12.07.2013

Glanz und Elend von Teheran

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Glanz und Elend von Teheran

Eine kleine Geschichte der iranischen Hauptstadt von Nasser Fakouhi

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Der 14. Juni 2013 war ein besonderer Tag. Alles wartete, hoffte und bangte. Doch am nächsten Tag brach der Jubel aus. Mit Hupkonzerten und Straßenfesten wurde der Sieger der iranischen Präsidentschaftswahlen Hassan Rohani gefeiert, auch wenn insgeheim jeder dachte, dass nach dem Wechsel vermutlich alles beim Alten bleiben werde. Das Schlimmste an Mahmud Ahmadinedschads populistischer und ineffizienter Politik waren die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen, die den Alltag der Iraner mehr und mehr belasteten. Ohne zu zögern meinte etwa der erzkonservative Abgeordnete Ahmad Tavakoli aus Teheran, dass diese Wahlen ein Neustart seien, „um die Schäden der letzten acht Jahre zu beheben“.1

Viele der innenpolitischen Reformen des scheidenden Präsidenten sind tatsächlich kläglich gescheitert. Das Land leidet nicht nur unter einer galoppierenden Inflation, seitdem im Dezember 2010 die direkten und indirekten Preissubventionen sukzessive aufgehoben und durch Direktzahlungen an alle Bürger ersetzt worden sind. Auch aus den ehrgeizigen städtebaulichen Projekten ist nichts geworden, weder aus dem Plan, die Verwaltungsbehörden von der Hauptstadt in die Provinz zu verlagern, noch aus dem groß angekündigten „Garten für jede Familie“2 oder den preiswerten Wohnungen am Stadtrand, dem sogenannten maskan-e mehr, was übersetzt so viel heißt wie „zärtlich wohnen“. Mahmud Ahmadinedschad schmückte seine populistischen Versprechen gern mit blumigen Labels.

Die großen Städte, allen voran Teheran, hatten besonders unter den Folgen dieser Politik zu leiden. Weil die steigende Nachfrage nach Wohnraum nicht befriedigt wurde, schossen Wohnungspreise und Mieten3 in schwindelerregende Höhen. Die durchschnittliche Wohnungsgröße für eine vierköpfige Familie sank in den letzten zehn Jahren von 120 auf 60 Quadratmeter. Im Gegensatz zur Generation ihrer Eltern werden sich junge Familien mit kleinen Einkommen auch in absehbarer Zukunft wohl keine Wohnung in der iranischen Hauptstadt mehr leisten können. Und die jungen Paare, die noch keine Kinder haben, sind schon froh, wenn sie in Teheran eine provisorische Unterkunft finden. Selbst die heruntergekommenen Stadtrandsiedlungen sind hoffnungslos überbelegt. 2012 lebten im stark erdbebengefährdeten Teheraner Großraum fast 13 Millionen Menschen.

Die Förderung kleiner und mittelgroßer Städte konnte nicht verhindern, dass es immer mehr Menschen nach Teheran zieht, die Stadt des Erfolgs und der Schönheit, deren strahlendes Image zuweilen an das schwärmerische Europabild der 1970er Jahre erinnert. Ahmadinedschads groß angekündigtes Sozialwohnungsbauprojekt, das die Errichtung Tausender kleiner, preiswerter Wohnungen für junge Paare im Umland vorsah, hatte zudem einen gewaltigen Haken: Die Wasser-, Strom- und Entsorgungsunternehmen, ganz zu schweigen vom öffentlichen Nahverkehr, verlangten exorbitante Preise, um die Anbindung dieser neuen Wohnviertel an die Stadt zu gewährleisten. Und auch die sonstigen Erschließungskosten sind fast unbezahlbar.

Anfang Juni 2013 verkündete Ali Nikzad, Minister für Wohnungsbau und Transport, dass während Ahmadinedschads Regierungszeit 4,2 Millionen Wohnungen gebaut worden seien, die Hälfte davon im Umland Teherans. Er erklärte auch, dass schon 2 Millionen Maskan-e-mehr-Wohnungen übergeben worden seien,4 was jedoch nicht unbedingt bedeutet, dass sie auch bewohnbar sind. Kein Wunder, dass der Gouverneur von Teheran bereits im Juli 2012 zugeben musste, dass sich im Zusammenhang mit diesen „zärtlichen Wohnungen“ die gerichtlichen Auseinandersetzungen häufen.5 Und selbst wer bald „zärtlich“ wohnt, wird auf alles andere wohl noch lange warten müssen.

