte ein damals noch unbekannter republikanischer Senator: „Ich habe hier eine Liste von 205 Personen, die dem Außenminister als Mitglieder der Kommunistischen Partei bekannt sind, und trotzdem bestimmen sie die Politik des Außenministeriums.“ Joseph McCarthy hat sich auf niederträchtige Weise einen Platz in der US-Geschichte gesichert: Die ominöse Liste existierte gar nicht, aber die Welle der anti­kommunistischen Hysterie und der nachfolgenden Säuberungen zerstörte das Leben tausender Amerikaner.

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Nun, Anfang 2017, wird der Patriotismus des nächsten US-Präsidenten infrage gestellt. Angesichts seines Kabinetts aus Offizieren und Milliardären gibt es viele Gründe, den Amtsantritt von Donald Trump zu fürchten. Doch die Demokratische Partei und viele westliche Medien scheinen besessen von der Vorstellung, Trump sei eine Marionette des Kreml und er verdanke seine Wahl den von Russland gesteuerten Hackerangriffen auf die Demokraten. Die McCarthy-Paranoia liegt lange zurück, aber die Washington Post knüpfte da­ran an, als sie am 24. November 2016 klagte, es gebe „mehr als 200 Websites, die wissentlich oder unwissentlich russische Propaganda veröffentlichen oder weiterverbreiten“.

Im Westen weht ein übler Wind. Fast jede Wahl wird auf russische Einflüsse hin untersucht. Ganz gleich, ob es sich um Donald Trump in den USA, Jeremy Corbyn in Großbritannien oder so verschiedene Präsidentschaftskandidaten wie Jean-Luc Mélenchon, François Fillon oder Marine Le Pen in Frankreich handelt – man muss nur Zweifel an den Sanktionen gegen Moskau oder an den antirussischen Verschwörungstheorien der bekanntlich unfehlbaren und untadeligen CIA äußern, schon steht man unter Verdacht, den Interessen des Kreml zu dienen.

Kaum vorzustellen, welcher Sturm der Entrüstung losgebrochen wäre, hätten die Russen und nicht die USA Angela Merkels Handy abgehört oder hätte Goo­gle Milliarden privater Nutzerdaten an Moskau statt an die NSA geliefert. Als Barack Obama am 16. Dezember auf einer Pressekonferenz sagte, Russland sei „ein kleineres, schwächeres Land“ als die USA, war er sich der Ironie seiner Äußerung wohl nicht vollständig bewusst: „Sie müssen begreifen, dass wir ihnen alles, was sie uns antun, auch antun können.“

Putin weiß das. Im Frühjahr 1996 konnte ein herz- und alkoholkranker (und korrupter) russischer Präsident, der für das soziale Chaos in seinem Land verantwortlich war, seine enorme Unbeliebtheit nur dank der politischen und finanziellen Unterstützung durch westliche Regierungen überwinden – und dank geglückter Wahlfälschung. Boris Jelzin, der damalige Liebling von Washington, Bonn und Paris (dabei hatte er 1993 das Parlament beschießen lassen und den Tod hunderter Menschen in Kauf genommen), wurde wiedergewählt. Vier Jahre später beschloss er, die Zügel in die Hände seines treuen Ministerpräsidenten zu legen, eines gewissen Wladimir Putin.

⇥Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 12.01.2017