10.03.2016

Der gestiefelte Karrierist

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Der gestiefelte Karrierist

von Christoph Fleischmann

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Es beginnt mit der Angst vor dem sicheren Tod. „Ein Müller hatte drei Söhne, seine Mühle, einen Esel und einen Kater“, so beginnt das Märchen vom gestiefelten Kater der Brüder Grimm. „Als der Müller starb, teilten sich die drei Söhne in die Erbschaft, der älteste bekam die Mühle, der zweite den Esel, der dritte den Kater, weiter blieb nichts für ihn übrig. Da war er traurig und sprach zu sich selbst: ‚[…] was kann ich mit dem Kater anfangen? Lass ich mir ein paar Pelzhandschuhe aus seinem Fell machen, so ist’s vorbei.‘ “ Zusammen hätten die drei Söhne wirtschaften können wie bisher, aber die neuen Eigentumsverhältnisse nach der Erbteilung führen dazu, dass die Schwächeren aussortiert werden: Dem jüngsten Sohn droht Armut, dem Kater der Tod.

Die Todesangst führt beim Kater zu einem gewagten Vorschlag: Der arme Bursche soll erst mal investieren. „Lass mir nur ein paar Stiefel machen, dass ich ausgehen kann und mich unter den Leuten sehen lassen, dann soll dir bald geholfen sein.“ Wie es weitergeht, ist bekannt: Der Kater stiefelt los, fängt mit List Rebhühner, die beim König begehrt sind. Als der Kater die Beute am Königshof abliefert, gibt er sie als Geschenk seines Herrn, eines Grafen mit „langem und vornehmen Namen“ aus. Der König lässt zum Dank den Sack des Katers mit Gold füllen. „Dann sagte der Kater: ‚Du hast zwar jetzt Geld genug, aber dabei soll es nicht bleiben, morgen zieh ich meine Stiefel wieder an, du sollst noch reicher werden.‘ “

Die Anfangsinvestition fordert eine Fortsetzung: Der Müllersohn soll baden gehen, nackt. Und als die königliche Kutsche vorbeifährt, ruft der Kater um Hilfe: Sein Herr, der Graf sei ausgeraubt worden. Sofort hilft der König aus, denn er hält den Mann für den großzügigen Rebhuhnschenker: Er bekommt königliche Gewänder und darf in der Kutsche bei König und Prinzessin Platz nehmen.

Nun muss die Scharade weitergespielt werden: Der Kater geht vor der Kutsche her und befiehlt den Arbeitern auf Wiese, Kornfeld und Wald, sie sollten behaupten, dies alles gehöre dem Grafen. „Wenn ihr das nicht tut, so werdet ihr alle totgeschlagen.“ Die Drohung wirkt, die Arbeiter sagen, was man ihnen aufträgt, obwohl alles einem mächtigen Zauberer gehört.

Doch den ermordet der Kater mit einer List: Er bringt ihn dazu, sich in eine Maus zu verwandeln, und frisst ihn kurzerhand auf. Als der König in seiner Kutsche das prächtige Schloss des toten Zauberers sieht, „das fast größer und schöner war als sein Schloss“, ist der Aufstieg des Müllersohns gelungen, wenn auch mit wenig feinen Mitteln: Hochstapelei, Drohung und Mord: „Da ward die Prinzessin mit dem Grafen versprochen, und als der König starb, ward er König, der gestiefelte Kater aber erster Minister.“

Für den Theologen und Psychoanalytiker Eugen Drewermann ist die Geschichte vom gestiefelten Kater ein „Antimärchen“, eine Satire auf die Wirklichkeit: Die gesellschaftlichen Mechanismen, um aufzusteigen und zu Wohlstand zu kommen, würden demaskiert.1