Die heutige Megacity Teheran, deren Ursprung bis ins zweite Jahrtausend vor Christus zurückreicht, hat klein angefangen. Jahrhundertelang war Teheran nur eines von vielen kleinen Dörfern am Rande von Ray, der alten Hauptstadt an der Seidenstraße. Nachdem die Stadt beim Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert geplündert und zerstört worden war, entwickelte sich Teheran, das zum Teil aus den Ruinen von Ray aufgebaut wurde, zum neuen Zentrum.6 Im Iran ist die „Stadt“ vor allem das politische Zentrum: das Wort für Stadt, Schahr, ist abgeleitet von Schah, Herrscher.

Unter der Gunst verschiedener Schahs, allen voran Aga Mohammed Khan (1742–1797), der Teheran 1794 zur Hauptstadt erklärte, blühte die Stadt auf. Doch die damals noch stark bäuerlich geprägte Einwohnerschaft hatte keinen guten Ruf. Die Räuber aus Teheran, die die vorbeiziehenden Karawanen überfielen, galten sogar als besonders brutal.

Unter der Herrschaft der letzten Kadscharen, vor allem während der langen Regierungszeit von Naser al-Din Schah (1831–1896) trat Teheran, das Ende des 19. Jahrhunderts eine rasante Bevölkerungsentwicklung erlebte (siehe Grafik), in die Moderne ein. Der absolutistisch regierenden Naser al-Din ließ die urbane Infrastruktur nach europäischem Vorbild erneuern: von der Elektrifizierung über Kinos bis zu Banken, Krankenhäusern und Armeekasernen.

Auch die Pahlavis (1925–1979) trieben die Modernisierung der Stadt voran. Reza Schah (1877–1944), der Gründer dieser Dynastie, wollte aus dem Iran um jeden Preis ein kleines Europa machen und das Werk des großen Kadscharen-Schahs vollenden.7 Er setzte auf einen stark zentralisierten Staat mit einer Hauptstadt nach europäischem Vorbild. Teheran wurde seine größte Baustelle. In Zusammenarbeit mit englischen, russischen und deutschen Beratern ließ der Schah den öffentlichen Raum der Stadt radikal umgestalten.

Reza Schah, der ein Anhänger Hitlers war und sein Land im Zweiten Weltkrieg für neutral erklärte, musste nach der Besetzung des Irans durch die britischen und sowjetischen Truppen 1941 seinen Thron räumen. Auf der Teheraner Konferenz 1943 besprachen Churchill, Roosevelt und Stalin dann nicht nur den weiteren Kriegsverlauf und tauschten ihre Pläne für das Nachkriegsdeutschland aus; sie beschlossen außerdem, den Sohn des Diktators, Mohammad Reza Pahlavi (1919–1980), auf den Thron zu setzen, gleichzeitig aber dessen Machtbefugnisse zu beschneiden.

Die Königin des Mittleren Ostens

Die darauffolgende quasidemokratische Phase währte nur kurz. 1953 taten sich die britischen und US-amerikanischen Geheimdienste mit einheimischen Kollaborateuren zusammen, um einen Staatsstreich gegen Premierminister Mohammad Mossadegh anzuzetteln. Dieser hatte es gewagt, den Plan seines Vorgängers Hossein Ala fortzusetzen, die Ausbeutung der iranischen Ölvorkommen durch ausländische Unternehmen zu beenden und die iranische Erdölindustrie zu verstaatlichen.8

Mossadegh hatte zwar die Macht verloren, aber sein Vorstoß führte immerhin zu neuen Verträgen mit den ausländischen Ölunternehmen, die für das Land viel günstiger waren. In den 1960er Jahren waren die iranischen Stadtplaner, Architekten, Demografen und Soziologen sehr besorgt über den raschen Anstieg der Erdöleinnahmen und die damit einhergehende Einwanderungswelle nach Teheran.

