07.07.2016

Der Drache, der Tiger und die Armen

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Der Drache, der Tiger und die Armen

Ein von Singapur angeführter Wirtschaftsraum bildet die Globalisierung im Kleinen ab

von Philippe Revelli

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Am Ende des einen Kilometer langen Damms, der die Insel Singapur mit der malaysischen Stadt Johor Bahru verbindet, liegt das Bandar-Viertel. Freitagabends sind die Caféterrassen voll. Viele der angeheiterten Gäste kommen aus Singapur. Die Chefs der Hotels, Bars und Restaurants sind Malaysier, die einfachen Angestellten großenteils Indonesier, darunter auch einige ohne legalen Status. Die Mischung ist durchaus typisch für die Arbeitsteilung zwischen den drei Ländern.

Das Begriff „Wachstumsdreieck“ stammt aus den 1980er Jahren und wurde am 17. Dezember 1994 zur offiziellen Bezeichnung erhoben, als Singapur, Malaysia und Indonesien das Indonesia Malaysia Singapore Growth Triangle (IMS-GT) gründeten. Die Eckpunkte dieses Dreiecks sind Singapur, die malaysische Hafenstadt Johor Bahru und die indonesischen Riau-Inseln (siehe Karte). Das Gründungsdokument war weder ein Abkommen mit präzisen Vertragsklauseln noch ein Entwicklungsprogramm mit festem Zeitplan. Es beschränkte sich darauf, die ohnehin laufenden Entwicklungen zu unterstützen.

Bei der Unterzeichnung erklärte damals Lee Hsien Loong als stellvertretender Ministerpräsident von Singapur, es gehe vor allem darum, „die Geschäftsbeziehungen über Grenzen hinweg zu fördern und zu erleichtern“.1 Die Initiative wurde als Beispiel für die regionale Entwicklung in einer globalisieren Welt präsentiert, in der Staatsgrenzen ihre Bedeutung verlieren. In diesem Sinne wollen die Partner darauf hinarbeiten, ihre jeweiligen komplementären Stärken – an Kapital, an Boden und an Arbeitskräften – durch Kooperation besser zur Geltung zu bringen.

Entstanden ist das Projekt in den Büros des Singapore Economic Development Board. Auf dem winzigen Territorium des Stadtstaats Singapur, der von 1987 bis 1994 ständig zweistellige Wachstumsraten erzielt hatte, fehlte es den Unternehmen an Raum; zugleich trieb die starke Nachfrage nach Arbeitskräften (die Arbeitslosenquote lag nahe null) die Löhne in die Höhe. Insofern schien es vernünftig, ein Projekt „komplementärer Entwicklung“ anzugehen, um den dringenden Bedarf an Raum, Arbeitskräften und Rohstoffen abzufangen.

Die Nordspitze des Dreiecks bildet Singapur, das über Kapital, qualifizierte Arbeitskräfte, beste technologische und kommerzielle Infrastrukturen sowie über den Zugang zum Weltmarkt verfügt. An der Basis des Dreiecks liegt im Osten Malaysia, das halbqualifizierte Arbeitskräfte, „angepasste Technologien“ und grundlegende Infrastrukturen sowie Rohstoffe und Land zu bieten hat. Den westlichen Eckpunkt schließlich bilden die indonesischen Riau-Inseln, die über unqualifizierte Arbeitskräfte und lediglich einfache Technologien verfügen, aber auch über große Rohstoffvorkommen und Riesenflächen ungenutzten Landes.

Gegenüber dem „Drachen“ Singapur lauerte der „Tiger“ Malaysia auf seine Chance.2 Der Ballungsraum um Jo­hor Bahru hat sich zu einer großen Industriezone entwickelt. Obwohl es nach wie vor politische Spannungen zwischen beiden Ländern gibt, die vor allem auf die Umstände des Ausschlusses von Singapur aus der Malaysischen Konföderation (1965) zurückgehen, hat die Regierung in Kuala Lumpur gegen den Kapitalzufluss aus Singapur nichts einzuwenden.

Die weltweit größte Milliardärsdichte

Indonesien stand 1994, als der Vertrag über das Wachstumsdreieck unterschrieben wurde, noch unter der Herrschaft von General Mohammed Suharto. Damals musste das Land, auch wegen der rückläufigen Erdöleinnahmen, ein vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank verordnetes Programm der „Strukturanpassung“ durchziehen. Der Dreiecksplan bot dem Inselstaat die Chance, die geografisch günstige Lage des Riau-­Ar­chi­pels zu nutzen. Die Inselgruppe zwischen der Küste Sumatras und Singapur liegt am Kreuzungspunkt der maritimen Handelsrouten zwischen Asien, Australien, Europa und dem Nahen Osten, verfügt aber auch über ein Reservoir billiger Arbeitskräfte.