Hochstapelei, Drohung und Mord

Andererseits finden Märchenforscher hier auch traditionelle Elemente: In Märchen soll oft eine „naiv empfundene Gerechtigkeit“ wiederhergestellt werden, erklärt Ines Köhler-Zülch, Mitherausgeberin der „Enzyklopädie des Märchens“. Der Zu-kurz-Gekommene steige auf, die ungerechte Erbteilung werde ausgeglichen. „Märchen sind auch Wunschdichtung.“

Der Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit tritt bei der allerersten schriftlichen Fassung des Märchens vom gestiefelten Kater noch deutlicher hervor: Sie stammt von dem Italiener Giovanni Straparola, der Mitte des 16. Jahrhunderts in Venedig einen Band mit Märchen und Erzählungen veröffentlichte („Le piacevoli notti“ /„Die ergötzlichen Nächte“). In dieser Version vererbt eine arme Frau ihren drei Söhnen einen Backtrog, einen Brotkorb und eine Katze. Die beiden älteren Brüder vermieten ihre Küchengeräte und bekommen dafür Essen, von dem sie aber dem Jüngeren nichts abgeben: „ ‚Geh du nur zu deiner Katze, die wird dir schon geben!‘ “ Die Katze muss hier aber nicht um ihr Leben kämpfen, sie handelt aus „Mitleid“, indem sie ihren Herrn ableckt und so von der Krätze reinigt, dem äußeren Zeichen seiner Armut. Die Feenkatze als Garant für ausgleichende Gerechtigkeit? Straparola meldet selbst Zweifel an.

Der jüngste Sohn heißt bei ihm Costantino Fortunato: der glückliche Konstantin. Es ist ein sprechender Name, den Straparola in seiner Einleitung erklärt: „Es kommt häufig vor, dass ein sehr reicher Mann in große Armut gerät und einer, der in äußerster Armut lebt, zu Glanz und Reichtum gelangt.“ In Straparolas Heimatstadt Venedig konnte man tatsächlich, wie in den anderen Handelsstädten Europas, märchenhafte Aufstiege und Abstürze beobachten, die das Standesgefüge des Mittelalters durcheinanderbrachten: Ein auch in Venedig bekanntes Beispiel war das Handelshaus der Fugger: Hans Fugger kam als Landweber in die Reichsstadt Augsburg, sein Sohn gehörte schon zu den reichsten Männern der Stadt, sein Enkel dirigierte einen Weltkonzern und wurde zum Finanzier von Kurie und Kaiser.

Mit gerechtem Ausgleich konnte das nicht mehr erklärt werden. Das war eher das Walten der Schicksalsgöttin Fortuna: Wen sie reich machte und nach oben brachte, der war fortunato, vom Glück gesegnet.

Die Geschichte hat sich in späteren Jahrhunderten gewandelt: Aus dem Märchen vom Reichtum durch Glück wurde eines vom Reichtum durch skrupelloses Geschick, und aus der Feen­kat­ze ein Meisterkater. „Ein Müller hinterließ als einziges Vermögen den drei Kindern, die er hatte, nur seine Mühle, seinen Esel und seinen Kater. Die Teilung war bald gemacht; weder Notar noch Prokurator wurden dazu gerufen – die hätten das armselige Erbe nur zu rasch verzehrt.“

So erzählt der Jurist und Dichter am Hofe Ludwigs XIV., Charles Per­rault, Ende des 17. Jahrhunderts.2 Die Ironie ist unverkennbar, das Märchen wird hier zur Gesellschaftssatire: Per­rault zieht dem Kater Stiefel an und entlarvt die entfremdende Wirkung der Kleider-machen-Leute-Strategie: In der Szene mit dem Zauberer verwandelt dieser sich zuerst in einen Löwen: „Der Kater war so erschrocken, einen Löwen vor sich zu sehen, dass er sogleich auf die Dachtraufen floh, wahrlich nicht ohne Mühe und Gefahr wegen seiner Stiefel, die nicht geeignet waren, mit ihnen auf den Dachziegeln zu laufen.“

Von der Satire zum Kindermärchen

Der Kater kann sich also nicht mehr katzengleich bewegen. Aber dann fällt ihm der Trick mit der Maus ein, und – schwupps! – hat der Kater den Zauberer erledigt und sich dessen Schloss für seinem Herrn angeeignet. Auch der Mord taucht in dieser Variante des Märchens erstmals auf.

