12.05.2016

Occupy auf Französisch

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Occupy auf Französisch

von Léa Ducré

Nuit debout: Paris auf den Beinen CHRISTOPHE ENA/ap
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Kommen Sie mit! Ich weiß nicht, was abgeht, aber irgendwas geht auf jeden Fall ab.“ Irgendwas: Das Wort sagt einiges über die Unentschiedenheit, die auf der Place de la République herrscht – und über den Wunsch, niemanden auszuschließen. Und die Notwendigkeit, etwas zu schaffen, das noch keinen Namen trägt.

Ausgangspunkt der Bewegung war ein Film: „Merci patron!“ von François Ruffin. „Ein Dokumentarfilm, der sofort Lust macht, aktiv zu werden“, sagt Loïc. Er war mit dabei, als der Film am 23. Februar vor dem Pariser Arbeitsamt gezeigt wurde – für ein Publikum, das selbst aktiv werden wollte. Die Absicht: „ihnen“ Angst machen. Der Gegner: „ein vermeintlich unüberwindbares Regime, das manche Neoliberalismus nennen, andere Kapitalismus und wieder andere Oligarchie“, erklärt Loïc. Bei der Diskussion nach dem Film kam die Idee auf: Nach der Demo am 31. März gegen die Reform des Arbeitsrechts gehen wir nicht nach Hause. Ein Dutzend Leute traf sich in einer Bar, um das zu organisieren.

Dann kam der Tag X. „Um 18 Uhr haben wir die ‚Nuit debout‘ ausgerufen. Um 18.30 Uhr war schon alles außer Kontrolle“, erzählt der Soziologiestudent Arthur. „Das wollten wir eigentlich auch. Wir hatten technisch gar nicht die Mittel, um die Bewegung nach dem 31. unter Kontrolle zu halten. Und politisch wollten wir das auch gar nicht.“ Seither kamen die Leute jeden Abend zusammen, trotz der Langatmigkeit der Debatten, der logistischen Schwierigkeiten und des zeitweise schlechten Wetters. Jede Nacht wurden Ausschüsse gegründet, die sich in immer neuer Zusammensetzung trafen. 80 000 Menschen verfolgten die ersten Versammlungen in Paris im Internet.

Die Bewegung griff schnell auf andere französische Städte über. Seit dem „32. März“ ist Toulouse dabei, auch Bordeaux hat sich von der nächtlichen Unruhe anstecken lassen. Dieselben Gesten, dieselbe Organisationsform und sehr ähnliche Debatten. „Alle haben ein gemeinsames Ziel: einen Platz besetzen und das System verändern.“ Sagt der Geschichtsstudent Guil­laume, er war schon beim beim ersten Vorbereitungstreffen am 6. März dabei. „­Nuit debout sollte Normalität werden. So dass jeder jeden Abend an einen Ort gehen kann, wo er mit anderen Bürgern diskutieren und sich austauschen kann.“

Die Arbeitsrechtsreform war der Ini­tial­zünder der Bewegung, inzwischen scheint sie nur noch ein Vorwand zu sein. Victor aus dem Aktionsausschuss ist seit seiner dritten Nuit debout überzeugt: „Das mit dem Arbeitsgesetz ist durch. Inzwischen sind wir bei anderen Themen. Das Gesetz war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, nach dem Ausnahmezustand, dem Gesetz zum Entzug der Staatsangehörigkeit, nach all den Gesetzen, die in den letzten dreißig Jahren zusammengekommen sind.“

„Unsere Träume landen nicht in ihren Urnen“, steht auf einem Plakat. „Schau auf deine Rolex – Zeit für die Revolte“ ist mit rosa Farbe auf den Boden gesprüht. Die Diskussionen klingen genauso: mehr Emotionen als Forderungen. Man ist zusammen, um sich in den Worten der anderen wiederzuerkennen. Der 24-jährige Sonderpädagoge Théo ist weder Systemgegner noch Mitglied einer Partei, mit Protesten und Demonstrationen hat er keine Erfahrung. Er ist da, weil er „keine Lust mehr hatte“, zu Hause zu bleiben. „Hier kann man einfach vorbeikommen, miteinander reden, sich Argumente anhören. In der heutigen Demokratie gehen wir wählen, aber wir sagen nichts.“

Sechs Leute stehen um einen Kochtopf und bieten kostenlos Obstsalat an. Ihre Hände zittern vor Kälte, und an ihren Wangen kleben durchnässte Regenhäute, debattiert wird lebhaft. Es geht um Rechte, um Wirtschaft und um die schwierige Lebenssituation vieler. Eine Krankenpflegerin, die wegen inakzeptabler Arbeitsbedingungen ihre Stelle aufgegeben hat, ein Rentner, der nicht weiß, wie er über die Runden kommen soll, ein junger Mann mit Uniabschluss, der in einem Fast-Food-Restaurant arbeitet, eine ratlose Gymna­sias­tin. Ein Konglomerat der Desillu­sio­nierung, aus dem, so die Hoffnung, ein gemeinsames Ziel entstehen soll.