22 Jahre danach hat Singapur nicht nur den zweitgrößten Containerhafen der Welt (nach Schanghai) und den viertgrößten Finanzplatz (nach London, New York und Hongkong), sondern auch die größte Milliardärsdichte. „Ohne die regionale Perspektive wäre es für Singapur schwieriger, wenn nicht unmöglich gewesen, seine Rolle als Weltstadt zu behalten“, urteilt Milica Topalovic, die am Future Cities Laboratory von Singapur arbeitet. Und in einem Bloomberg-Artikel heißt es geradezu überschwänglich: „Die beherrschenden Kräfte der Ökonomie des 21. Jahrhunderts sind Globalisierung und Urbanisierung: Aus ihrer Kombination entsteht eine Metropole, die weit über Grenzen, Kulturen und Währungen hinausgeht.“3 Wobei unerwähnt bleibt, dass 2015 in Singapur 500 000 der 5,5 Millionen Einwohner unterhalb der Armutsgrenze lebten.4

Auf malaysischer Seite florieren Handel und Immobiliengeschäfte dank der Kundschaft aus Singapur, die hier viel billiger einkaufen kann. Und auch billigeren Wohnraum findet, wie die Bloomberg-Analyse vermerkt: „Da es im Süden Malaysias preiswertes Bauland gibt, strömt das Geld über die Grenze.“ Dazu gehören die 3,4 Milliarden Dollar, die Singapur in das Projekt Iskandar Malaysia investiert. Die Riesenanlage mit Industrie- und Hafenzonen, Wohnanlagen und Einkaufs­zen­tren ist seit 2006 im Bau. Bis 2025 soll sie sich auf eine Fläche erstrecken, die dreimal so groß ist wie Singapur, und Investitionen von 100 Milliarden Dollar absorbiert haben, die 800 000 Arbeitsplätze schaffen sollen.

Während 150 000 Malaysier tagtäglich zum Arbeiten über die Grenze gehen, will sich das malaysische Johor Bahru nicht mit der Rolle als Industrievorort des reichen Singapur begnügen. Neben einem industriellen Sektor (IT-Technik, Petrochemie, Schiffsbau) sind die beiden zum Projekt Iskandar gehörenden Hafenterminals Pasir Gudang und Tanjung Pelepas entstanden, die direkt mit den Häfen von Singapur konkurrieren.

Was Indonesien betrifft, so sind die meisten Projekte und Investitionen auf den beiden Riau-Inseln Bintan und Batam zu verzeichnen. Bintan hat sich, da nur eine Fährstunde von Singapur entfernt, auf Tourismus spezialisiert. Im Norden der Insel sind Feriendörfer und Luxushotels auf einer Fläche von 23 000 Hektar entstanden. Der internationale Flughafen rechnet für 2017 mit 3,5 Millionen Passagieren.

Dagegen ist Batam zum Industriezentrum geworden. Zahlreiche Unternehmen mit Sitz in Singapur haben ihre Aktivitäten 20 Kilometer weiter auf die Insel verlegt, wo die Gesetze viel lockerer und die Löhne viel niedriger sind – während sie weiterhin von den Freihandelsabkommen profitieren, die Singapur nicht zuletzt mit den USA geschlossen hat.

Seit 2007 haben die Riau-Inseln den Status einer Freihandelszone. In den 13 Industrieparks, die das Amt für Industrielle Entwicklung von Batam verwaltet, sind fast 600 ausländische Unternehmen angesiedelt, vor allem Montagebetriebe großer IT-Konzerne (Sanyo, Panasonic, Siemens, Sony, To­shi­ba, Epson) und Zuliefererfirmen für Werften. Insgesamt sind hier rund 300 000 Arbeitskräfte beschäftigt, zwei Drittel davon Frauen.

Dieser Boom hat eine starke Zuwanderung von anderen Inseln des indonesischen Archipels ausgelöst. Deshalb ist die Bevölkerung von Batam binnen 30 Jahren von einigen zehntausend auf 2 Millionen Menschen angewachsen. Und während die meisten früher Fischer waren, ist die Bevölkerung heute rein städtisch geworden. Da die Immobilienpreise ständig steigen, ist für viele eine Wohnung unerschwinglich. Zehntausende Familien hausen in Slums.

Das Versprechen auf ein besseres Leben zieht tagtäglich neue Zuwanderer an. Und weil es mehr Bewerber als Stellen gibt, landen viele im informellen Sektor, inklusive der Prostitution. Die Anwerbefirmen sitzen vor allem auf Java und Sumatra, die Einheimischen haben daher kaum Chancen auf bezahlte Jobs.

Fischer werden Piraten

Für die Fischerei ist die Entwicklung verheerend: Die Küste zugebaut, die Mangrovenwälder zerstört, das Meer durch Industrieabwässer und den gigantischen Schiffsverkehr verdreckt. Ihrer alten Einkommensquelle beraubt, betätigen sich manche Fischer – aber auch Betreiber von Taxibooten – gelegentlich als Piraten oder lassen sich von kriminellen Organisationen für größere Operationen anheuern. Im ersten Halbjahr 2015 wurden um Bantam mehr als 100 Piratenüberfälle registriert5 , darunter acht Entführungen von Öltankern in den Straßen von Malakka und Singapur.