Sie fürchteten, im Iran könnte sich, wie in so vielen anderen Ländern der Dritten Welt, ein einziges gigantisches Zentrum entwickeln. Inspiriert von französischen Raumplanern,9 wurde ein ehrgeiziges und langfristig angelegtes Projekt beschlossen, um nicht nur die Metropole Teheran zu fördern, sondern auch elf weitere Städte, unter anderem Tabriz, Mashhad, Isfahan, Shiraz und Ahvaz.

Trotz der ersten, aber immer noch schwachen Vorzeichen für eine Revolution wurde der Plan ab Mitte der 1970er Jahre umgesetzt, und es ist bemerkenswert, dass er – mit zwei Unterbrechungen, dem Iran-Irak-Krieg (1980–1988) und der zweiten Amtszeit von Ahmadinedschad (2009–2013) – bis heute respektiert wird. Im Ergebnis sollte eine demografische und finanzielle Konzentration auf Teheran verhindert werden, auch wenn die Hauptstadt stets das Vorbild für alle anderen iranischen Städte war und ist.

Den ersten „revolutionären“ Schub löste die Ölkrise von 1973 aus, die der Iran gemeinsam mit den anderen erdölproduzierenden Ländern angezettelt hatte. Innerhalb von fünf Monaten vervierfachte sich der Ölpreis. Ein wahrer Geldstrom ergoss sich über das ganze Land und führte zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen. Nachdem der Iran quasi über Nacht reich geworden war, entstanden riesige Klassenunterschiede, und die Spannungen zwischen den traditionalistischen und modernen Kreisen, deren Lebensstile und Einstellungen sich fundamental voneinander unterschieden, begannen sich zu verschärfen.

Wenig später – die Geschichte wiederholt sich – fühlte sich der vormals schwache Herrscher Mohammed Reza Schah so stark, dass er seine politischen Wurzeln vergaß und nur noch den Traum von der „Großen Persischen Zivilisation“ verwirklichen wollte. Teheran wurde zur modernen „Königin des Mittleren Ostens“ auserkoren.

Spektakuläre Bauten wurden in Auftrag gegeben, und man begann Tausende Wohnungen, neue Verwaltungsgebäude, Autobahnen und große Boulevards aus dem Boden zu stampfen. Teherans superreiche Oberschicht sah sich schon in einem Europa à la persane. Das traditionelle und vor allem religiöse Erbe, das mit der westlich geprägten Moderne nicht kompatibel war, wollte man hinter sich lassen und am liebsten ganz verbergen.

Das Ganze endete in einer Katastrophe. Die Grundstückspreise explodierten und die gesellschaftlichen Konflikte spitzen sich immer mehr zu. Zudem wollten die Großmächte wieder einmal kein Risiko eingehen, und ließen einen größenwahnsinnigen und angesichts der angespannten sozialen Lage völlig ohnmächtigen Herrscher einfach gewähren.10

Im Grunde genommen war die Revolution von 1979 ein Kampf, den die traditionalistischen, ländlich geprägten Kräfte gegen die „urbanen Exzesse nach westlichem Vorbild“ führten. Die Revolutionäre hatten eine Utopie und träumten von einer egalitären, islamischen und moralischen Gesellschaft. Die Fortsetzung ist bekannt.

Teheran stand stets im Zentrum der Ereignisse und widerstreitenden Interessen. 1988 glich die Stadt, mit inzwischen 6 Millionen Einwohnern, einer Zeitbombe, die jeden Moment explodieren konnte. Erschüttert durch die revolutionären Unruhen (1979–1981) und den Krieg gegen den Irak (1980–1988) – insbesondere dem schrecklichen Kapitel des „Kriegs der Städte“11 – stand Teheran, das ein Zentrum des Schwarzmarkts war, am Rande des Abgrunds. Während des Konflikts waren viele Bewohner aus den Grenzgebieten zum Irak erst ins Landesinnere geflüchtet und von dort weiter in die Hauptstadt gezogen. Außerdem gab es damals schon einen starken Zustrom vom Land und aus den kleineren Provinzstädten in Richtung Teheran.