„Wie wollen wir mit den Schmarotzern umgehen, die nur kommen, um Essen abzugreifen?“ „Sollen wir die Küche auslagern?“ Die Debatten, die die Vollversammlung beschäftigen, mö­gen trivial erscheinen. „Bevor wir ein nationales Demokratiemodell erfinden, müssen wir erst mal sehen, ob wir es schaffen, 200, 300 oder 3000 von uns auf einem Platz zu organisieren“, meint ein Student, der Camille genannt werden will. Gemeinsame Richtlinien entwickeln, die Diskussion kanalisieren, den Alltag organisieren: Während der ersten Tage band die Logistik des Protests alle Energien. Ein Dauercamp einzurichten, stellte sich als zu schwierig heraus. Seit dem 5. April trifft man sich auf der Place de la République zwischen 17 Uhr und Mitternacht.

Die Vollversammlungen und Ausschüsse befassen sich mit konkreten Vorschlägen. Aber wo anfangen? Und wie die Ideen der Nachtschwärmer und derjenigen zusammentragen, die an den jeweiligen Diskussionen nicht teilnehmen können? Am 11. April wurde der Beschwerdebuch-Ausschuss gegründet: Das Ziel: „Alle Ideen, Vorschläge und Beschwerden werden schriftlich erfasst, um so zu einer Form der direkten Demokratie zurückzukehren.“

Die Forderungen füllen viele Seiten: Gültigkeit von leeren Stimmzetteln, neue Verfassung, Legalisierung von Cannabis, Aufnahme von Flüchtlingen, freier Zugang zu Wasser et cetera. In all dem lässt sich kein gesellschaftliches Projekt erkennen; aber der Wunsch nach Mitwirkung an öffentlichen Angelegenheiten und sozialer Gerechtigkeit ist offensichtlich.

Die Bewegung weiß nicht genau, wo sie hinwill, aber sie weiß, was sie ablehnt. In Grenoble, Lyon, Toulouse und Nizza haben sich Verfassungsausschüsse gebildet. In einem Entwurf aus Grenoble heißt es: „Der Senat wird aufgelöst und von einer Bürgerversammlung ersetzt, deren Mitglieder in einem Panel A durch Los für ein Jahr bestimmt werden, nicht verlängerbar. (Panel A: Jeder Bürger nennt drei Personen seines Vertrauens, die er für kompetent hält.)“

In Paris fragt Arthur: „Ist das nicht ein bisschen sehr die Spinnerei von Bobos, Studenten und prekären Existenzen? Die Idee mit der Verfassung stößt auf Resonanz, aber nur weil hier die Leute eine bestimmte Weltsicht teilen. Einen Proll, der bei der Arbeit rausgeflogen ist, einen aus der Banlieue, interessiert doch eine soziale Verfassung nicht.“ Der Ausschuss Generalstreik versucht deshalb Kontakt zu Arbeitern und Gewerkschaften herzustellen.

Alle möglichen Vorschläge sind zu hören, aber man sollte sich hüten, das Worte „Partei“ in den Mund zu nehmen. Die meisten glauben, dass die Bildung einer politischen Partei einer demokratischen Kapitulation gleichkäme. Und fürchten, die Bewegung würde sich in Wahlen verschleißen. Die Besetzung eines Platzes gilt ihnen als eigenständiger politischer Akt wie eine Petition oder ein Generalstreik.

Die 34-jährige Emma war bei den Indignados in Spanien dabei, die nach dem Ende der 15-M-Bewegung noch aktiv geblieben sind, und ist nun nach Paris gekommen. „Wir befinden uns in Europa gerade in einem Generationswechsel, in der Art, Politik zu begreifen, zu kämpfen, zu kommunizieren, das Internet zu nutzen et cetera. Wir identifizieren uns nicht mit der traditionellen Linken. Wir arbeiten in sozialen Netzwerken und auf Plätzen, um die Leute aufzurütteln, um die Gesellschaft und den Status quo zu verändern. Die Aktivisten allein werden die Welt nicht ändern, aber die ganze Gesellschaft zusammen kann das schaffen.“

Viele glauben an die performative Kraft der Bewegung; für einige bedeutet jede auf der Place de la République verbrachte Nacht eine Neuerfindung des Politischen. Jeder besetzte Platz ein Trainingslager der Demokratie. So ist es auch für den 35-jährigen Quentin: „Man kriegt mit, dass es sehr komplex ist, sich zu organisieren und etwas auf die Beine zu stellen, aber genau das ist interessant.“ Er glaubt nicht mehr, dass Wahlen etwas ändern können. „Am Anfang gab es eine gewisse Begeisterung für die Regierung. Wir haben Hol­lande geglaubt, und heute stecken wir in einer Sackgasse. Das hat mich auf die Place de la République gebracht.“

Und der Medizinstudent ­Steve sagt: „Es gibt kein Wahlziel – außer dem, das Wahlsystem zu ändern.“ Und was dann? „Wir erfinden alles neu!“ Er mahnt zur Geduld. „Eine neue Gesellschaft zu schaffen, erfordert Bescheidenheit, Arbeit und Zeit.“ ­Steve träumt davon, dass die Nuits-debout-Bewegung bis über den Sommer anhält und anschließend in ständigen Volksversammlungen fortbesteht.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Léa Ducré ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2016, von Léa Ducré