Die Konjunktur schwächelt, die Auftragsbücher der Werften sind leer – und die Unternehmen weichen sofort in andere Länder der Region aus, wo die Löhne niedriger und die Arbeiter gefügiger sind.6 Seit Anfang des Jahrtausends sind auf Batam Gewerkschaften aktiv. Heute sind sie in einem Drittel der Unternehmen vertreten und geben sich trotz aller Probleme kämpferisch.

Für den Zeitraum bis 2020 prognostiziert Toh Mun Heng, Professor an der National University of Singa­pore Business School, für das Dreieck ein jährliches Wachstum von 5,7 Prozent,7 was an der ökonomischen Hierarchie innerhalb des Dreiecks freilich kaum etwas ändern wird. Singapur liegt mit seinem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 83 066 Dollar (kaufkraftbereinigt) weltweit an dritter Stelle (hinter Katar und Luxemburg), Indonesien hingegen mit 10 651 Dollar auf Platz 103. In Malaysia beträgt das Durchschnittseinkommen 850 Dollar pro Monat, in Indonesien nur 130 Dollar.

Für die Geografin Nathalie Fau sind diese Unterschiede nicht etwa die Folge von Funktionsstörungen, die es innerhalb des Wachstumsdreiecks zu korrigieren gilt, sondern im Gegenteil die Basis, auf der das ganze Modell beruht: Das IMS-GT setze die Prinzi­pien der internationalen Arbeitsteilung vielmehr auf regionaler Ebene um: „Sein Funktionieren beruht auf einem dreifachen Gefälle zwischen den Anrainerstaaten der Meerenge: einem ökonomischen (Arbeitskosten, Industrialisierungsniveau und Anteil des Dienstleistungssektors), einem demografischen (Verfügbarkeit von Arbeitskräften) und einem politischen (Protektionismus oder Freihandel).“8

Die Hoffnung auf einen fairen Anteil am Wachstum für alle drei Partner ist ebenso illusorisch wie das Zukunftsversprechen eines Territoriums ohne Grenzen in einer strahlenden Global City. Zu den nationalen Grenzen sind längst neue, interne Demarkationslinien hinzugekommen: So können Waren, die auf den Riau-Inseln produziert werden, nicht mehr unbeschränkt ins übrige Indonesien gelangen, weil Jakarta den Verkauf von Waren aus zollfreien Zonen eingeschränkt hat, um lokale Produzenten zu schützen. Und zwischen den drei Eckpunkten des Dreiecks können zwar Waren und Kapital nahezu ungehindert zirkulieren, nicht aber die Menschen.

Während die Bewohner der Riau-Inseln bis Anfang der 1980er Jahre oft nach Singapur fuhren, um einzukaufen oder Verwandte zu besuchen, können sie solche Reisen heute kaum noch unternehmen, weil die Kluft zwischen ihrem Lebensstandard und dem des Stadtstaats immer tiefer geworden ist.

Nach der Krise von 1997/1998 hat Singapur die Grenzkontrollen verstärkt, um die illegale Einwanderung tausender Arbeitsloser zu stoppen. Nach 9/11 wurden die Kontrollen unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Terrorismus erneut verschärft. Doch zum Haupthindernis für den Grenzverkehr ist seitdem das wirtschaftliche Gefälle geworden. Die entfesselte Entwicklung im Wachstumsdreieck hat den meisten Menschen letzten Endes mehr Beschränkungen gebracht als die versprochene Mobilität.9

1 Presseerklärung der Regierung von Singapur, 25. Dezember 1994.

2 Die vier „Drachenstaaten“ Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur wurden in den 1980er Jahren von Schwellenländern zu Industrieländern, gefolgt von den „Tigerstaaten“ Malaysia, Thailand, Indonesien, Philippinen und Vietnam.

3 Sharon Chen, „Cut-price luxury homes fuel Singapore tri-nation sprawl“, Bloomberg, 4. Juni 2014, www.bloomberg.com.

4 Timothy Ho, „3 hard truths about poverty in Singa­pore“, 19. Mai 2015, www.dollarsandsense.sg.

5 Regional Cooperation Agreement on Combating Piracy and Armed Robbery against Ships in Asia (ReCAAP), Singapur.

6 „Electronics industry may soon abandon Batam“, The Jakarta Post, 22. Juli. 2014.

7 Siehe Sharon Chen, Anmerkung 3.

8 Nathalie Fau, „Le détroit de Malacca: des flux maritimes à la structuration d’une mer intérieur“, Géoconfluences, geoconfluences.ens-lyon.fr.

9 Siehe Michele Ford und Lenore Lyons, „The borders within: Mobility and enclosure in the Riau Islands“, Asia Pacific Viewpoint, Bd. 47, Nr. 2, Hoboken (New Jersey), August 2006.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Philippe Revelli ist Journalist und Fotograf (philipperevelli.com).

Le Monde diplomatique vom 07.07.2016, von Philippe Revelli