Ministerpräsident war damals, und zwar während der gesamten acht Jahre, die der Krieg gegen den Irak dauerte, Mir Hossein Mussawi, der glücklose Kandidat der Wahlen von 2009 und Führer der sogenannten Grünen Bewegung für die Demokratie. Damals legte er dem Land eine eiserne Sparpolitik auf, bis hin zur Rationierung von Lebensmitteln. Und er kämpfte – oft vergeblich – mit gesetzlichen Mitteln und sogar Polizeieinsätzen gegen die Spekulation, die mit dem Grund und Boden der „Konterrevolutionäre“ betrieben wurde, die ins Ausland geflohen waren. Deren Besitz war nach der Revolution dem Staat übertragen worden, genauer gesagt den bonyads, den politisch-religiösen Stiftungen.12

Die Hauptstadt selbst war inzwischen nahezu unbewohnbar geworden. Nichts funktionierte mehr. Während des Kriegs war auch nichts mehr gebaut worden. Die Neuankömmlinge errichteten provisorische Behausungen rings um die Stadt und sogar auf den Freiflächen im Zentrum. Es kam zu gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen innerhalb Teherans, wodurch extrem heterogen zusammengesetzte Wohnviertel entstanden. Die zwischen 1979 und 1988 aufeinanderfolgenden revolutionären Regierungen ließen die Slums im Süden der Hauptstadt, an der Straße zur fünfzehn Kilometer entfernten Ruinenstadt Ray, jedoch immer wieder zerstören. Sie griffen zu „radikalen Lösungen“, um die Leute in die Stadt zu holen. Dabei machten sie alles nur noch schlimmer, indem sie auf den leerstehenden Grundstücken in den Reichenvierteln inmitten der mostakberines (der reichen Angeber) Billighochhäuser errichten ließen (zum Beispiel in Schahrak-e Gharb, später in Schahrak-e Ghods umbenannt, oder in Saadat Abad).

Das Gebot der Stunde war die soziale Mischung, die als revolutionärer und radikaler Lösungsweg galt, um die Gesellschaft der göttlichen Gerechtigkeit zu errichten. Doch das Ergebnis waren unregierbare Viertel, in denen Menschen auf dichtestem Raum zusammenleben mussten, deren Lebensstile und Einstellungen, aber auch Berufe oder Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen nicht unterschiedlicher hätten sein können.

Die zerstörte Stadt war zudem vollkommen schmucklos. Es gab keine Werbung; Kinos und Galerien waren ebenso geschlossen wie alle anderen öffentliche Orte, die auch nur entfernt an westliche Kultur- und Lebensstile erinnerte. Es gab weder Fastfood-Restaurants noch Modeboutiquen, weder Einkaufszentren noch Vergnügungsparks. Die Stadt lebte im Rhythmus des Krieges, der Staus im Paykan (dem iranischen Volkswagen aus den 1960er Jahren) und der stillen und ereignislosen Nächte, die man zu Hause vor dem Fernseher oder mit Freunden verbrachte.

In dieser explosiven Nachkriegsstimmung, als jeder überall Gefahr witterte, kam Haschemi Rafsandschani mit dem Versprechen an die Macht, den Iran zu einem neuen „Eldorado“ zu machen. Er erklärte die harten Zeiten der Revolution für beendet und versprach Stabilität und Normalisierung. Rafsandschani, der selbsternannte General des Aufbaus (sardar-e sazandegi), der von 1989 bis 1997 Präsident war, wollte das Gesicht des Landes verändern, angefangen mit Teheran.

Rafsandschanis Wirtschaftspolitik kehrte Mussawis Bestrebungen ins Gegenteil. Am liebsten hätte er nicht nur das gesamte Staatseigentum privatisiert, sondern er wollte sogar die Staatsorgane dazu bewegen, sich über eigene Geschäfte quasi selbst zu finanzieren. Dieser neoliberalen Politik islamischer Prägung sollte auch die Stadtplanung untergeordnet werden. Dazu machte man den „jungen Wolf“ und ehemaligen Geistlichen Gholamhossein Karbaschi zum Bürgermeister der Hauptstadt. Der radikale ehemalige Gouverneur von Isfahan sprudelte vor Ideen und sollte das nachrevolutionäre Teheran aufbauen.

Karbaschi folgte der Linie Rafsandschanis. Durch die Einrichtung und den Aufbau unzähliger Immobilien- und Dienstleistungsgesellschaften, Kultur- und Einkaufszentren und Vergnügungsparks sollte Teheran von Grund auf erneuert werden. Ein bisschen Nachtleben (bis Mitternacht) wurde erlaubt, Freizeitangebote wurden eingeführt und die Kontrollen im Alltag gelockert.