Charles Perrault war Mitarbeiter von Jean-Baptiste Colbert, Finanzminister Ludwigs XIV. und Vordenker des Merkantilismus. (Es war die Zeit der großen Handelskompanien, die die Kolonialländer ausbeuteten.) Am Versailler Hof kam es vor allem auf die richtigen Beziehungen an, wenn man Kar­rie­re machen wollte. Perrault musste das am eigenen Leib erfahren: Mit dem Tod seines Förderers Colbert verlor er seinen Regierungsposten.

Der moralische Vers am Ende dieser Märchenversion erscheint seltsam deplatziert: „Wie groß auch sein mag der Betrag / den einer glücklich erben mag / an Hab und Gut vom Vater auf den Sohn – / gemeinhin sind für junge Leute / doch Fleiß und klug erjagte Beute / mehr wert als solch müheloser Lohn.“ Für „klug erjagte Beute“ steht im französischen Original „savoir-­faire“: zu wissen, wie man es macht. Doch nach dieser Geschichte ist Perraults Moralvers nur ironisch zu verstehen: Glaubst du wirklich, beim Reichwerden ginge es um Fleiß und um Könnerschaft – und nicht vielmehr um Selbstdarstellung, Schmeichelei, Betrug und Mord?

Die Grimms haben die Satire zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ihre Kindermärchensammlung aufgenommen. Wie aber wird ein Trickbetrüger kinder­zim­mertauglich? Wilhelm Grimm schrieb: „Der Meisterdieb, der den gemeinen Diebstahl verachtet, aber, einer angeborenen unbezwinglichen Lust folgend, mit kecker Gewandtheit Streiche ausführt, die einem andern unmöglich sind, der dem Vogel die Eier unter den Flügeln wegnimmt, ohne daß es dieser merkt, [...] ein solcher macht auf eine gewisse Ehre Anspruch.“3

Wenn der Betrüger seine Sache mit Fleiß und Geschick macht, dann können die biederen Bürger ihn bewundern. Und wenn er sich dann noch als guter Kapitalist erweist, weil er die in ihn investierte Summe zum profitablen Geschäft macht, kann man ihn auch den Kindern als Vorbild präsentieren. Es schadet ja nicht, wenn die Kleinen frühzeitig lernen, dass man nicht zimperlich sein darf, wenn man nach oben kommen will.

Hinter Perraults Satire und dem Grimm’schen Kindermärchen schimmert der alte Kern vom gerechten Ausgleich nur schwach hervor: Allein, schon zu Straparolas Zeiten fiel es schwer, an ausgleichende Gerechtigkeit zu glauben: Das schiere Glück, der gerissene und skrupellose Aufstieg oder der Lohn von Fleiß und Geschick sollen es stattdessen richten; anstelle einer gerechten Ordnung sollen diese Erfolgsversprechen treten, damit wir nicht zu kurz kommen.

1 Eugen Drewermann, „Von der Macht des Geldes oder Märchen zur Ökonomie“, Düsseldorf (Patmos) 2007.

2 Zitiert nach: Hans Gerd Rötzer, „Märchen. Themen – Texte – Interpretationen“, Bamberg (C. C. Buchner) 1981, S. 127–141.

3 „Kinder- und Hausmärchen“, gesammelt durch die ­Brüder Grimm, Band 3, Göttingen (3. Auflage) 1856, S. 408.

Christoph Fleischmann ist evangelischer Theologe, freier Journalist und Autor.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.03.2016, von Christoph Fleischmann