Und die Farben kehrten zurück in die Stadt. Auf einmal klebten wieder Werbeplakate im öffentlichen Raum. Überall wurde gebaut, nicht nur kleine Häuser (vier bis acht Wohnungen mit je 100 bis 150 Quadratmetern pro Einheit), sondern vor allem Großbauten, riesige Wohngebiete rings um die Stadt und die berüchtigten „Türme“ (borj), die sowohl von den Konservativen wegen des damit verbundenen Lebensstils als auch von Architekten, Soziologen und Stadtplanern kritisch beäugt wurden. Alle zweifelten am guten Willen des Bürgermeisters und beschuldigten Karbaschi, sich gewissenlos bereichern zu wollen, weil er außer Acht lasse, was diese schwindelerregend hohen Türme in einer Stadt anrichten würden, deren Häuser bisher nie die Traufhöhe von zwei Stockwerken überschritten hatten. Karbaschi wurde außerdem vorgehalten, er habe Teheran zu einer der teuersten Städte der Welt gemacht und die Armen aus der Stadt vertrieben.

Diese bedeutende Etappe der Stadtentwicklung von 1989 bis 1998 endete mit der Verhaftung Karbaschis und seiner Gefolgsleute und dem ersten großen Revolutionsprozess, der von den Medien übertragen wurde.13

Die durch Rafsandschani begonnene urbane Politik wurde während der Regierungszeit seines Nachfolgers, des Reformers Mohammed Chatami (1997–2005), jedoch nicht grundsätzlich infrage gestellt. Chatami bemühte sich das Revolutionsdogma mit den Ambitionen der jungen Generationen, der Frauen und der städtischen Intellektuellen in Einklang zu bringen. Dabei vergaß er jedoch die ärmeren und ländlichen Bevölkerungsteile, die besonders unter der neoliberalen Politik litten. Chatami hegte die utopische Überzeugung, man könne die urbane Mittelschicht allein durch Reformen im kulturellen Bereich – einer Ausweitung der Freiheiten von wissenschaftlichen Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen – erweitern.

Einheitsbürger und Einheitsstadt

Unter Chatami fiel das Bürgermeisteramt Teherans zunächst an den Technokraten Morteza Alviri (1999–2002), einem Vertrauten Rafsandschanis, und dann an Mohammed Malekmandani (2002–2003), der Karbaschi nahestand. Malekmandani beendete die Verteilung von Genehmigungen zum Bau großer Wohnblöcke, was zu einem massiven Anstieg der Mietpreise führte und die Unzufriedenheit nährte. Malekmandani blieb nur wenige Monate im Amt, bevor ihn ebenfalls Korruptionsvorwürfe zum Rückzug zwangen. Danach begann der Aufstieg Ahmadinedschads, der 2003 das Bürgermeisteramt übernahm und nach der Präsidentschaftswahl 2005 vom aktuellen Stadtoberhaupt Mohammed Bagher Ghalibaf abgelöst wurde.

Die Amtszeit Karbaschis als Teheraner Bürgermeister wirkt bis heute nach. Die Stadt ist eine riesige Wirtschaftsholding geblieben und ein Zentrum der Geldwäsche nicht nur für Iran, sondern für die gesamte Region. Alle möglichen Spekulanten, insbesondere aus der Immobilienbranche, haben hier freie Bahn. Die riesigen Bargeldmengen, die in der iranischen Wirtschaft zirkulieren, die großen Immobilientransaktionen (vor allem mit Villen im Norden des Landes) und die Spekulation an den Devisen- und Goldmärkten sind übliche Wege dieser Geldwäsche, die von den USA immer wieder als Argument gegen den Iran angeführt werden, was allerdings – zumindest in Bezug auf den internationalen Terrorismus – vollkommen abwegig ist.14 Und natürlich weisen alle iranischen Regierungen diese Anschuldigungen zurück und betonen immer wieder ihren Willen, die Geldwäsche zu bekämpfen.15

Derweil wird Teheran immer „schöner“, zuletzt dank einer eigens dafür geschaffenen, üppig ausgestatteten „Behörde zur Verschönerung der Stadt Teheran“, die große Bauwerke, Boutiquen und Einkaufszentren nach westlichem Vorbild errichten ließ. Die großen Straßen werden von Privatbanken gesäumt, an den Stadtautobahnen hat man Blumenrabatten angelegt. Es gibt Parks und wieder zahlreiche Museen, Theater, Kinos und Galerien für moderne Kunst.

Und doch ist die Stadt ein Albtraum: Millionen Autos verpesten die Luft – heute stehen nicht mehr nur Paykans im Stau, sondern auch die teuersten Marken der Welt – und auf dem Weg zur Arbeit oder zum Amt drängen sich die nervösen Teheraner auf den überfüllten Gehwegen. Ähnliches kann man auch in den anderen großen Städten des Landes beobachten. Obwohl alle, auch die Behörden, dieses Modell ablehnen, scheint es sich doch immer mehr durchzusetzen.

Die Stadtentwicklung in Iran, vor allem in Teheran, wurde immer der großen Politik untergeordnet, und die soziokulturellen Aspekte hat man dabei stets vernachlässigt. Lange Zeit haben sich die Regierungen vor und nach der Revolution nicht um die Bedürfnisse einer Bevölkerung gekümmert, die sich radikal verändert hat: Vor kaum fünfzig Jahren war der Iran noch stark agrarisch geprägt, über 60 Prozent der Bevölkerung lebten auf dem Land.

Bei den Frauen lag die Analphabetenquote noch 1976 bei 76 Prozent (bis 2006 ist sie auf 22 Prozent zurückgegangen). Heute hat das Land eine sehr junge Bevölkerung, 70 Prozent sind unter 30 Jahre, fast 80 Prozent der Menschen leben in der Stadt. Der Bildungsgrad ist außergewöhnlich hoch: 5 Millionen Studenten bei einer Gesamtbevölkerung von 78 Millionen. 40 Millionen Iraner besitzen ein Handy, und ebenso viele nutzen das Internet; auch um den Kontakt zu einer wohlhabenden und gebildeten Diaspora von mehr als einer Million Iranern zu halten, die vor allem in den USA und in Westeuropa leben.

Die Kluft zwischen der Bevölkerung und den Vertretern des Systems manifestiert sich vor allem in den urbanen Zentren. Das „Recht auf Stadt“, um mit Henri Lefebvre zu sprechen, ist weit von seiner Verwirklichung entfernt. In der Politik werden immer nur kurzfristig zu erreichende Ziele angepeilt, was man in Teheran aber nicht nur den internationalen Sanktionen und dem schleppenden Wirtschaftswachstum zuschreiben kann. Schuld daran ist vor allem eine unrealistische Utopie, die meint, durch die Magie einer Ideologie den Einheitsbürger einer Einheitsstadt erschaffen zu können. Die Zukunft Teherans als Modell für Irans Städte lässt sich jedoch nur durch eine Politik der Vielfalt gestalten, die akzeptiert, dass es unterschiedliche Denk- und Lebensweisen gibt.

Spirituelle Ratschläge für Autofahrer

Einige Tage nach der Wahl von Hassan Rohani fahre ich von der Universität in mein Viertel im Norden Teherans, wo viele wohlhabende Familien in einer Gated Community wohnen. Die Stimmung ist gelöst. Ein Hauch von Hoffnung und Fröhlichkeit liegt in der Luft. Die Leute freuen sich, sie haben gewonnen. Die Stadtautobahn ist wie immer brechend voll. Man schlängelt sich an den großartig bepflanzten Verkehrsinseln vorbei, an den Werbetafeln für Luxusgüter aus dem Westen und Plakaten mit spirituellen Ratschlägen für Autofahrer.

Bei meiner Ankunft fallen mir wieder einmal die vielen neuen, gigantischen Einkaufszentren in meinem Viertel auf, die direkt neben den bereits vorhandenen wie Pilze aus dem Boden schießen. Es ist Abend. Die unerträgliche Hitze des Tages hat nachgelassen, und man sieht wieder Leute auf den Straßen.

Viele kommen aus den Armenvierteln im Süden der Hauptstadt. Sie lieben es, durch das Labyrinth der Geschäfte in den Einkaufsmalls für die Reichen zu spazieren, natürlich ohne etwas zu kaufen. Am Ende erwerben sie draußen vor dem Ausgang ein paar Süßigkeiten oder andere Kleinigkeiten bei den Händlern aus der Gegend, die bis tief in die Nacht ihre bunt zusammengewürfelte Ware direkt auf dem Boden oder aus dem geöffneten Kofferraum heraus feilbieten: fertig zusammengebaute Ikea-Möbel, Lebensmittel oder billige Kleidung.

Alle, ob Jung oder Alt, Arm oder Reich, lieben es, durch dieses Konzert von Lärm, Geschrei, Musik und Lachen zu flanieren. So ist Teheran: Man fragt sich immer, wohin es geht, und verliert nie die Hoffnung auf ein besseres Morgen.

Fußnoten: 1 Siehe iranische Nachrichtenagentur Isna: ir.khabarfarsi.com/ext/5601105, 16. Juni 2013. 2 Am 28. Juni 2012 schrumpfe das ursprüngliche Versprechen des Präsidenten, jede Familie bekomme 1 000 Quadratmeter für ein kleines Haus mit Garten, auf ebenso illusorische 300 Quadratmeter. Siehe: www.khabaronline.ir/detail/221385. 3 Nach der Volkszählung von 2011 liegt der Anteil der Eigentumswohnungen in den Städten bei 57 Prozent und der Mietwohnungen bei 34 Prozent (der Rest sind öffentliche und sonstige Gebäude). Auf dem Land ist das Verhältnis 80 zu 9. 4 Staatliche Agentur Mehr: www.mehrnews.com/detail/News/2016527, 11. März 2013. 5 Staatliche Agentur Qods: www.qudsonline.ir, 56934, 1. Juli 2012. 6 Siehe Xavier De Planhol, „A Persian City at the Foot of the Alborz“, in: „Encyclopaedia Iranica“, 2004: www.iranicaonline.org/articles/tehran-i-a-persian-city-at-the-foot-of-the-alborz. Siehe auch den Aufsatz „Teheran“ in: Bosworth, C. E. (Hg.), „Historic Cities of the Islamic World“, Leiden und Boston (Brill) 2007, S. 503–520. 7 Stephanie Cronine, „The Making of Modern Iran: State and Society under Riza Shah, 1921–1945“, New York (Routledge) 2012; Stephen Kinzer, „All the Shah’s Men“, New Jersey (Wiley) 2008. 8 Siehe Mark Gasiorowski, „Die USA und die Irankrise 1953“, Le Monde diplomatique, Oktober 2000. 9 Der Anfang der 1970er Jahre beschlossene „Nationale Raumordnungsplan“ war stark beeinflusst von dem Geografen Jean-François Gravier. Zunächst durch die Revolution von 1979 gestoppt, wurde der Plan danach weitgehend umgesetzt. Siehe dazu Feroz Tofegh, „Spatial Planning International Experience and its Compatibility with the Situation in Iran“, Teheran (Publications and Research Center for Urban Studies and Architecture in Iran) 2005. 10 Siehe Bernard Hourcade, „Téhéran: Évolution récente d’une métropole“, Méditerranée, Nr. 1, 1974, S. 25–41. 11 Seit Anfang 1988 nahmen die irakischen Raketenangriffe gegen Teheran und andere Städte zu. Der Iran revanchierte sich mit Angriffen auf Bagdad. 12 Über diese Stiftungen, die nach Schätzungen etwa ein Drittel der iranischen Wirtschaft verwalten, siehe S. Amirarjomand, „After Khomeini: Iran under his Successors“, Oxford (Oxford University Press) 2009, S. 61–65. 13 Siehe New York Times, 8. Juni und 25. Dezember 1998 sowie 9. Mai 1999. 14 F. N. Baldwin und R. J. Munro, „Money Laundering, Asset Forfeiture and International Finance Crimes“, Band I, New York (Oceanea Publications) 1993, S. 5–8; Shayerah Ilias, „Iran’s Economic Condition: US Policy Issues“, CRS Report for Congress, RL34525, 2010, S. 18–19: www.crs.gov. 15 Ein Gesetz zur Bekämpfung von Geldwäsche wurde am 22. Januar 2008 vom Parlament verabschiedet und am 6. Februar vom Wächterrat der iranischen Verfassung abgesegnet. Siehe Hamshari, 28. August 2012. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Nasser Fakouhi ist Anthropologe und Professor an der Universität Teheran. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.07.2013, von Nasser Fakouhi